JAHRESBERICHT - Gerda Henkel Stiftung
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Eine historische Anthropologie des<br />
Buches. Bücher in der preussischen<br />
Herzogsfamilie zur Zeit der Reformation<br />
Stipendiatin<br />
Förderung<br />
Dr. Nadezda Shevchenko, Moskau<br />
promotionsstipendium | Die <strong>Gerda</strong> <strong>Henkel</strong> <strong>Stiftung</strong> unterstützte<br />
das Dissertationsvorhaben durch die Gewährung eines<br />
Promotionsstipendiums sowie die Übernahme von Reisekosten und<br />
stellte im Berichtsjahr einen Druckkostenzuschuss zur Veröffentlichung<br />
der Dissertation zur Verfügung.<br />
Porträt von Herzog Albrecht (Silberband aus der<br />
Königsberger Silberbibliothek)<br />
Johann Brenz, Heilsame vnd nützliche Erklärung<br />
/ des Ehrwirdigen Herren Joannis Brentij / vber<br />
den Catechismum / Durch Hartman Beyer / allen<br />
Christlichen Haußuättern zugefallen / verdeudscht,<br />
Frankfurt a.M.: Peter Braubach, 1552; Ders.,<br />
passio Unsers Herren Jesu Christi leyden vnd sterben<br />
[…] in Latein ausgelegt / durch / Herren Johann<br />
Brentzen […] Auch gezieret mit schönen Figuren<br />
vnd Concordantzen. Nürnberg: Johann Daubmann,<br />
1551.<br />
Bereits im 16. Jahrhundert wurden Bücher auf jeder Etappe ihrer »kulturellen Biographie«<br />
(Herstellung, Verbreitung und Benutzung) in zahlreiche soziokulturelle<br />
Praktiken einbezogen. Das Buch war Objekt von Beziehungen und Interessen, und<br />
diese wiederum bestimmten den Umgang mit dem Buch. Bücher traten unter anderem<br />
als Identitätssymbol, Objekt der Repräsentation, Wissens- und Glaubensgegenstand,<br />
Textvermittler, Sehenswürdigkeit, Geschenk und Erinnerungsobjekt in Erscheinung.<br />
Dr. Nadezda Shevchenko hat sich in ihrer Dissertation am Beispiel der preußischen<br />
Herzogsfamilie mit der Geschichte des Buches in der Frühen Neuzeit beschäftigt<br />
und die soziokulturellen Praktiken, die sozialen Beziehungen und die Verhaltensund<br />
Wahrnehmungsweisen untersucht, die mit dem Gegenstand »Buch« verknüpft<br />
waren. Sie konnte zeigen, dass sich im 16. Jahrhundert nicht nur der Büchermarkt<br />
wandelte, sondern auch die Buchbenutzung und - wahrnehmung am Hof. Bücher, die<br />
Gelehrsamkeit und Frömmigkeit verkörperten, bildeten ein wichtiges Element der<br />
Patronagebeziehungen zwischen Herzog und Gelehrten und wurden den Aufgaben<br />
der sozialen Kommunikation mehr und mehr angepasst.<br />
Im Mittelpunkt der Studie stehen Fragen nach der Definition des Begriffs »historisches<br />
Buch«, der Bedeutung von Büchern im Alltag einer Fürstenfamilie im 16. Jahrhundert<br />
sowie den kulturellen, sozialen und politischen Faktoren, die den hohen<br />
Stellenwert dieses Mediums nach der Erfindung des Buchdrucks erklären. Dabei wird<br />
sichtbar gemacht, wie die Herzöge und Herzoginnen mit ihren Kenntnissen über die<br />
Herstellung, Verbreitung und Benutzung von Büchern umgingen, in welche Handlungsräume,<br />
Interaktionen und Klassifikationsordnungen Bücher eingeschlossen<br />
wurden, welche Normen und Werte den Umgang mit dem Gegenstand steuerten und<br />
wie diese in der Alltagspraxis umgesetzt wurden. Quellen für die Dissertation waren<br />
unter anderem der fürstliche Briefwechsel, unterschiedliche Arten von Bücherlisten<br />
(Verzeichnisse, Nachlassinventare, Bestellungslisten), die Rechnungsbücher der herzoglichen<br />
Rentkammer sowie die Protokollbücher der Oberratsstube. Ausgehend von<br />
der von den Fürsten und Fürstinnen initiierten Herstellung von Büchern beschreibt<br />
Dr. Shevchenko die Zirkulationsprozesse, in die Bücher einbezogen wurden: Zum<br />
Einen gab es eine zielgerichtete Sammelpraxis, die in der Zusammenstellung der<br />
Hofbibliotheken in Erscheinung trat, zum Anderen förderten die Gelehrten selbst<br />
den Umlauf von Büchern dadurch, dass sie sie verschenkten und mit Widmungen<br />
versahen. In diesem Zusammenhang werden die Sammelstrategien der Herzöge, die<br />
Auswahlkriterien für »Antiquitäten« und »Raritäten«, die politische Bedeutung der<br />
Hofbibliotheken sowie das kommunikative Potential der Buchgeschenke und Dedikationen<br />
behandelt. Abschließend hat sich Dr. Shevchenko mit den Praktiken der<br />
Buchbenutzung beschäftigt und Erkenntnismöglichkeiten und Grenzen der historischen<br />
Leseforschung untersucht, die das Lesen von anderen Verwendungsweisen<br />
des Buches löst und als privilegierte Praxis der Buchbenutzung behandelt. Indem sie<br />
auch andere mit dem Buch verbundene Praktiken (etwa Erziehung und Bildung, Einordnung<br />
und Unterbringung, religiöse Erbauung und innerlutherische Kontroverse)<br />
berücksichtigt, stellt Dr. Shevchenko die Mannigfaltigkeit der mit der Lektüre verbundenen<br />
Faktoren sowie die Wechselbeziehung des Lesens mit anderen kulturellen<br />
Praktiken dar.<br />
Methodisch versteht sich die Studie als Beitrag zur historischen Anthropologie<br />
des Buches, d. h. zur Buchgeschichte, die den historischen Wandel der kulturellen<br />
Normen, Verhaltens- und Umgangsweisen in Hinblick auf das Buch problematisiert.<br />
Die Dissertation ist im Berichtsjahr im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen<br />
erschienen:<br />
Nadezda Shevchenko, Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der<br />
preußischen Herzogsfamilie zur Zeit der Reformation, Göttingen 2007 (= Veröffentlichungen<br />
des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 234)<br />
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