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zur Erwachsenenbildung

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Schwerpunkt Positionen <strong>zur</strong> <strong>Erwachsenenbildung</strong><br />

Geschichten erfinden –<br />

Erkenntnisse suchen<br />

Werner Lenz<br />

Schwerpunkt<br />

Geschichten<br />

Literatur lügt, sagt Daniel Kehlmann in einem Radiointerview.<br />

Er meint, sie erzählt. Joachim Meyerhoff,<br />

Burgschauspieler und Autor, nennt die Erinnerungen<br />

an seine Kindheits- und Jugendjahre „Roman“. Darin<br />

stellt er fest: „Erinnern heißt erfinden“. Erzählen, entgegnete<br />

Peter Henisch seinen an die Realität glaubenden<br />

Kritikern, ist das Herz der Literatur. Das menschliche<br />

Hirn ist mehr für Geschichten gemacht als für<br />

Fakten, begründet der Erfolgsautor Jostein Gaarder (ich<br />

weiß, er ist kein Neurobiologe!), warum er seine Botschaften<br />

in Geschichten verpackt.<br />

„Geschichten ereignen sich nicht. Geschichten werden<br />

erzählt“. Diese beiden Sätze stammen vom Schriftsteller<br />

Christoph Ransmayr. Er gibt zu bedenken, dass wir<br />

vieles, was wir glauben von unserer Welt zu wissen, nur<br />

aus Erzählungen kennen.<br />

„Die Leute wollen Geschichten hören“, berichtet<br />

enttäuscht ein Kollege. Sein Fachvortrag war vom Publikum<br />

weniger gut aufgenommen worden, als der mit<br />

„Geschichterln“ gespickte seines Vorredners.<br />

Erkenntnisse<br />

Wissenschaft sucht Wahrheit, erklärt Ursachen, liefert<br />

Beweise und Belege, sammelt Argumente, bereitet<br />

Grundlagen für Entscheidungen auf, gibt Antworten<br />

auf offene Fragen. Wissenschaft erklärt die Welt, macht<br />

sie verständlich. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden<br />

zu Hebeln, um die Welt zu verändern.<br />

Mit dieser Hoffnung auf Werkzeuge der Veränderung<br />

betrat ich die Universität. Mit solchen Erwartungen<br />

konfrontierten mich Studierende und Interessierte,<br />

die sich vom Wissenschafter sichere und verlässliche<br />

Antworten auf ihre Fragen wünschten.<br />

Aber als Hochschullehrer war ich schon längst<br />

verunsichert, was die Aussagekraft und Wahrheitsfindung<br />

wissenschaftlicher Erkenntnisse betraf. Literatur<br />

öffnete mir mit ihren Geschichten Wege ins Leben,<br />

Wissenschaft erfasste wie eine Pinzette kleinste Mosaiksteine,<br />

die ein fragwürdiges (im Sinne des Wortes!)<br />

sich stets veränderndes Bild auf einen Bruchteil der<br />

Welt ergaben.<br />

Interesse statt Gegenstand<br />

War das früher einfacher? Zu meiner Studienzeit in<br />

den 1960er-Jahren begannen die einführenden Lehrveranstaltungen<br />

in Geschichte, Psychologie oder Pädagogik,<br />

indem die Lehrenden vom „Gegenstand“ sprachen,<br />

den ihre Wissenschaft behandelte. Sie zogen Grenzen<br />

und erweckten den Eindruck, es gäbe klar definierte<br />

„Gegenstände“, die in der jeweiligen Wissenschaft erforscht<br />

und erklärt werden könnten. Was nicht erklärt<br />

werden konnte – in der Psychologie zum Beispiel war<br />

es die Seele oder das Unbewusste – wurde einfach ausgeschlossen.<br />

Beides konnte ja, so die damalige Diktion,<br />

nicht nachgewiesen und nicht empirisch erfasst werden.<br />

Die Pädagogik ging anders vor. Sie bediente sich verschiedener<br />

„Hilfswissenschaften“, Geschichte, Psychologie,<br />

Soziologie…, später höflich und weniger dominant<br />

„Nachbarwissenschaften“ genannt – immer aber mit<br />

Respektabstand <strong>zur</strong> Philosophie, der Königswissenschaft.<br />

Dieses Ringen um Rangordnung in der wissenschaftlichen<br />

Hierarchie fand sein Ende, als Fakten anstelle<br />

von Reflexionen gefordert wurden. In der Pädagogik<br />

sprach man von einer „realistischen Wende“. Wissenschaftliche<br />

Analysen sollten die Realität darstellen,<br />

allfällige Defizite und Ansatzpunkte für Veränderung<br />

aufzeigen. Pädagogik sah sich mit einer Erziehungswissenschaft<br />

konfrontiert, die statt eines geisteswissenschaftlichen,<br />

interpretierenden, normativen Paradigmas<br />

mit Zahlen, Fakten und empirischen Analysen die Realität<br />

des Bildungswesens darstellen wollte. Sozialisation,<br />

Ungleichheit der Bildungschancen, gesellschaftsspezifische<br />

Differenzen, aber auch unterschiedlich hohe<br />

Investitionen in die einzelnen Bildungssektoren oder<br />

die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen<br />

Herkunft gerieten somit in den Blick der Öffentlichkeit.<br />

Medienwirksam.<br />

Oder war es nicht viel mehr umgekehrt? Indem das<br />

Bildungswesen für den ökonomischen Wettbewerb<br />

bedeutsam wurde, war kein interpretierender philosophischer,<br />

sondern ein erklärender wissenschaftlicher<br />

Zugang gefordert. Dies war nicht nur ökonomisches,<br />

sondern eine gewisse Wegstrecke lang auch emanzipatorisches<br />

Interesse. Aufklärung über Ungerechtigkeit<br />

und Ungleichheit, über Abhängigkeit oder Privilegien<br />

und als Ursache allen Übels das kapitalistische Wirtschaftssystem<br />

verlangten nach wissenschaftlicher Kritik.<br />

Gesellschaftlich wirken<br />

Seit Mitte der 1960er-Jahre sind in der Wissenschaft<br />

neue Tendenzen und Grundsätze zum Ausdruck gekommen.<br />

An die Stelle einer „Big Science“, einer Repräsentationswissenschaft,<br />

wollte eine „New Science“ treten,<br />

die nicht nur akademisches Wissen „repräsentiert“,<br />

sondern praktisch, in der Gesellschaft, wirksam werden<br />

sollte. An gesellschaftlichen Problemfeldern orientiert,<br />

entstand „Interventionsforschung“. Im deutschsprachigen<br />

Raum lauteten die analogen Bezeichnungen<br />

24 — DIE ÖSTERREICHISCHE VOLKSHOCHSCHULE · 12-2013 · NR. 250

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