pdf (1104 KB) - Landesmedienzentrum Baden-Württemberg
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Der beredte Außenseiter - Wolfgang Neuss<br />
Vereinnahmen läßt sich das kabarettistische Urgestein Wolfgang Neuss, der Kabarettist<br />
mit der veritablen Metzgerlehre, nicht. Er gehört zu Berlin, die Stadt zu ihm: Der<br />
Exzentriker ohne Beispiel mischt sich nicht nur nebenbei ein, seine Nachrichten über das<br />
geteilte Deutschland lassen die Medien erzittern. Er ist ein Verfolger und Verfolgter, ein<br />
messianischer Eulenspiegel und ein salbadernder Guru. Er hat bis zu seinem Tod im Mai<br />
1989 nie die Bühne verlassen, auch nicht als zahnloser Aussteiger, als Kiffer und Fixer,<br />
der sich am Schluß seines Lebens dem Kulturbetrieb in gezielter masochistischer<br />
Provokation verweigert und von Sozialhilfe lebt und dies auch will. Er sympathisiert mit<br />
einer linken SPD, die es nicht gibt, wirbt 1965 für Willy Brandt im Wahlkampf und<br />
empfiehlt zugleich die DFU mit der Zweitstimme zu bedenken. Neuss liebt das<br />
Anarchische und überprüft sich und das System in allen Ecken und Nischen auf<br />
Glaubwürdigkeit. Im Berliner Abend verrät der Clown 1962 in einer privaten Anzeige, wer<br />
der „Halstuch“-Mörder in der Fernsehserie ist. Das Fernsehpublikum von West-Berlin tobt,<br />
die Presse ebenfalls. Es gibt Drohungen an die Adresse des deutschen Nonkonformisten,<br />
den unnachahmlichen Schnelldenker und Schnellsprecher, den Akrobaten der<br />
verwegenen und kruden Assoziation. Neuss - und dieses Dokument hat verpflichtenden<br />
Charakter – demontiert 1983 in einer Talk-Show des SFB den Regierenden Bürgermeister<br />
von Berlin und zukünftigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.<br />
Außerlich gezeichnet vom Abstieg in die soziale Randzone, vollführt Wolfgang Neuss hier<br />
in knapp bemessenen Sendeminuten - wild, exzentrisch, naiv und zudringlich-die verbale<br />
Ausbeinung des Politikers. Gemeinplätze des politischen Jargons desavouiert der<br />
Zahnlose, rhetorische Staffagen des Bürgermeisters zertrümmert der furiose Künstler und<br />
Kabarettist in einer wilden Kür. Nummerntheater und gelebtes Bekenntnis vermischen<br />
sich beispiellos. Der ins Fernsehen gerufene Clown holt aus, trifft sie alle noch mal, die<br />
Schönredner und Möchtegerns. Der Bogen, den Neuss gespannt hat, ist mit Pfeilen<br />
bestückt, die die Heuchler und Bigotten treffen.<br />
Im Jüngsten Gerücht, einer Solo-Nummer über Gott und die Welt, vor allem aber über<br />
Bonner und deutsch-deutsches Getümle, demonstriert Wolfgang Neuss ab Dezember<br />
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