Archivar 2/2013 (3 MByte) - Archive in NRW
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wor<strong>in</strong> typische Herausforderungen im Umgang mit Forschungsdaten<br />
bestehen. 5 Das KASCADE-Projekt lief <strong>in</strong> den Jahren 1996<br />
bis 2009. Die dabei angestellten Messungen registrierten e<strong>in</strong>e<br />
Auslese der Elementarteilchen, die laufend aus dem Weltall auf<br />
die Erde e<strong>in</strong>prasseln. Mit den Forschungen sollten Rückschlüsse<br />
auf Vorgänge <strong>in</strong> räumlich und zeitlich weit entfernten Gebieten<br />
des Universums gezogen werden. Das Projekt wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
<strong>in</strong>ternationalen Kooperation mit Partnern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganzen Reihe<br />
von Ländern ausgeführt. Zur Erfassung der relativ seltenen Elementarteilchen<br />
bedurfte es e<strong>in</strong>er aus hunderten von Detektoren<br />
auf e<strong>in</strong>em Areal von mehreren Hektar bestehenden Messe<strong>in</strong>richtung.<br />
Die e<strong>in</strong>zelnen Detektoren erfassten ankommende Teilchen<br />
nach ihrem Typ, ihrer Energie und ihrer Flugrichtung sowie dem<br />
Zeitpunkt ihres Auftreffens. Wichtig für die Auswertung war das<br />
Erkennen nicht nur der e<strong>in</strong>zelnen Trefferereignisse, sondern auch<br />
das Muster der im ganzen Detektorfeld auftreffenden Schauer.<br />
Denn erst über die Schauerform wurden die Schlüsse auf die<br />
Art der aus dem Weltraum stammenden Teilchen möglich. Beim<br />
E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Erdatmosphäre treffen diese Partikel mit Teilchen<br />
<strong>in</strong> der Atmosphäre zusammen, und es kommt zu regelhaften<br />
Zerfallsprozessen. Im Detektorfeld wurden nur die als Produkte<br />
dieser Zerfallsprozesse erzeugten Teilchenschauer registriert.<br />
Um von den auf der Erdoberfläche e<strong>in</strong>treffenden Teilchen auf<br />
die auslösenden Partikel zu folgern, müssen Gesetzmäßigkeiten<br />
der ablaufenden Zerfallsprozesse zugrunde gelegt werden. Dabei<br />
arbeitet die Teilchenphysik mit Hypothesen, die jedoch im Zuge<br />
weiterer Erkenntnisse modifiziert werden können. Ließen sich<br />
die Messergebnisse des KASCADE-Projekts e<strong>in</strong>fach reproduzieren,<br />
könnte man sich mit den aus dem Projekt entstandenen<br />
Publikationen begnügen. Bei e<strong>in</strong>em über mehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt<br />
auf hektargroßen Versuchsfeldern mit Hunderten von Detektoren<br />
ausgeführten Projekt besteht jedoch ke<strong>in</strong>e Aussicht auf e<strong>in</strong>e<br />
Reproduktion der Messdaten. Der für die erneute Datengew<strong>in</strong>nung<br />
zu betreibende Aufwand rechtfertigt den Erhalt der e<strong>in</strong>mal<br />
gewonnenen Informationen für künftige Auswertungen.<br />
Für die Erhaltung der Ergebnisse von KASCADE ist entscheidend,<br />
dass die primären Messdaten die daraus gezogenen Schlüsse<br />
noch nicht nachvollziehbar machen. Die Rohdaten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
e<strong>in</strong>zigen Tabelle mit etwa zwölf Spalten darstellbar und haben<br />
e<strong>in</strong> Volumen im e<strong>in</strong>stelligen Terabytebereich. Die darauf basierenden<br />
Ergebnisse werden erst dann verständlich, wenn auch die im<br />
