Zeitschr. 1+2/2002 - SVG Koblenz
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Arbeits- und Sozialrecht<br />
und meist ausgabenträchtige Instrumente<br />
der Familienförderung zu präsentieren.<br />
Demgegenüber sind bisher<br />
die Kirchen weniger pointiert an die Öffentlichkeit<br />
getreten. Doch jüngst hat<br />
sich auch das Zentralkomitee der deutschen<br />
Katholiken in einer am 27. Juni<br />
veröffentlichten Erklärung zur Bundestagswahl<br />
an die Öffentlichkeit gewandt<br />
und „eine spürbare Umverteilung der<br />
Lasten ... zugunsten von Eltern und<br />
eine Neuregelung des Familienlastenausgleichs“<br />
gefordert, damit „die Erziehung<br />
von mehreren Kindern nicht zu einem<br />
Armutsrisiko“ werde.<br />
Diese Position scheint inzwischen<br />
die gesellschaftspolitische Mehrheitsmeinung<br />
zu sein. Sie hat zudem neue<br />
Nahrung erhalten durch den sogenannten<br />
„Wiesbadener Entwurf“ für<br />
eine familienpolitische Strukturreform<br />
des Sozialstaats, die der Heidelberger<br />
Sozialrichter Dr. Jürgen Borchert für die<br />
hessische Landesregierung erarbeitet<br />
hat. Eine zentrale These Borcherts ist,<br />
dass die Familien in Deutschland systematisch<br />
benachteiligt werden. Für die<br />
Charakterisierung dieses Zustands findet<br />
er so drastische Begriffe wie die<br />
„Transferausbeutung der Familien“ und<br />
die „Deklassierung der Familien“. Auf<br />
etwa 100 Seiten diskutiert er, wie viele<br />
gesetzliche Regelungen Familien gegenüber<br />
Kinderlosen benachteiligen.<br />
Förderung undurchsichtig<br />
Zutreffend ist, dass die deutsche<br />
Familienpolitik intransparent und unsystematisch<br />
ist. Familienpolitische<br />
Komponenten gibt es in einer Vielzahl<br />
von Steuer- und Sozialgesetzen. Ansatzpunkte<br />
der Familienförderung<br />
finden sich sowohl auf der Einnahmenseite<br />
(z. B. Kinderfreibeträge und<br />
Ausbildungsfreibeträge in der Einkommensbesteuerung,<br />
kostenlose Familien-Mitversicherung<br />
in der gesetzlichen<br />
Krankenversicherung) als auch<br />
auf der Ausgabenseite (z. B. Wohngeld,<br />
Bauförderung, BAföG und Kindergeld).<br />
Die Finanzierung der Leistungen<br />
erfolgt über Beiträge zu den<br />
sozialen Sicherungssystemen, über<br />
direkte Steuern wie die progressive<br />
Einkommensteuer und verbrauchsbezogene<br />
Steuern wie die Umsatzsteuer<br />
und die „Ökosteuer“.<br />
Zudem sind die Zuständigkeiten<br />
zersplittert, da eine Vielzahl von Ressorts<br />
damit befasst ist und sie auf verschiedenen<br />
föderalen Ebenen angesiedelt<br />
sind. Die allokativen und vor allem<br />
auch distributiven Ergebnisse der deutschen<br />
Familienpolitik sind deshalb –<br />
vorsichtig formuliert – unklar. Niemand<br />
weiß genau, ob in der Summe die<br />
gewollten Umverteilungsziele erreicht<br />
werden und mit welchen allokativen<br />
Verzerrungen (z. B. negativen Arbeitsanreizen<br />
und Wachstumseffekten) sie<br />
verbunden sind. Zudem wird mehr<br />
Bürokratie geschaffen als notwendig.<br />
Insofern ist dem Grundtenor des<br />
„Wiesbadener Entwurfs“ zuzustimmen,<br />
dass eine Reform des Familienleistungsausgleichs<br />
oder der Familienpolitik<br />
im allgemeinen überfällig ist.<br />
Allerdings muss man die Sichtweise<br />
Borcherts, der letztlich mindestens<br />
die vollständige Sozialisierung der<br />
Kosten von Kindern fordert und erst<br />
jenseits dieser Grenze von Familienförderung<br />
spricht, aus mindestens zwei<br />
Gründen relativieren:<br />
Zum einen summieren sich die<br />
staatlichen Leistungen für Familien mit<br />
Kindern zu einem stattlichen Betrag,<br />
und sind keineswegs eine vernachlässigbare<br />
Größe. Die Deutsche Bundesbank<br />
hat in ihrem Monatsbericht vom<br />
