Genitalverstümmelung – Voraussetzungen und Grenzen der Einwil ...
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Seite 8<br />
rer jeweiligen Urteilsfähigkeit 60 . Konkretisierend ist in diesem Zusammenhang auf BGE 120 IV<br />
194 hinzuweisen. Unter Verweis auf Art. 187 StGB hält das B<strong>und</strong>esgericht darin fest, die für die<br />
<strong>Einwil</strong>ligung in sexuelle Handlungen erfor<strong>der</strong>liche Reife sei nach dem Willen des Gesetzgebers<br />
vor dem vollendeten 16. Altersjahr immer zu verneinen. Entsprechend sei Art. 187 StGB auch<br />
dann erfüllt, wenn das Opfer urteilsfähig <strong>und</strong> mit den sexuellen Handlungen einverstanden sei 61 .<br />
Ich gehe mit NIGGLI/BERKEMEIER 100%ig einig, wenn sie für FGM festhalten, es wäre doch<br />
äusserst inkonsistent <strong>und</strong> wi<strong>der</strong>sinnig, wenn das Kind zwar nicht gültig in eine vorübergehende<br />
sexuelle Handlung einwilligen kann, gleichzeitig aber in eine bleibende Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Sexualorgane<br />
62 . Diese Regelung hat m.E. nebst <strong>der</strong> FGM ex aequo für die männliche Beschneidung 63<br />
zu gelten. Für beide Eingriffe ist somit nach meinem Dafürhalten frühestens ab dem vollendeten<br />
16. Altersjahr von Urteilsfähigkeit <strong>der</strong> Betroffenen auszugehen.<br />
D. Fehlen relevanter Willensmängel<br />
Die jeweilige Person muss ernsthaft, freiwillig (d.h. ohne Zwang o<strong>der</strong> Drohung) <strong>und</strong> irrtumsfrei<br />
in eine Verletzung einwilligen 64 . Bezogen auf FGM stechen insbeson<strong>der</strong>e die Willensmängel<br />
<strong>der</strong> Täuschung bzw. unzureichenden Aufklärung über einen Eingriff sowie Zwang ins Auge.<br />
Obwohl mit Ausnahme gewisser islamischer Strömungen 65 keine Religion FGM for<strong>der</strong>t 66 , ist<br />
diese bei den grossen Religionen weit verbreitet 67 . So wird christlichen Frauen in Kenia etwa<br />
eingeredet, ohne FGM seien sie zum ewigen Höllenfeuer verdammt. Nebst religiösen Gründen<br />
werden als Rechtfertigung für FGM v.a. ästhetische <strong>und</strong> pseudowissenschaftliche Motive angeführt,<br />
die mitunter abstruseste Formen annehmen. So wird bisweilen behauptet, bei unverstümmelten<br />
Frauen sei die Gefahr <strong>der</strong> Unfruchtbarkeit sehr gross. Diese Überlegung gipfelt in <strong>der</strong><br />
Aussage, ohne FGM sei (trotz biologischer Geschlechtsreife) gar niemand fruchtbar 68 . An<strong>der</strong>norts<br />
soll FGM vor sexuellen "Abartigkeiten" wie Lesbianismus <strong>und</strong> mysteriösen Infektionskrankheiten<br />
schützen, aber auch Flüche <strong>und</strong> Unglück von <strong>der</strong> Familie abwenden. Bei einigen<br />
Stämmen wie<strong>der</strong>um gilt die Berührung mit <strong>der</strong> Klitoris als so giftig, dass sie den Mann während<br />
des Geschlechtsverkehrs töte o<strong>der</strong> zumindest impotent mache. In diesem Zusammenhang wird<br />
auch auf die Gefahr hingewiesen, das neugeborene Kind könnte während <strong>der</strong> Geburt zufolge<br />
60<br />
BSK Strafrecht I-K. SEELMANN, Vor Art. 14, N 18 <strong>und</strong> BGE 6P.106/2006 vom 18. August 2006, E. 6.4.<br />
Vgl. aber auch Art. 11 Abs. 2 BV, wonach Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit<br />
ausüben.<br />
61<br />
BGE 120 IV 194, S. 197 f., E. 2.b. In diesem Zusammenhang ist als einzige Ausnahme die sog. "Jugendliebe-<br />
Regelung" von Art. 187 Ziff. 2 StGB zu beachten.<br />
62<br />
NIGGLI/BERKEMEIER, S. 18, B.<br />
63<br />
Vgl. dazu hinten 5.3.1. E. a.<br />
64<br />
BSK Strafrecht I-K. SEELMANN, Vor Art. 14, N 20 <strong>und</strong> DONATSCH/TAG, S. 251, c.<br />
65<br />
Innerhalb des Islams existieren sehr unterschiedliche Meinungen zu FGM: Das Spektrum reicht von wajib (verpflichtend)<br />
bis muharram (verboten); P. SCHNÜLL, S. 45.<br />
66<br />
Vgl. statt Vieler: Amnesty International.<br />
67<br />
Dem Brauch von FGM haften <strong>–</strong> wenn auch in unterschiedlicher Form <strong>–</strong> Muslime, Katholiken, Protestanten, Kopten,<br />
Animisten <strong>und</strong> Atheisten an; M. ROSENKE, S. 34.<br />
68<br />
Tatsächlich ist das Gegenteil <strong>der</strong> Fall: Chronische Infektionen, die in Zusammenhang mit FGM häufig sind, können<br />
auf die Scheide, die Gebärmutter, den Eileiter <strong>und</strong> den gesamten Unterleib übergehen. Eine länger dauernde<br />
Entzündung <strong>der</strong> Eileiter kann zur Sterilität führen. Wird die Frau trotzdem schwanger, ist ihr Todesrisiko bei <strong>der</strong><br />
Geburt verdoppelt <strong>und</strong> das Risiko einer Totgeburt drei bis vier Mal erhöht; vgl. BAUER/HULVERSCHEIDT, S. 69 <strong>und</strong><br />
M. ROSENKE, S. 50.