Projekt ausgeführten Prozesse der Datenverarbeitung verfügbar<br />
bleiben. Die dauerhafte Lauffähigkeit des Programms und die<br />
Transparenz der Prozesse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Voraussetzung dafür, dass die<br />
KASCADE-Daten von späteren Wissenschaftlern kritisiert und<br />
für neue Interpretationsansätze verwendet werden können. Das<br />
Programm ist proprietär und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Lauffähigkeit an e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Hardware gebunden. An der Erstellung des Codes haben<br />
viele Wissenschaftler und IT-Experten mitgewirkt. Von e<strong>in</strong>er nach<br />
den Kunstregeln der Informatik konsistenten Programmierweise<br />
und e<strong>in</strong>er umfassenden Dokumentation des Programms nach<br />
den für Massenanwendungen üblichen Standards ist bei den<br />
Projekten im wissenschaftlichen Bereich nicht auszugehen.<br />
E<strong>in</strong>e Durchsicht des nestor-Handbuchs Langzeitarchivierung<br />
von Forschungsdaten 6 zeigt, dass die Merkmale des KASCADE-<br />
Projekts beispielhaft für e<strong>in</strong> ganzes Spektrum vergleichbarer<br />
Situationen s<strong>in</strong>d. Zu e<strong>in</strong>em für die Archivsparte hoch ersche<strong>in</strong>enden<br />
Datenvolumen treten als weitere Herausforderungen<br />
die diszipl<strong>in</strong>spezifischen und nur <strong>in</strong> manchen Bereichen schon<br />
standardisierten Strukturen von Messdaten sowie regelmäßig der<br />
Bedarf, die im Projekt ausgeführten Prozesse der Datenverarbeitung<br />
nachzuvollziehen.<br />
E<strong>in</strong> neues Arbeitsfeld für <strong>Archive</strong>?<br />
Aus den im archivischen Bereich vorhandenen Referenzprojekten<br />
für e<strong>in</strong>e normgerechte digitale Langzeitarchivierung könnten<br />
<strong>Archivar</strong>e an wissenschaftlichen E<strong>in</strong>richtungen die Zuversicht<br />
schöpfen, dass mit der Digitalisierung von Forschungsdaten e<strong>in</strong><br />
abwechslungsreiches Aufgabengebiet entstanden ist. Defizite bei<br />
der Strukturierung und Kontextualisierung von Forschungsdaten<br />
sowie bei der Sicherung von langfristiger Verständlichkeit und<br />
Glaubwürdigkeit könnten auf viele Angehörige der Berufsgruppe<br />
wie e<strong>in</strong> Schlüsselreiz für den Vortrag archivspezifischer Expertise<br />
wirken. Der Blick <strong>in</strong> die Landesarchivgesetze kann solche Ambitionen<br />
beflügeln. Die für die meisten Hochschularchive geltenden<br />
Umschreibungen, worum sich das Archiv zu kümmern hat, s<strong>in</strong>d<br />
mit dem üblicherweise weit gehaltenen Unterlagenbegriff auf<br />
die digitalen Aufzeichnungen aus der Forschung sehr wohl zu<br />
beziehen. 7<br />
Indes hat die Nachnutzung von Forschungsdaten e<strong>in</strong>en Weg<br />
e<strong>in</strong>geschlagen, der noch ke<strong>in</strong>en Schnittpunkt mit der Entwicklung<br />
von <strong>Archive</strong>n wissenschaftlicher Institutionen absehen lässt.<br />
Das nestor-Handbuch Langzeitarchivierung von Forschungsdaten<br />
zieht klassische <strong>Archive</strong> als Träger e<strong>in</strong>er Forschungsdatenüberlieferung<br />
kaum <strong>in</strong> Betracht. Im Vordergrund stehen Lösungen, bei<br />
denen Daten <strong>in</strong> diszipl<strong>in</strong>spezifischen Repositorien (Research Data<br />