April <strong>2002</strong> eine systematische Zusammenstellung<br />
aller familienpolitischen<br />
Leistungen vorgenommen und sie für<br />
das Jahr 2000 auf eine Summe von<br />
rund 150 Mrd. Euro oder etwa 7,5 Prozent<br />
des Bruttoinlandsprodukts beziffert.<br />
Seit 1992 haben sich diese Leistungen<br />
um 31 Prozent oder rund 3,5<br />
Prozent pro Jahr erhöht. Sie sind damit<br />
deutlich stärker gestiegen als die<br />
Staatsausgaben und das Bruttoinlandsprodukt.<br />
Anders als die Bundesbank hat das<br />
Kieler Institut für Weltwirtschaft auch<br />
eine Kinderkosten-Rechnung durchgeführt.<br />
Die Kosten summierten sich im<br />
Jahr 2000 danach auf rund 360 Mrd.<br />
Euro. Somit errechnet sich eine öffentliche<br />
Förderquote (brutto) von etwa 45<br />
Prozent. Berücksichtigt man, dass die<br />
Familien mit ihren Steuern und Beiträgen<br />
an der Finanzierung der Leistungen<br />
beteiligt sind, reduziert sich die<br />
Förderquote (netto) auf etwa ein Drittel.<br />
Vor diesem Hintergrund ist zum anderen<br />
zu fragen, ob es wirklich unter<br />
ordnungspolitischen Gesichtspunkten<br />
geboten ist, sämtliche Kinderkosten zu<br />
sozialisieren, sprich die Familien mit<br />
Kindern komplett von diesen Kosten zu<br />
entlasten. In einer freiheitlichen Gesellschafts-<br />
und Wirtschaftsordnung ist<br />
die Entscheidung, Kinder zu bekommen<br />
und aufzuziehen, zunächst einmal<br />
der Privatsphäre zuzuordnen. Ehepartner<br />
oder Paare in vergleichbaren Lebensgemeinschaften<br />
entscheiden sich<br />
in aller Regel ganz offensichtlich in<br />
Kenntnis der finanziellen Konsequenzen<br />
für Kinder. Dies tun sie, weil sie die<br />
privaten Nutzen (Freude an Kindern,<br />
Bereicherung des Lebens etc.) ganz<br />
offensichtlich höher bewerten als die<br />
Kosten.<br />
Auch ist denkbar, dass jemand in<br />
der Hoffnung, Kinder bekommt, um im<br />
Alter in der Familie gepflegt zu werden,<br />
so wie heute viele junge Menschen die<br />
Pflege ihrer Eltern innerhalb der Familie<br />
organisieren. In diesem Fall wäre der<br />
Kinderwunsch das Ergebnis eines rein<br />
privaten „Investitionskalküls“. Aus diesem<br />
Blickwinkel schießt die Forderung<br />
nach einer vollständigen Übernahme<br />
der Kinderkosten durch den Staat über<br />
das Ziel eines ordnungspolitisch vertretbaren<br />
Familienleistungsausgleichs<br />
hinaus.<br />
Anders sieht es aus, wenn man Familienpolitik<br />
(auch) als Bevölkerungspolitik<br />
versteht. In der Tat werden in<br />
Deutschland weniger Kinder geboren<br />
als zum Erhalt der Bevölkerung mittelund<br />
langfristig notwendig wären. Die<br />
einschlägigen Bevölkerungsprognosen<br />
gehen selbst bei einer nicht unbeachtlichen<br />
Nettozuwanderung in<br />
den nächsten 50 Jahren von einer<br />
schrumpfenden Bevölkerung aus, die<br />
zudem im Durchschnitt immer älter<br />
wird. Diese Entwicklung bringt unsere<br />
nach dem Umlageverfahren organisierten<br />
sozialen Sicherungssysteme<br />
bereits jetzt in arge finanzielle Schwierigkeiten.<br />
Die Versorgungsniveaus<br />
müssten sinken und/oder die Beitragssätze<br />
kräftg steigen.<br />
Nur vor diesem Hintergrund hätte<br />
der Staat ein legitimes Interesse, durch<br />
materielle Anreize das Aufziehen von<br />
Kindern finanziell attraktiver zu<br />
machen, also Familien zu ent- und<br />
Kinderlose zu belasten, und zwar<br />
strenggenommen so lange, bis eine<br />
bevölkerungsstabilisierende Geburtenrate<br />
erreicht ist. Dies sollte man aber<br />
dann nicht mehr Familienpolitik, sondern<br />
Bevölkerungspolitik nennen.<br />
Allerdings liefert die empirische Forschung<br />
bisher keinen Nachweis für die<br />
<strong>SVG</strong>R 9+10/<strong>2002</strong> 23