pdf (1104 KB) - Landesmedienzentrum Baden-Württemberg
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bekennt sich zu seinen politischen Schwächen und hofft, vor diesem seinem Staat Gnade<br />
zu finden.<br />
Beichte des Staatsbürgers<br />
Herr, im Lichte Deiner Wahrheit erkenne ich, daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und<br />
Werken. Ich soll Dich meinen Staat und Herrn über alles lieben, aber ich habe mich selbst mehr<br />
geliebt als Dich. Du hast mich zu Deinem Diener gemacht, aber ich habe die Zeit vertan, die Du<br />
mir anvertraut hast. Du hast mir Gesetze gegeben, sie zu lieben wie mich selbst, aber ich<br />
erkenne, wie ich versagt habe in Hochmut und Eigenmächtigkeit meines Geistes. Darum<br />
komme ich zu Dir und bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Staat, aber verwirf mich nicht.<br />
Ich weiß keine andere Zuflucht, als Dein unergründliches Erbarmen. Verfolge mich wegen<br />
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener,<br />
Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt, durchsuch mein Haus mit Maschinenpistolen<br />
bei Gefahr im Verzug, nimm mich vorläufig fest und verhäng über mich die Präventivstrafe der<br />
Kontaktsperre auf daß ich dreißig Jahre lang kein Lebenszeichen von mir gebe, verurteile mich<br />
in einem Schnellverfahren mit gefälschten Beweisen und ohne Anwälte meines Vertrauens,<br />
bestrafe diejenigen, die sich für meine Haftbedingungen und meinen Prozeß interessieren,<br />
insbesondere aber jene, die die Öffentlichkeit aufzuklären versuchen, wie mich selbst,<br />
unterrichte alle Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten, damit die Welt erfahren möge,<br />
daß ich gesündigt habe wider Deinen Geist, aber ich bitte Dich: Vergib mir alle meine Sünden.<br />
Ich glaube an den Staat, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden und an die<br />
freiheitlich demokratische Grundordnung, unser unerklärliches Gesetz, empfangen vom<br />
internationalen Finanzkapital, geboren vom parlamentarischen Rat, gelitten unter Max<br />
Reichmann und der außerparlamentarischen Opposition, gekreuzigt, gestorben und begraben<br />
vom deutschen Bundestag, niedergefahren in die Massenmedien von dannen sie kommen wird,<br />
zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an das Kapital, die freie Marktwirtschaft, den<br />
deutschen Bundestag, die Gemeinsamkeit der Demokraten, die Bundesanwaltschaft, das<br />
Bundeskriminalamt, den Bundesverfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den<br />
Bundesgrenzschutz, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen. Schmidt<br />
erbarme Dich unser, Kohl erbarme Dich unser, Strauß erbarme Dich unser. Ehre sei dem Staat<br />
in Bonn und Friede auf Erden und egal wie es den Menschen geht, Halleluja, halleluja, halleluja!<br />
Peter O. Chotjewitz, 1977 150<br />
Im Bundestag geht im Herbst 1977 alles drunter und drüber. Im Parlament dabattieren am<br />
29. September die Abgeordneten ein Gesetz über die zeitlich begrenzte „Kontaktsperre“<br />
für inhaftierte Terroristen. Bereits am folgenden Tag stimmt das Hohe Haus der Vorlage<br />
zu. Der Disput zwischen den Befürwortern und Gegnern der Vorlage spiegelt die<br />
explosive Stimmung wider, es herrscht ein Klima der Unterstellung und wechselseitigen<br />
Verunglimpfung. Abwägen der Argumente ist nicht gefragt. Aus der Distanz von rund<br />
zwanzig Jahren hat der Schlagabtausch etwas Gespenstisches, ist selbst Teil eines<br />
Cabaret macabre.<br />
150Chotjewitz, Peter O., in: Boehnecke, Heiner u.a., Nicht heimlich und nicht kühl, 1977, S. 38.<br />
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