Lernen half uns überleben
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wehr« gesungenen Gettoschlagers. Er parodiert die Abenteuer der<br />
hier kürzlich angekommenen »Deutschen«, die man in jiddischer<br />
Mundart »Jeken« nennt. In lustiger Manier wird Glück und Unglück<br />
dieser immer hungrigen und stets Essen suchenden Menschen geschildert,<br />
die von den »Einheimischen« sogar ein wenig aufs Korn<br />
genommen und oft wegen ihrer Naivität und Unkenntnis der lokalen<br />
Verhältnisse ausgenutzt werden. Es ist auch von den Frauen<br />
die Rede, die mit Hosen bekleidet in den Baluter Gassen herum stolzieren.<br />
Autor und Interpret des Liedes ist der im Getto sehr beliebte<br />
»Straßentroubadour« Herszkowicz, ehemals gelernter Schneider.<br />
Letztes Jahr komponierte er ein durchaus aktuelles und populäres<br />
Lied »Rumkowski Chaim«, mit dessen Darbietung er monatelang<br />
Geld verdiente, wobei er einmal vom Präses höchstpersönlich mit<br />
5 Mark beschenkt wurde, als der Gettovorsteher sich zufällig unter<br />
den Zuhörern befand. Ein anderes Mal erhielt der »Gettotroubadour«<br />
vom Präses ebenfalls höchstpersönlich eine Packung Matze,<br />
als er sein Lied vor Beginn der Feiertage vor einem Laden vortrug,<br />
der gerade zu diesem Zeitpunkt vom Judenältesten visitiert wurde.<br />
Zur Zeit hat sich dem Sänger ein ehemaliger Handlungsreisender,<br />
der Wiener Karol Rozenzwaig zugesellt, der Herszkowicz auf der<br />
Gitarre oder auf der Zither begleitet. Dieses – wie sonst alles andere<br />
im Getto – recht seltsame Duo: ein Baluter Schneider und ein Wiener<br />
Geschäftsreisender, erfreut sich bei den Zuhörern enormer Beliebtheit.<br />
Dabei macht das Paar kein schlechtes Geschäft. und nicht<br />
selten hat es nach einem ganzen Tag ehrlicher Arbeit bis zu 6 Mk.<br />
untereinander zu teilen. In den letzten Tagen präsentiert das Duo<br />
einen neuen Schlager nach der Melodie der Wiener Fiakerkutscher<br />
(komponiert nota bene von einem Juden namens Pik).. Ähnlich wie<br />
das früher speist sich auch dieses Lied aus den unzähligen Kalauern,<br />
die über die »Jeken« hier zirkulieren. Zu Ehren des Präses hat<br />
der Gettosänger seinerzeit einen ebenfalls sehr populären »Schlager«<br />
mit dem Titel »Leben sol prezes Chaim« komponiert“.<br />
Die Chronik des Gettos Lodz, 5. Dezember 1941<br />
Der Getto-Troubadour Herszkowicz<br />
Der Getto-Troubadour Herszkowicz komponierte vor kurzem zwei<br />
aktuelle Lieder. Das erste ist den unvergesslichen Taten Hercbergs<br />
gewidmet, die ein so trauriges Kapitel der Gettogeschichte<br />
darstellen, das zweite hingegen der letzten Küchenorganisation.<br />
Herszkowicz, der seinen ehemaligen Partner verloren hat, einen<br />
Wiener Handlungsreisenden, der seinen Gesang auf der Zither<br />
begleitete, hat seit kurzem keine Zeit mehr vor dem Strassenpöbel<br />
aufzutreten. Er bekleidet nämlich den Posten eines Hausmeisters.<br />
Mit seinen Liedern erheitert er nur noch diejenigen, die zufällig an<br />
verschiedenen Arbeitsstätten während der Pausen zuhören.<br />
Bernard Ostrowski „Die Chronik des Gettos Lodz“, 9 Juni 1942<br />
und Kälte, aber gleichzeitig gab er den<br />
Gettobewohnern Hoffnung und ein<br />
bisschen Freude.<br />
Herszkowicz wurde 1910 in Opatów<br />
geboren. Seine Familie kam kurz vor<br />
dem Krieg nach Łódź. Er lebte mit<br />
seinen Eltern und Geschwistern im<br />
Getto. Erst wohnte er in der ul. Rybna 6<br />
und 13, dann in der ul. Starosikawska 1<br />
und schließlich in der Barek Joselewicz<br />
20. Die Eltern und der jüngste Bruder<br />
wurden 1942 nach Kulmhof am Ner<br />
(Chełmno nad Nerem) deportiert<br />
und dort ermordet. Er selbst erhielt<br />
erst Arbeit in einem Geschäft, dann in<br />
einer Bäckerei und schließlich in einer<br />
Druckerei. In seiner Freizeit verfasste er<br />
Lieder und sang auf den Straßen. Seine<br />
Lieder kannte und summte das ganze<br />
Getto. Manche Zuhörer ergänzten sie<br />
um eigene Strophen.<br />
Jankiel Herszkowicz kommentierte<br />
die Situation im Getto witzig, machte<br />
Scherze und kritisierte die hohen Gettobeamten,<br />
auch den Ältesten der Juden,<br />
Chaim Mordechai Rumkowski. Deshalb<br />
ließ der Vorsitzende den Troubadour in<br />
den Arrest werfen. In der Gettochronik<br />
wird aber auch berichtet, dass Rumkowski<br />
ihn sogar wegen seines Talents<br />
zweimal beschenkte. Herszkowicz war<br />
auch der Verfasser des Schlagers ‚Leben<br />
zol prezes Chaim’ (Hoch)Leben soll der<br />
Vorsitzende Chaim.<br />
Ab Ende 1941 trat der Sänger zusammen<br />
mit Karl Rosenzweig auf, der ihn<br />
auf der Gitarre oder Zither begleitete.<br />
1944 wurde er nach Aschwitz-Birkenau<br />
deportiert, danach gelangte er in<br />
weitere Lager. Das Kriegsende erlebte<br />
er in Bra<strong>uns</strong>chweig. 1945 kehrte er<br />
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