JAHRESBERICHT - Gerda Henkel Stiftung
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Im Zentrum der Dissertation stand einerseits die formale Konstruktion der Facta et<br />
dicta memorabilia und andererseits die Frage nach den von Valerius entworfenen<br />
»Bildern« sozialer Beziehungen. Dabei hat sich Dr. Lucarelli sowohl mit dem von<br />
Valerius skizzierten Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen als auch mit den weiteren<br />
Verwandtschaftsbeziehungen (Mutterrolle, Stellung der Tochter, Ehe, Beziehung zwischen<br />
Geschwistern) und den übrigen Nahbeziehungen (amicitia, fides und gratia)<br />
auseinandergesetzt. Es gelang ihr zu zeigen, dass Bedeutung und Aussagewert exemplarischer<br />
Erzählungen in erheblichem Umfang durch die jeweilige Darstellungsintention<br />
geprägt sind und somit beträchtliche Dynamik aufweisen können. Die Exemplasammlung<br />
des Valerius hat Dr. Lucarelli daher nicht als historiographisches Werk, sondern<br />
als Teil des frühkaiserzeitlichen Normendiskurses interpretiert und die Bedeutung der<br />
Quelle primär in die Zeit ihrer Entstehung eingeordnet, obwohl die Mehrzahl der<br />
valerischen exempla die Zeit der Republik zum Thema hat.<br />
Mit Blick auf die Ebene der Gattung konnte Dr. Lucarelli zeigen, dass die Entscheidung<br />
des Valerius, historische Bezüge in Form einer Exemplasammlung deutlich<br />
zu machen, es ihm ermöglichte, den Fokus auf »Werte« zu richten und strukturelle<br />
Konflikte sowie problematische historische Kausalitäten auszublenden. Eine weitere<br />
Besonderheit des valerischen Werkes liegt darin, dass Funktion und Funktionieren<br />
von exempla wichtige Erweiterungen erfahren: Neben die traditionelle Funktion – die<br />
Bereitstellung normativer Verhaltensmodelle durch Rekurs auf vorbildhafte Handlungen<br />
republikanischer Vorfahren – tritt bei Valerius die Aufgabe, Handlungsanleitungen<br />
für Situationen zu bieten, die zuvor keiner normativen Fixierung unterlagen.<br />
Als wichtige Erkenntnis ist schließlich festzuhalten, dass der von Valerius entworfene<br />
Normenkosmos nicht als Ergebnis einer einfachen Aneinanderreihung exemplarischer<br />
Erzählungen, sondern als Produkt bewusster Schöpfung mit starken strukturierenden<br />
Elementen zu betrachten ist. Dabei konnte Dr. Lucarelli eine massive Moralisierung<br />
des römischen Erinnerungsraumes festhalten, die von Valerius über drei Darstellungsformen<br />
vermittelt wird: die Inszenierung zwischenmenschlicher Loyalität, die<br />
Darstellung von Konfiktvermeidung und moderatem Handeln sowie die Reduktion<br />
politisch-struktureller Konflikte auf moralisches Fehlverhalten. Damit gelingt es Valerius,<br />
einen umfassenden, durch »Werte« strukturierten Erinnerungsraum zu entwerfen,<br />
in den auch problematische Episoden der Geschichte eingeordnet werden<br />
können. Zugleich werden auf diese Weise verbindliche Handlungsrahmen abgesteckt,<br />
in deren Grenzen auch Konflikte auf gesellschaftlich akzeptable Weise ausgetragen<br />
werden können.<br />
Dr. Lucarelli hat in ihrer Dissertation erstmals umfassend herausgearbeitet, dass –<br />
und wie – sich die Facta et dicta memorabilia in den Rahmen eines komplexen frühkaiserzeitlichen<br />
Normendiskurses einordnen lassen. Damit trägt sie einerseits maßgeblich<br />
zu einem tieferen Verständnis des valerischen Werkes bei und eröffnet andererseits<br />
mit Blick auf den vielschichtigen Normendiskurs der frühen Kaiserzeit neue Untersuchungsperspektiven,<br />
die vertiefte Einsichten in die frühkaiserzeitliche Konstruktion<br />
und Strukturierung des römischen Normen- und Erinnerungsraumes ermöglichen. Die<br />
Studie ist im Berichtsjahr im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, erschienen:<br />
Ute Lucarelli, Exemplarische Vergangenheit. Valerius Maximus und die Konstruktion<br />
des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit, Göttingen 2007 (= Hypomnemata.<br />
Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben, Bd. 172)<br />
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