1 Dieser Beitrag versucht, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von anfänglicher Dynamik geprägten Situation<br />
e<strong>in</strong>en Überblick zu geben und e<strong>in</strong>e Perspektive auf zukünftiges Handeln<br />
zu entwickeln. Deshalb kann nicht immer im wünschenswerten Maß<br />
auf gesicherten Konsens und Erfahrung zurückgegriffen werden. Die Ausführungen<br />
beruhen zu e<strong>in</strong>em wesentlichen Teil auf Beobachtungen, die der<br />
Verfasser seit 2009 als Koord<strong>in</strong>ator der Arbeitsgruppe Digitale Langzeitarchivierung<br />
<strong>in</strong> der Fachgruppe 8 <strong>Archive</strong> der Hochschulen und wissenschaftlichen<br />
Institutionen im Verband deutscher <strong>Archivar</strong><strong>in</strong>nen und <strong>Archivar</strong>e<br />
(VdA), durch die Beteiligung an e<strong>in</strong>em seit 2012 am KIT laufenden Projekt<br />
des Center of Digital Tradition (CODIGT) zur Erforschung komplexer Daten<br />
<strong>in</strong> Forschung und Kunst sowie durch Diskussionen <strong>in</strong> der seit 2012 bestehenden<br />
Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft der <strong>Archive</strong> <strong>in</strong> der Helmholtz-Geme<strong>in</strong>schaft<br />
Deutscher Forschungszentren gemacht hat. Dank für Denkanstöße und<br />
Erläuterungen gilt Katr<strong>in</strong> Große (Gesellschaft für Schwerionenforschung),<br />
Dr. Andreas Haungs (KIT, Institut für Kernphysik), Elke Le<strong>in</strong>enweber (KIT-<br />
Archiv), Dr. Christian R. Salewski (Alfred-Wegener-Institut für Polar- und<br />
Meeresforschung), Dr.-Ing. Thomas Vögtle (KIT, Institut für Photogrammetrie<br />
und Fernerkundung) und Dr. Danny Weber (Leopold<strong>in</strong>a).<br />
2 Der aktuelle Diskussionsstand und e<strong>in</strong>führende Literatur s<strong>in</strong>d unter www.<br />
forschungsdaten.org zugänglich. Grundlegend: Stephan Büttner u. a. (Hg.):<br />
Handbuch Forschungsdatenmanagement, 2011 (www.forschungsdatenmanagement.de);<br />
Heike Neuroth u. a. (Hg.): Langzeitarchivierung von<br />
Forschungsdaten. E<strong>in</strong>e Bestandsaufnahme, 2012 (http://nbn-resolv<strong>in</strong>g.de/<br />
urn:nbn:de:0008-2012031401); A. Ball: Review of the State of the Art of the<br />
Digital Curation of Research Data (2010), http://opus.bath.ac.uk/19022/2/<br />
erim1rep091103ab12.pdf.<br />
3 Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen: Grundsätze zum Umgang<br />
mit Forschungsdaten (2010), http://www.allianz<strong>in</strong>itiative.de/de/handlungsfelder/forschungsdaten.<br />
4 E<strong>in</strong> Beleg ist die Entschließung der 13. Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz<br />
am 20.11.2012 <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen: Hochschule im digitalen<br />
Zeitalter: Informationskompetenz neu begreifen – Prozesse anders<br />
steuern. http://www.hrk.de/uploads/tx_szconvention/Entschl._Informationskompetenz_f<strong>in</strong>al_20_11.pdf.<br />
5 http://www-ik.fzk.de/KASCADE/; http://de.wikipedia.org/wiki/KASCA-<br />
DE-Grande.<br />
6 Siehe Anmerkung 2.<br />
7 Der Verfasser dankt Herrn Prof. Ra<strong>in</strong>er Polley (Archivschule Marburg) für<br />
e<strong>in</strong>e entsprechende Auskunft.<br />
<strong>Archivar</strong> 66. Jahrgang Heft 02 Mai <strong>2013</strong>