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Rundbrief 9 - bvkm.

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SCHWERPUNKT<br />

PRÄNATALDIAGNOSTIK UND<br />

BEHINDERUNG<br />

Anne Waldschmidt<br />

Selbstbestimmung in der individualisierten<br />

Gesellschaft – Chance oder Risiko<br />

für die Behindertenselbsthilfe?<br />

Vorbemerkung<br />

Selbstbestimmung ist ein Bestandteil der gängigen<br />

Alltagssprache und wird häufig eher unreflektiert<br />

verwendet, so als verstehe sich dieses<br />

Wort sozusagen von selbst. Doch was meint<br />

Selbstbestimmung eigentlich ganz genau? Und<br />

welche Bedeutung hat Autonomie für behinderte<br />

Frauen und Männer? In meinem Beitrag, der auf<br />

einem Vortrag vor der Mitgliederversammlung<br />

der Landesarbeitsgemeinschaft ”Selbsthilfe Behinderter”<br />

e.V. im Oktober 1998 basiert, möchte<br />

ich mich mit diesen Fragestellungen beschäftigen.<br />

Meine Überlegungen stellen Ergebnisse eines<br />

Forschungsprojekts dar, das ich 1997/98 als<br />

Mitglied der Forschungsarbeitsgemeinschaft<br />

”Ethik der Gesundheitsversorgung” des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen durchgeführt habe. Im<br />

Rahmen dieses Projekts wurden auch die Alltagstheorien<br />

und Erfahrungen von gesundheitlich<br />

beeinträchtigten Menschen erkundet. In qualitativen<br />

Interviews gaben sie Auskunft über ihre<br />

vielschichtigen und durchaus auch widersprüchlichen<br />

Sichtweisen zum Zusammenhang von<br />

Selbstbestimmung, Behinderung und Bioethik<br />

(Waldschmidt 1999). Die Interviewanalysen hier<br />

vorzustellen würde zu weit führen. Stattdessen<br />

soll eine historisch-systematische Sichtweise eingenommen<br />

werden. Nach einem Ausflug in die<br />

Etymologie geht es um die Frage, aus welchen<br />

Gründen behinderten Menschen auch heute noch<br />

Autonomie eher verweigert wird. Anschließend<br />

soll diskutiert werden, wieso es trotzdem immer<br />

mehr Betroffenen gelingt, Autonomie für sich zu<br />

verwirklichen. Zum Schluß geht es um den ambivalenten<br />

Charakter, den der Selbstbestimmungs-<br />

- 21 -<br />

gedanke insbesondere für behinderte Menschen<br />

und ihre Familien aufweist.<br />

2. ”Selbst” und ”Bestimmung”: Zur Wortgeschichte<br />

Um sich der Begrifflichkeit anzunähern, ist es<br />

sinnvoll, sich zunächst mit der Wortgeschichte<br />

der Vokabel zu beschäftigen. Diese Wortgeschichte<br />

erweist sich als interessant und aufschlußreich.<br />

Die aus zwei Teilen bestehende<br />

Wortzusammensetzung findet sich nicht als eigenständiges<br />

Stichwort in einschlägigen Herkunftswörterbüchern<br />

der deutschen Sprache.<br />

Man muß also die beiden Wortteile, Selbst und<br />

Bestimmung, getrennt nachschauen.<br />

Zu dem Wortteil ”Selbst” werden die folgenden<br />

Erklärungen gegeben (Duden 1989, S. 666;<br />

Pfeifer u.a. 1993, Bd. 2, S. 1276f.). Er stammt<br />

ursprünglich von dem Demonstrativpronomen<br />

”selb”, dessen eigene Herkunft unklar ist und das<br />

zuerst im Althochdeutschen des 7. und 8. Jahrhunderts<br />

auftaucht. ”Selb” kennen wir heute nur<br />

noch in Zusammensetzungen wie ”derselbe”, ”im<br />

selben Haus”, ”zur selben Zeit” und ”selber”. Das<br />

Wort ”Selbst” entwickelt sich aus dem Genitiv<br />

”selbes” unter Anfügung eines unorganischen ”t”<br />

(ähnlich: Obst, Papst). Zunächst um 1300 in der<br />

Wortverbindung ”da selbst” gebraucht, wird es<br />

seit dem 15. Jahrhundert zum eigenen Begriff.<br />

Im 18. Jahrhundert wird aus dem Pronomen ein<br />

Substantiv, das ”Selbst” im Sinne von ”das seiner<br />

selbst bewußte Ich” vor allem im religiösmoralischen<br />

Sinne. Im Anschluß an diese Entwicklung<br />

entstehen zahlreiche Wortzusammensetzungen<br />

und Ableitungen wie ”selbstbewußt”<br />

und ”Selbstbewußtsein”, ”selbstgefällig”,<br />

”selbstlos”, ”Selbstsucht” und ”selbstsüchtig”,<br />

”selbstverständlich” und ”Selbstverständlichkeit”.<br />

Zu dem Wortteil ”Bestimmung” geben die etymologischen<br />

Wörterbücher die folgenden Hinweise<br />

(Duden 1989, S. 77; Pfeifer u.a. 1993, Bd. 1,<br />

S. 126). Das Substantiv leitet sich von dem Verb<br />

”bestimmen” ab, das aus dem Mittelhochdeutschen<br />

stammt und die Grundbedeutung hat: ”mit<br />

der Stimme (be)nennen, durch die Stimme festsetzen”,<br />

in Analogie etwa zu dem Stimmen eines<br />

Instrumentes oder dem Einstimmen eines Chores.<br />

Schon früh entwickelt sich die Bedeutung<br />

von ”bestimmen” im Sinne von ”anordnen”. Die<br />

Substantivierung des Verbes in der Form von<br />

”Bestimmung” wird im 17. Jahrhundert geprägt.<br />

Im 18. Jahrhundert ergibt sich eine weitere Bedeutungsverschiebung.<br />

Ausgehend von der philosophischen<br />

Fachsprache findet sich nun auch die<br />

Verwendung von ”bestimmen” im Sinne von<br />

”nach Merkmalen abgrenzen, klassifizieren und<br />

definieren”.<br />

21

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