Augsburg
Hüter des Volkes Gottes
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23./24. März 2013 / Nr. 12 SPIRITUELLES<br />
„Reformer aus der Tiefe“<br />
Neue Benedikt-Biographie öffnet den Blick auch auf Franziskus<br />
Wer Franziskus verstehen will,<br />
kommt an seinem Vorgänger Benedikt<br />
XVI. nicht vorbei. Wichtige<br />
Verständnishilfe leistet ein<br />
druckfrisches Werk des bekannten<br />
Autors und Kulturjournalisten<br />
Alexander Kissler aus dem Pattloch-Verlag:<br />
„Papst im Widerspruch.<br />
Benedikt XVI. und seine<br />
Kirche 2005-2013“. Im Interview<br />
mit Bernhard Meuser, Verleger unserer<br />
Zeitung, erzählt der Autor,<br />
wie das Buch binnen Tagen und<br />
doch über Jahre entstand.<br />
Die wichtigste Frage zuerst: In welcher<br />
Verbindung steht Papst Franziskus<br />
zu seinem Vorgänger?<br />
Benedikt begann sein Pontifikat<br />
als „einfacher Arbeiter im Weinberg<br />
des Herrn“ und stellte es unter die<br />
Zeichen von Demut und Bescheidenheit.<br />
Er galt manchen schon als<br />
zweiter „Poverello“. Und nun wählt<br />
sein Nachfolger genau diesen Namen:<br />
den des heiligen Franziskus,<br />
des Bettlers vor dem Herrn. Ich sehe<br />
da eine große innere Kontinuität.<br />
Offenbar wird Benedikts Programm<br />
einer Entweltlichung der Kirche, einer<br />
Rückkehr zur Einfachheit Jesu,<br />
energisch fortgesetzt.<br />
Nun zu Ihrem sensationellen Buch!<br />
Herr Kissler, können Sie Wunder<br />
wirken? Nicht einmal einen Monat<br />
nach dem Rücktritt von Papst<br />
Benedikt XVI. legen Sie in einem<br />
300-Seiten-Buch die Bilanz seines<br />
Pontifikates vor?<br />
Auf den ersten Blick mag das so<br />
aussehen, als habe hier einer mit heißer<br />
Nadel gestrickt. Das Buch ist<br />
aber alles andere als ein Schnellschuss.<br />
Der Auftrag, ein großes Buch<br />
über Benedikt zu schreiben,<br />
stammt aus dem Jahr<br />
2007. Über fünf Jahre<br />
hinweg habe ich mich<br />
nahezu täglich mit<br />
dem Papst befasst, habe<br />
seine Äußerungen<br />
gelesen und in eine<br />
wachsende Zusammenschau<br />
integriert.<br />
Die letzten drei Wochen<br />
allerdings bin ich<br />
kaum zum Schlafen<br />
gekommen. Aus über<br />
1000 Seiten meiner Aufzeichnungen<br />
musste ein<br />
spannend zu lesendes Konzentrat<br />
von 300 Seiten werden.<br />
Papstbiograph<br />
Alexander Kissler.<br />
Foto: © Andrej Dallmann<br />
Fehlte Ihnen da nicht die nötige<br />
Distanz?<br />
In gewisser Weise schon. Mir<br />
ging es wie so vielen: Mich rührte<br />
der Donner, als ich am Rosenmontag<br />
die Nachricht vom Rücktritt<br />
hörte. Ich bin kein spätgeborener<br />
Chronist, der aus gemessen kühlem<br />
Abstand heraus ein historisches<br />
Urteil über den Papst fällt. Ich bin<br />
Zeitgenosse. Einer, der nah dran<br />
war. Einer, der mit Herz und Verstand<br />
dieses Pontifikat miterlebte.<br />
Die Qualität des Buches besteht<br />
auch in seiner Frische.<br />
Worin bestand die historische<br />
Leistung dieses Papstes?<br />
Zwei Punkte will ich nennen: Benedikt<br />
war zum einen ein Mann des<br />
Wortes und ein Meister der Sprache<br />
– und dies in einer weitgehend<br />
sprachlosen, verzagten Kirche. Seit<br />
langer Zeit hatte die Kirche keinen<br />
Papst mehr, der die uralte Botschaft<br />
des Glaubens so gewinnend in Worte<br />
von heute zu übersetzen vermochte.<br />
Benedikt konnte man beim<br />
Wort nehmen. Zum anderen war<br />
Benedikt ein Intellektueller von<br />
Weltformat, der die Kirche mit der<br />
Moderne und ihren profiliertesten<br />
Vertretern neu ins Gespräch brachte.<br />
Daran kann sein<br />
Nachfolger anknüpfen.<br />
Nun erlebt<br />
die Kirche<br />
in Deutschland<br />
gerade<br />
einen Shitstorm<br />
sondergleichen.<br />
Benedikt,<br />
heißt<br />
es, habe<br />
sie ins Mittelalter zurückgeführt.<br />
Über manches Urteil aus der<br />
deutschen Provinz schüttelt man<br />
weltweit den Kopf. Der Papst war<br />
kein Antimodernist; er war nicht<br />
einmal ein Pessimist, sondern war<br />
Realist und Nonkonformist zugleich.<br />
Deshalb habe ich einen Satz<br />
aus der Osterpredigt von 2010 meinem<br />
Buch voran gestellt: „Wir sind<br />
frei, wir sind gerettet!“ Einmal sagte<br />
er sogar, die Freude sei „die Gabe, in<br />
der alle anderen Gaben zusammengefasst<br />
sind“. Er war ein Reformer,<br />
