Rundbrief 9 - bvkm.
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Strukturen zu verwirklichen, vollständig und<br />
glanzvoll” (Taylor 1995, 251). Kinder und Erwachsene,<br />
Männer und Frauen, Leibeigene und<br />
freie Bürger waren fest eingebunden in unverrückbare<br />
familiäre Strukturen und strebten danach,<br />
eine stabile Position innerhalb der Ordnung<br />
der Dinge einzunehmen. Die Erhaltung des Hauses,<br />
des Besitzes und der familiären Position war<br />
der Zweck des individuellen Daseins. Die Identität<br />
galt dann als erfüllt, wenn man den zugedachten<br />
Platz in den bestehenden Strukturen<br />
angemessen ausfüllte und dafür öffentliche Anerkennung<br />
erlangte. Auch für die traditionale, auf<br />
Stabilität bedachte Gemeinschaft stellten körperliche<br />
Schädigung, Geistesschwäche und Verrücktheit<br />
sicherlich ein Problem dar. Wahrscheinlich<br />
aber war die ”vormoderne Problematik” 1 der<br />
Behinderung eine andere als die, die wir heute<br />
kennen. Weniger eine Frage von Arbeits- und<br />
Leistungsfähigkeit war sie wohl eher eine der<br />
Bedeutung und der Ordnung, wohl auch der Sittlichkeit<br />
und der Moral. Der gesundheitlichen Abweichung<br />
mußte in der Vormoderne ein Sinn zugeschrieben,<br />
den Betroffenen einen Platz in der<br />
Welt zugewiesen werden können; zugleich mußte<br />
verhindert werden, daß sie den geregelten Gang<br />
der Dinge bedrohten. Beeinträchtigten Menschen<br />
wurden also Nischen zugewiesen, soziale Positionen,<br />
die wohl auch von Geringschätzung, Demütigung<br />
und Isolation gekennzeichnet waren, die<br />
jedoch zugleich ihre spezifische Bedeutung hatten.<br />
Verkrüppelte, geistesschwache und verrückte<br />
Menschen bildeten den Gegenstand von<br />
Nächstenliebe und Mildtätigkeit, waren Sündenböcke<br />
und Dorfnarren. Sie hatten ihr von Gott<br />
auferlegtes Schicksal zu tragen; sie gingen bettelnd<br />
durch die Lande oder wurden mitversorgt in<br />
der Hausgemeinschaft; sie dienten auf Jahrmärkten<br />
der Belustigung oder verschwanden<br />
hinter Klostermauern.<br />
Mit der Renaissance änderte sich der Welt- und<br />
Selbstbezug des Menschen entscheidend. Der<br />
höchste Zweck des Menschen wird nun die permanente<br />
Ausformung der eigenen Identität. Zwar<br />
strebt auch das moderne Subjekt nach Erfüllung,<br />
allerdings nicht mehr bezogen auf die äußere<br />
Welt oder die soziale Gemeinschaft. Nunmehr will<br />
der Mensch sich in sich selbst entdecken, seine<br />
inneren Antriebe, Wünsche und Sehnsüchte erkennen.<br />
Mit der Herausbildung der modernen<br />
Identität verändert sich auch die Rolle der gesundheitlich<br />
beeinträchtigten Menschen in der<br />
Gesellschaft. Diejenigen, die chronisch krank<br />
sind, die angeborene oder erworbene Schädigun-<br />
1<br />
Hier führe ich einen Gedanken von Robert Castel<br />
(1983) weiter.<br />
- 24 -<br />
gen aufweisen, verlieren ihre sozialen Nischen,<br />
ihre tradierten Rollen und Aufgaben. Gemeinsam<br />
mit anderen Gruppen bevölkern sie nun das Heer<br />
der Armen und Besitzlosen, gehören sie zu den<br />
”Asozialen”. Mit der heraufziehenden Moderne<br />
wird insbesondere der ”idiotische” und der<br />
”verrückte” Mensch zu einem fundamental Fremden,<br />
zu einem Anderen, der am Reich der Vernunft<br />
und damit der Freiheit nicht teilhat<br />
(Foucault 1978).<br />
Das 17. Jahrhundert wird Zeuge einer allgemeinen<br />
Gefangennahme all derjenigen, die die öffentliche<br />
Ruhe und Ordnung stören. Die absolutistische<br />
Staatsgewalt versucht durch eine Politik<br />
der Einschließung, den entwurzelten Massen, die<br />
bettelnd und vagabundierend umherziehen, Herr<br />
zu werden (Foucault 1978; Dörner 1995). Zuchthäuser<br />
in Deutschland, in Frankreich die Hôpitaux<br />
généraux (1656) und in Großbritannien die workhouses<br />
werden geschaffen, um diejenigen einzusperren,<br />
die als gefährlich und lasterhaft, mittellos<br />
und bedürftig, überflüssig und störend gelten.<br />
Diese erste große Internierung ist undifferenziert;<br />
unterschiedslos umfasst sie die Verbrecher<br />
ebenso wie die Kranken und Gebrechlichen, die<br />
Ausschweifenden wie die von ihrer Familie Verstoßenden.<br />
Dem Gewahrsam liegt keine Heilungsabsicht<br />
zugrunde; er bedient sich des äußeren<br />
Zwangs und der sittlichen Unterweisung.<br />
Die Insassen werden zur Arbeit angehalten, jedoch<br />
weniger aus Rentabilitätsgründen, sondern<br />
zur Besserung ihrer Moral.<br />
Das 18. Jahrhundert, das Zusammentreffen der<br />
Amerikanischen (1776) und der Französischen<br />
Revolution (1789) kennzeichnet den Beginn des<br />
modernen Zeitalters im engeren Sinne. In der<br />
frühen Moderne konstituiert sich das Individuum,<br />
das nun als eigene Gestalt hervortritt, als Gegenpol<br />
zur Gesellschaft. Die Aufklärungsphilosophie<br />
liefert die Grundlage für eine neue moralische<br />
Gesinnung, die auf der individualistischen Vorstellung<br />
des menschlichen Selbst als eines autonomen<br />
Subjekts gründet. Individuelle Selbstbestimmung<br />
wird nunmehr prinzipiell möglich. Die<br />
frühe Moderne<br />
” ... ermöglicht den einzelnen Menschen und<br />
verlangt zugleich von ihnen, ihr Selbst zu erschaffen<br />
und ihr Verhältnis zu anderen Menschen<br />
selbst zu bestimmen.” (Wagner 1995, 96)<br />
Die europäische Aufklärung geht von dem<br />
Grundgedanken der persönlichen Freiheit aus.<br />
Den zweiten Grundgedanken stellt die Universalität<br />
dar. In ihrem Kern beinhaltet die Moderne<br />
die Annahme, daß Freiheit und Gleichheit für alle<br />
Menschen gleichermaßen gültig sind. Kaum ist<br />
allerdings die Idee der Universalität entwickelt,<br />
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