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Rundbrief 9 - bvkm.

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Jedoch trifft die Forderung behinderter Menschen<br />

nach mehr Autonomie auf die fortgeschrittene<br />

Individualisierung der erweitert liberalen Moderne.<br />

Für die Mehrheit der Bevölkerung geht es<br />

schon längst nicht mehr um Emanzipation. Die<br />

meisten Menschen sind bereits ”freigesetzt”;<br />

sie sind eifrig dabei, ihre Biographien<br />

selbst zu basteln, Selbstmanagement an den Tag<br />

zu legen. Ihnen ist die Pflicht zu Selbstbestimmung<br />

und Individualität aufgegeben. Die behinderte<br />

Frau und der behinderte Mann, die sich<br />

mühsam erst noch aus der Bevormundung befreien,<br />

die erst noch Macht über sich erlangen<br />

wollen, treffen auf gesunde und normale Individuen,<br />

die sich hektisch den Weg durch die Masse<br />

bahnen, die als selbständige Unternehmer ihr<br />

Leben profitabel gestalten und die die Zwänge<br />

des Marktes bereitwillig akzeptieren. Der verallgemeinerte<br />

Individualismus birgt somit für behinderte<br />

Menschen zwei Enden, die schwerlich<br />

zusammen zu halten sind. Er ermöglicht ihnen<br />

einerseits – endlich! – die Emanzipation; andererseits<br />

konfrontiert er sie mit der schlichtweg<br />

unerfüllbaren Anforderung, ganz allein auf sich<br />

gestellt zu sein.<br />

Selbstbestimmung für behinderte Menschen<br />

– Chance oder Risiko?<br />

Wenn behinderte Menschen Selbstbestimmung<br />

für sich verlangen, dann fordern sie im Grunde<br />

das, was ihnen vom Anspruch des bürgerlichen<br />

Zeitalters her als Behinderte zwar nicht, jedoch<br />

als Menschen durchaus zusteht. Sie fordern ihren<br />

Subjektstatus ein, sie fordern, wie alle Menschen<br />

behandelt zu werden und so wie alle anderen<br />

leben zu können. Sie können dies tun mit dem<br />

Verweis auf den – neben der Vernunft – zweiten<br />

Grundgedanken der europäischen Aufklärung, die<br />

Universalität. Insbesondere in der neoliberalen<br />

Moderne, deren Kennzeichen gerade ein nicht<br />

klassen- oder schichtenspezifischer, sondern ein<br />

verallgemeinerter Individualismus ist, ist es den<br />

Ausgegrenzten möglich, das zuvor formulierte<br />

Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen für sich<br />

zu reklamieren. Im Neoliberalismus, in dem Autonomie<br />

als höchster Wert gilt, können sie<br />

schlecht abgewiesen, und die Schranken müssen,<br />

zumindest teilweise, niedergerissen werden.<br />

Die Geschichte kranker und behinderter Menschen<br />

kann somit – durchaus im positiven Sinne<br />

– als eine Geschichte der allmählichen Anerkennung<br />

gedeutet werden. Für die Forderung nach<br />

Selbstbestimmung bietet offensichtlich vor allem<br />

die neoliberale Moderne den entscheidenden<br />

Raum. In ihrer Betonung des Prinzips der Verallgemeinerung<br />

ermöglicht sie auch denjenigen, die<br />

bislang vor den Türen der modernen Gesellschaft<br />

- 28 -<br />

standen, die Chance zur Individualisierung, die<br />

Freiheit des bürgerlichen Subjekts. Die Forderung<br />

nach Selbstbestimmung impliziert somit das<br />

Auftauchen behinderter Männer und Frauen als<br />

Subjekte in der Geschichte. Es ist eine nachholende<br />

Befreiung, eine Befreiung, die andere<br />

Gruppen schon längst für sich vollzogen haben,<br />

etwa die Arbeiter mit der Gewerkschaftsbewegung<br />

und die Frauen mit der feministischen Bewegung.<br />

Als einer der letzten Nachzügler unter<br />

den bisher aus der Idee der Selbstbestimmung<br />

Ausgegrenzten reklamiert nun auch die Gruppe<br />

der gesundheitlich beeinträchtigten Menschen<br />

elementare Bürgerrechte für sich. Vor diesem<br />

Hintergrund ist der Selbstbestimmungsgedanke<br />

als Chance anzusehen.<br />

Das verspätete Auftauchen behinderter Menschen<br />

in der Geschichte hat allerdings auch dazu geführt,<br />

daß sie mit einer Situation konfrontiert<br />

sind, in der zwei Stränge zusammenkommen, die<br />

zusammen genommen eine ”Zwickmühle” bilden.<br />

Den ersten, bereits erwähnten Strang bildet die<br />

Befreiung aus den feudalistischen Strukturen, die<br />

in Gestalt der großen Einrichtungen und Anstalten<br />

nach wie vor bestehen. Hier sind Parallelen<br />

zu verzeichnen zu der historischen Situation, in<br />

der der Ruf nach individueller Selbstbestimmung<br />

erklang. In diesem Kontext beinhaltet Autonomie<br />

die Forderung nach der Freiheit von Zwang und<br />

Unterdrückung, von Entmündigung und Bevormundung,<br />

von rigiden Strukturen, repressiven<br />

Beziehungen und monotonen Tagesabläufen.<br />

Kurz, Selbstbestimmung heißt hier Befreiung und<br />

Selbstermächtigung. Der zweite Strang läßt sich<br />

als die Autonomie der individualisierten Gesellschaft<br />

kennzeichnen, als eine Selbstbestimmung,<br />

die weniger als Freiheitsrecht, sondern eher als<br />

Pflicht konzipiert ist. In der neoliberalen Moderne<br />

werden die Individuen sich selbst überlassen;<br />

ihnen ist die Aufgabe der Eigenverantwortung<br />

aufgetragen. Allein der Kämpfer, der Sieger, der<br />

Erfolgreiche, kurz, der auf sich allein gestellte<br />

Starke ist gefragt. Hier hat Selbstbestimmung<br />

einen eher disziplinierenden Charakter. Hier bedeutet<br />

sie ein Risiko.<br />

Die Forderung behinderter Menschen nach<br />

Selbstbestimmung artikuliert sich ausgerechnet –<br />

und sicherlich nicht ganz zufällig – in einer Phase,<br />

die ganz und gar ungünstig ist für die Freisetzung<br />

von Individuen, deren Situation durch Hilfebedarfe<br />

gekennzeichnet ist, die, wenn nicht Fürsorge,<br />

so doch Assistenz und Unterstützung brauchen.<br />

Die Autonomiebestrebungen Behinderter<br />

müssen in einem Kontext realisiert werden, der<br />

von dem Wegbrechen und der Erosion traditioneller<br />

Strukturen der Fürsorge geprägt ist, ohne<br />

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