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Rundbrief 9 - bvkm.

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nannten informierten Zustimmung für akut Kranke<br />

andererseits, jedoch existiert diese Polarität<br />

durchaus. Das Prinzip der individuellen Autonomie<br />

gilt längst nicht für alle Menschen. Psychisch<br />

kranke und geistig behinderte Menschen werden<br />

in ihrer Selbstbestimmung beschnitten, weil ihnen<br />

ein vernünftiger Wille nicht zuerkannt wird.<br />

Nicht nur psychisch und geistig, sondern auch<br />

anderen behinderten Menschen – so meine These<br />

– wird dieser Wille abgesprochen, und zwar per<br />

definitionem. So wird Behinderung vom Weltgesundheitsamt<br />

(1981) im Anschluß an die WHO-<br />

Definition von 1980 folgendermaßen charakterisiert:<br />

”Behinderung, für welche Leistungsminderung<br />

und/oder Schädigung verursachende Faktoren<br />

sind, wird definiert als eine vorhandene Schwierigkeit,<br />

eine oder mehrere Tätigkeiten auszuüben,<br />

die in bezug auf das Alter der Person, ihr<br />

Geschlecht und ihre soziale Rolle im allgemeinen<br />

als wesentliche Grundkomponente der täglichen<br />

Lebensführung gelten, wie etwa Sorge für sich<br />

selbst, soziale Beziehungen, wirtschaftliche Tätigkeit.<br />

Teilweise von der Dauer der Leistungsminderung<br />

abhängig, kann die Behinderung<br />

kurzfristig, langfristig oder dauernd sein.” (zit.n.<br />

Lindmeier 1993, 195, Hervorh. A.W.)<br />

In dieser Begriffsbestimmung wird die ”Sorge für<br />

sich selbst” als erste Grundkomponente des täglichen<br />

Lebens genannt, bei deren Verrichtung behinderte<br />

Menschen eingeschränkt sind. Für sich<br />

selbst sorgen können, das heißt, sein Leben<br />

selbst zu gestalten, unabhängig und selbständig<br />

zu sein, eigene Entscheidungen zu treffen und<br />

nach ihnen zu handeln, kurz, das heißt Selbstbestimmung.<br />

In unserer Gesellschaft wird davon<br />

ausgegangen, daß behinderte Menschen genau<br />

dies nicht können. Sie leben häufig in personalen<br />

und strukturellen Abhängigkeiten; sie sind von<br />

professionellen Helfern umgeben und befinden<br />

sich – auch dauerhaft – in institutionellen Zusammenhängen.<br />

Kurz, behinderte Menschen sind<br />

auch heutzutage weniger aktiv handelnde, vernünftige<br />

Subjekte, sondern eher Objekte der Fürsorge.<br />

Das Zwischenergebnis kann also so formuliert<br />

werden: Der seit der Aufklärung stark betonte<br />

Vernunftgedanke liegt dem Selbstbestimmungsbegriff<br />

zugrunde. Aus ihm resultiert eine fundamentale<br />

Grenzziehung. Er legitimiert es, daß<br />

Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer<br />

– nicht mit Verstandeskräften begabt sind,<br />

die ihre Vernunft ganz oder zeitweilig verloren<br />

haben, aus dem Autonomiekonzept ausgeschlossen<br />

werden. Nicht nur geistige Behinderung oder<br />

psychische Krankheit, sondern auch das Vorliegen<br />

einer körperlichen Schädigung oder Beein-<br />

- 23 -<br />

trächtigung ruft schnell den Verdacht hervor, die<br />

Betroffenen könnten zur Selbstbestimmung nicht<br />

fähig sein. In dem Gedanken der Autonomie – so<br />

lautet mein Fazit – sind chronisch kranke und<br />

behinderte Menschen eigentlich nicht mitgedacht.<br />

Wie kommt es aber, daß Menschen mit gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen und chronischen<br />

Krankheiten seit einiger Zeit Selbstbestimmung<br />

fordern und teilweise auch bereits für sich verwirklichen<br />

können? Zum Ende des 20. Jahrhunderts,<br />

etwa 200 Jahre nach der Konzipierung der<br />

Idee können auch die bisher Ausgegrenzten<br />

Selbstbestimmung für sich reklamieren. Wieso ist<br />

dies heute möglich geworden? Das ist also die<br />

zweite Frage, die uns im folgenden beschäftigen<br />

soll.<br />

4. Aus welchen Gründen wird die Forderung<br />

nach Selbstbestimmung für behinderte<br />

Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert<br />

möglich?<br />

Um dieser Frage nachzugehen, möchte ich eine<br />

historische Skizze entwerfen, in deren Mittelpunkt<br />

der Zusammenhang zwischen der Herausbildung<br />

eines universellen Anspruchs auf Selbstbestimmung<br />

und dem gesellschaftlichen Umgang<br />

mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen<br />

steht. Dieser Abriß soll vor allem die gegenwärtige<br />

Situation besser verstehen helfen – eine Situation,<br />

die, so könnte man fast polemisch formulieren,<br />

einerseits von dem Ruf nach Freiheit,<br />

andererseits von der Hegemonie der persönlichen<br />

Autonomie gekennzeichnet ist. Mit der Ambivalenz<br />

der späten Moderne sind insbesondere behinderte<br />

Menschen konfrontiert. Zwar können<br />

nun auch sie Selbstbestimmung für sich beanspruchen;<br />

zugleich ist aber auch ihnen die Verpflichtung<br />

zur individuellen Autonomie auferlegt.<br />

Die spezifische Bedeutung von Selbstbestimmung<br />

für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen,<br />

so möchte ich behaupten, ist nur dann<br />

angemessen zu verstehen, wenn die Geschichtlichkeit<br />

des Autonomiegedankens beachtet wird.<br />

Offensichtlich haben sich über die Jahrhunderte<br />

hinsichtlich des Selbstverständnisses des Menschen<br />

entscheidende Dinge ereignet. Die Identität<br />

des einzelnen wird heute auf eine ganz andere<br />

Weise gebildet, als es etwa im Mittelalter<br />

der Fall gewesen ist. Die moderne Identität als<br />

ein neues Denken und Fühlen des Menschen, als<br />

eine neue Art des Subjekts, sich die Welt und<br />

sich selbst vorzustellen, hat sich erst seit der<br />

Renaissance allmählich herausgebildet.<br />

Für den vormodernen Menschen hieß etwas aus<br />

seinem Leben zu machen, nicht individuelle<br />

Selbstbestimmung auszuüben, sondern ”in der<br />

eigenen Person eine Position innerhalb der<br />

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