der aus der Tiefe kommt. Mit den<br />
Jahren wurde er zum scharfen Kritiker<br />
der eigenen Kirche, nicht zuletzt<br />
der kirchlichen Zustände in seiner<br />
Heimat. Kirche, mahnte Benedikt,<br />
muss mehr sein als ein Sozialverein<br />
mit restreligiöser Rhetorik oder eine<br />
Vermögens- und Immobilienverwaltung<br />
mit weltethischem Zuckerguss.<br />
Was sah Benedikt als Heilmittel?<br />
Benedikt kämpfte für den Gang<br />
zur Quelle, die Rückkehr zum Ursprung,<br />
die Bereitschaft zur Umkehr.<br />
Sehr deutlich sagte er: „Nur wenn<br />
wir selbst neu werden, wird die Welt<br />
neu.“ Gegenüber der Litanei immer<br />
gleicher Reformforderungen zeigte<br />
Benedikt auf die wachsende Weltkirche,<br />
in der vielerorts das Feuer<br />
eines missionarischen Aufbruchs<br />
brennt. Der Ball geht also an uns<br />
zurück. Wir müssen uns fragen: Ist<br />
unter der Asche noch Glut?<br />
Aber haben wir es nicht tatsächlich<br />
weltweit mit einem „Reformstau“<br />
zu tun? Müsste man nicht beispielsweise<br />
eine neue Sexualmoral<br />
erfinden? Porno ist Mainstream.<br />
Homosexuelle wollen heiraten. Abtreibung<br />
hat sich als Mittel der Geburtenkontrolle<br />
durchgesetzt. Sex<br />
ist für viele nicht mehr an einen<br />
einzelnen Partner gebunden.<br />
Der Papst kann keine neue Moral<br />
erfinden. Das Fünfte Gebot – „Du<br />
sollst nicht töten!“ – steht in der Bibel<br />
und kann nicht zur Disposition<br />
gestellt werden. Benedikt erwies sich<br />
als couragierter Hüter der DNA des<br />
Christentums. Manchmal schlägt<br />
man bekanntlich den Sack und<br />
meint den Esel. Weil Jesus stört,<br />
schoss man sich auf einen alten<br />
Mann in Rom ein.<br />
War Ihnen der Papst sympathisch?<br />
Ich fand ihn eminent klug, bescheiden<br />
im Auftritt, darüber hinaus<br />
von gewinnender Herzlichkeit. Ich<br />
bin ihm aber zu selten begegnet, als<br />
Buchtipp<br />
Alexander Kissler<br />
papst im<br />
widerspruch<br />
Benedikt XVI.<br />
und seine Kirche<br />
2005-2013<br />
Kisslers Buch<br />
ist keineswegs,<br />
was sei ne voreiligen<br />
Kritiker<br />
befürchten: ein<br />
Schnellschuss,<br />
eine flüchtige<br />
Skizze oder eine<br />
rasch zusam<br />
mengeklopf<br />
te Geschäftsidee.<br />
Sein Buch ist gründlich,<br />
geradezu souverän gearbeitet.<br />
Und das ist kein Wunder, denn es<br />
ist die Frucht einer mehrjährigen,<br />
kontinuierlichen Arbeit am Thema.<br />
Vom Verlag frühzeitig unter Vertrag<br />
genommen, unterzog sich Kissler<br />
nahezu täglich der kommentierenden<br />
Beobachtung Benedikts. Kein<br />
Wort entging ihm, keine Nuance<br />
blieb unbeachtet – und so konnte<br />
Kissler in Ruhe die großen Linien<br />
eines großen Pontifikats ausziehen.<br />
Der Text atmet einmal die Frische<br />
des Augenblicks, dann wieder<br />
erklärt der Autor die großen Zusammenhänge.<br />
Der Ton ist nüchtern,<br />
argumentativ; an keiner Stelle<br />
verfällt Kissler in billige Lobhudelei.<br />
Kissler legt gewissermaßen<br />
ein „gerechtes“ Buch zum Pontifikat<br />
von Benedikt XVI. vor. Dass es<br />
nebenbei wie eine große, profunde<br />
Gegenthese zur deutschen Häme<br />
auf den Papst erscheint, nimmt<br />
man gern zur Kenntnis.<br />
Bernhard Meuser<br />
dass sich eine persönliche Sympathie<br />
hätte entwickeln können. Letztlich<br />
war er der Fels, an dem sich die Zeiten<br />
brechen.<br />
Gehen wir auf Zeitreise! Werden<br />
Menschen in 200 Jahren noch etwas<br />
von diesem ersten Papst im<br />
dritten Jahrtausend wissen?<br />
Davon bin ich überzeugt. Seine<br />
Texte werden bleiben. Man wird in<br />
ihm einen bedeutenden Kirchenlehrer<br />
seiner Zeit erkennen, den Mann,<br />
der den Weltkatechismus gebaut<br />
hat, drei große Enzykliken geschrieben<br />
hat und mit seinen Jesusbüchern<br />
die Christen in ökumenischer Weite<br />
zur Sache gerufen hat. Und wenn<br />
wir schon bei Prophezeiungen sind:<br />
Vielleicht wird sich Benedikts Brief<br />
an die chinesischen Christen als der<br />
große historische Coup herausstellen.<br />
Man wird sagen: Wir dachten,<br />
die Zukunft des Christentums werde<br />
sich in Rom, London, Berlin, Paris<br />
oder New York entscheiden. Aber<br />
sie geschah in Peking.<br />
Papst im Widerspruch. Benedikt XVI.<br />
und seine Kirche 2005-2013, Pattloch<br />
Verlag, 19,99 Euro, ISBN: 978-