Lernen half uns überleben
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Ab 1940 bis zur Auflösung des Gettos fanden illegale Künstlerabende<br />
statt. An solch einem nahm Lucille Eichengreen<br />
(damals Cecilie Landau) teil, die Sekretärin von Oskar Singer,<br />
Sie erinnert sich nach Jahren an diesen Abend:<br />
Und jetzt habe ich noch eine Überraschung für dich. Am Sonntagabend<br />
wird es in einer Wohnung ein Konzert geben. Ich bin<br />
eingeladen worden und möchte dich mitnehmen.<br />
„Ein Konzert im Getto?“<br />
Er nickte. »Es wird Kammermusik gespielt, und es werden zwei<br />
meiner Wiegenlieder aufgeführt. Ich habe die Texte geschrieben<br />
und ein anderer die<br />
Melodie.« Dies war für<br />
mich ein sehr aufregender<br />
Gedanke, und<br />
ich konnte es kaum<br />
abwarten.<br />
Am Sonntag holte mich<br />
Szaja um sieben Uhr<br />
ab, und wir gingen zu<br />
einem alten, heruntergekommenen<br />
Gebäude<br />
in der Marynarska.<br />
Die Zuhörer saßen auf<br />
dem Fußboden, an die<br />
Wände gelehnt. Sie<br />
unterhielten sich laut<br />
miteinander, bis sie Szaja<br />
bemerkten. Danach<br />
wurde es still im Zimmer.<br />
Offenbar kannten<br />
sie ihn und blickten ihn<br />
neugierig an. Wir suchten <strong>uns</strong> auf dem Fußboden zwei Sitzplätze<br />
und warteten. Es war ein grauer, düsterer Raum. In der Mitte standen<br />
vier Stühle, auf denen die Musiker, mit dem Stimmen ihrer<br />
Instrumente beschäftigt, Platz genommen hatten. Das Publikum<br />
saß jetzt still. Jemand kündigte das Programm an: »Wir beginnen<br />
mit zwei Wiegenliedern von Szaja Spiegel. Bitte applaudieren Sie<br />
leise, wir haben unnötigen Lärm zu vermeiden.«<br />
Eine junge Frau ging zu den Musikern, gab ihnen ein Zeichen, und<br />
sie fingen an. Mit ihrer wunderbaren Sopranstimme sang sie sanfte,<br />
wiegende Melodien zu Szajas gefühlvollen Texten. Der Applaus war<br />
gewaltig: ein stilles, eindringliches Klatschen. Danach setzten die<br />
Musiker ihr Konzert mit verschiedenen Kammermusikstücken fort.<br />
Der Klang dieser Musik versetzte mich in die Vergangenheit…“<br />
thematisch mit der Ausgabe anlässlich<br />
des Pessach-Festes übereinstimmte.<br />
Danach veröffentlichte er hauptsächlich<br />
in Lodzer und Warschauer Zeitschriften,<br />
einmal sogar in der in den Vereinigten<br />
Staaten herausgegebenen und<br />
sozialistisch ausgerichteten intellektuelloffenen<br />
Schrift „Freiheit“. Seit 1925<br />
gehörte er zum jüdischen Schriftstellerverband.<br />
Die zwanziger Jahre<br />
waren unter den jugendlichen Lodzer<br />
Literaten geprägt von gesellschaftlichen<br />
Themen und sozialistischen Idealen.<br />
Spiegel freundete sich in dieser Zeit mit<br />
Chaim König, Israel Rabon und Isaak<br />
Berliner an.<br />
1930 erschien im Lodzer Verlag Alef<br />
der erste Band seiner Gedichte „Mitn<br />
ponim cu der zun“ (Mit dem Gesicht<br />
zur Sonne). In den dreißiger Jahren war<br />
für sein Schaffen die Atmosphäre des<br />
Hauses von Jizchak Katzenelson von<br />
Bedeutung. Außer dem Lodzer hielten<br />
sich dort häufig Warschauer Gäste auf,<br />
darunter Jechiel Jesaja Trunk, Herschek<br />
Danielewicz und Israel Singer. Eine<br />
zweite sehr einflussreiche Gestalt in<br />
diesem Kreis war Moische Broderzon.<br />
Ab Ende der zwanziger Jahre lehrte<br />
Spiegel jüdische Sprache und Literatur<br />
an Lodzer Schulen.<br />
1933 erhielt er den Posten eines<br />
Buchhaltungsgehilfen in einem Unternehmen,<br />
das zahlreiche polnische und<br />
ausländische Zeitschriften vertrat. Ins<br />
Getto kam er 1940. Er arbeitete in der<br />
Statistischen Abteilung und war auch<br />
einer der Autoren der „Getto-Enzyklopädie“.<br />
Er schrieb im Getto Erzählungen<br />
und Gedichte, die u.a. dem verstorbenen<br />
Töchterchen Eva gewidmet waren<br />
(sie ist auf dem jüdischen Friedhof im<br />
Stadtteil Bałuty begraben). Die Lieder<br />
„Mach zu die eigelchen“ und „Nich kajn<br />
rozinkes nich kein mandeln“ sowie die<br />
Musik von David Baigelmann waren<br />
im Getto sehr beliebt. Rumkowski<br />
wollte ihn, als er das Wiegelied während<br />
eines Konzertes gehört hatte, aus dem<br />
Getto „aussiedeln“. Zur Rettung kam<br />
ihm Henryk Neftalin, der Leiter der<br />
Statistischen Abteilung und Spiegel<br />
blieb bis zum August 1944 im Getto.<br />
Ihm gelang es vor der Auflösung des<br />
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