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JAHRESBERICHT - Gerda Henkel Stiftung

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Europa verlassen.<br />

Künstlerreisen am Beginn des<br />

20. Jahrhunderts<br />

Stipendiat<br />

Förderung<br />

Dr. Christoph Otterbeck, Marburg<br />

promotionsstipendium | Die <strong>Gerda</strong> <strong>Henkel</strong> <strong>Stiftung</strong> unterstützte<br />

das Dissertationsvorhaben durch die Gewährung eines<br />

Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reisekosten und<br />

stellte einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der<br />

Dissertation zur Verfügung.<br />

Emil Orlik, Arabisches Mädchen, 1912,<br />

Kreide auf weißem Papier, 26,8 × 18,7 cm<br />

Im frühen 20. Jahrhundert waren die kolonialen Bestrebungen des Deutschen Kaiserreiches<br />

für viele Bereiche der Alltagskultur relevant, und die außereuropäischen<br />

Kulturen übten auch auf Teile der modernen Künstlerschaft eine große Anziehungskraft<br />

aus. Viele Künstler verließen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg für einige<br />

Zeit Europa und reisten in den Orient und in die Südsee, nach Japan, Indien oder<br />

Mexiko. Die Künstlerfreunde Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet besuchten<br />

Tunis, Max Slevogt fuhr nach Ägypten, die Expressionisten Emil Nolde und Max<br />

Pechstein bereisten unterschiedliche Gegenden der Südsee. Weniger geläufig in der<br />

kunsthistorischen Forschung sind der Aufenthalt von Gabriele Münter und Wassily<br />

Kandinsky in Tunesien oder die beiden Fahrten von Karl Hofer nach Indien. Kaum<br />

erforscht sind die Reisen von vier Künstlern, die zwischen 1900 und 1914 in den deutschen<br />

Kunstbetrieb integriert waren, heute aber nicht mehr allgemein bekannt sind:<br />

Emil Orlik, der in Japan künstlerische Erfahrungen suchte, René Beeh und Eugen<br />

Kahler, die unabhängig voneinander nach Nordafrika fuhren, und Ottilie Reylaender,<br />

die in Mexiko malte.<br />

Dr. Christoph Otterbeck hat im Rahmen seines Dissertationsvorhabens erstmals<br />

eine übergreifende kunsthistorische Analyse zu den Reisen moderner Künstler in<br />

außereuropäische Länder zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitet. Dabei wurden<br />

für die einzelnen Reisen jeweils die Erwartungshaltung der Reisenden, die Konfrontation<br />

mit der neuen Erfahrungswelt, die konkrete künstlerische Arbeit, die Präsentation<br />

der bildnerischen Ergebnisse nach der Rückkehr sowie die Reaktionen der kommentierenden<br />

Öffentlichkeit im Kunstbetrieb untersucht. Im Mittelpunkt stand die Frage,<br />

wie die Künstler ihre auf den Reisen gesammelten individuellen Erfahrungen später in<br />

Kunstwerken verarbeiteten. Dr. Otterbeck konnte nachweisen, dass die oft geäußerte<br />

Vermutung, die Reise eines Künstlers wirke sich unmittelbar auf seine künstlerische<br />

Praxis aus, so nicht zutreffend ist: Die formale und ästhetische Auseinandersetzung<br />

fand vielmehr über längere Zeiträume in Form einer zyklischen Bewegung statt, die<br />

ihren Ausgangspunkt in einer vagen Sehnsucht nach etwas Anderem hatte, dann durch<br />

die Beschäftigung mit exotischen Themen dazu führte, dass der betreffende Künstler<br />

Reisen unternahm, und die nach der Verarbeitung der dabei gesammelten Erfahrungen<br />

oftmals in einer ähnlichen Sehnsucht wie zu Beginn des Prozesses endete.<br />

Leitfragen der Untersuchung betrafen darüber hinaus auch die stilgeschichtliche<br />

Analyse der Reisebilder sowie die gewählten Bildmotive. Die Künstler bedienten sich<br />

in der Ferne entweder ihrer bereits zuvor erarbeiteten modernen Gestaltungsweise<br />

oder milderten ihren Avantgardismus sogar deutlich ab. Im Gegensatz zum damaligen<br />

Trend zum abstrakten oder ungegenständlichen Bild blieb die Abbildungsfunktion<br />

der Reisebilder erhalten und kann als Ausgangspunkt für träumerische Imaginationen<br />

fremder Länder und ihrer Bewohner betrachtet werden. Hinsichtlich der Bildmotive<br />

konnte Dr. Otterbeck zeigen, dass es bei aller Unterschiedlichkeit der reisenden<br />

Künstler doch eine gemeinsame Perspektive bei der jeweiligen Charakterisierung der<br />

Länder jenseits des europäischen Kontinents gab: Die überwiegende Zahl der Bilder<br />

zeigt eine freundliche Welt, schöne Landschaften in warmen Farben oder vermeintliche<br />

Einblicke in das einfache, unkomplizierte Leben der einheimischen Bevölkerung.<br />

Die Reisebilder werden so als Gegenentwürfe erkennbar, mit denen die Künstler auf<br />

die Modernisierung ihrer heimischen Gesellschaft und auf die damit verbundenen<br />

Entfremdungsgefühle reagierten.<br />

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