Diplomarbeit - Institut für Germanistik
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Inhaltsverzeichnis<br />
1 Einleitung ...................................................................................................... 3<br />
2 Heimatbegriff außerliterarisch ....................................................................... 5<br />
2.1 Heimat im Wörterbuch .......................................................................... 5<br />
2.2 Räumliche und soziale Bedingungen .................................................... 6<br />
2.3 Heimat als Utopie.................................................................................. 8<br />
3 Heimatliteratur..............................................................................................13<br />
3.1 Heimatkunstbewegung.........................................................................14<br />
3.2 Blut-und-Boden-Literatur......................................................................17<br />
3.3 Heimatroman........................................................................................18<br />
3.4 Gattungsproblematik ............................................................................19<br />
4 Anti-Heimat-Literatur ....................................................................................20<br />
4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945.......................................20<br />
4.2 1960er & 1970er Jahre ........................................................................22<br />
4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur....................................................25<br />
4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur ................................26<br />
4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence..............................................28<br />
5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv ..............................................................34<br />
5.1 Exkurs: Funktion von Motiven <strong>für</strong> die Literatur .....................................34<br />
5.2 Heimkehrmotiv .....................................................................................37<br />
6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fasching“ von Gerhard Fritsch ....42<br />
6.1 Späte Anerkennung .............................................................................42<br />
6.2 Heimkehr eines Deserteurs..................................................................44<br />
6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs...........51<br />
7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein.“ –<br />
„Der Emporkömmling“ von Franz Innerhofer................................................54<br />
7.1 Teil vier einer Trilogie?.........................................................................54<br />
7.2 Heimkehr als letzter Ausweg................................................................58<br />
8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von Robert Menasse.....................66<br />
8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman................................................66<br />
8.2 Heimkehr als Regression .....................................................................68<br />
1
9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von Peter Zimmermann...........77<br />
9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans.......................................................77<br />
9.2 Suche nach der Stille ...........................................................................78<br />
10 Funktionen des Heimkehrmotivs ..................................................................87<br />
10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs.................................89<br />
10.2 Heimat – eine Utopie?..........................................................................96<br />
10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?...............................100<br />
10.4 Ausblick..............................................................................................102<br />
11 Bibliographie ..............................................................................................104<br />
11.1 Primärliteratur.....................................................................................104<br />
11.2 Sekundärliteratur................................................................................104<br />
11.2.1 Rezensionen ...........................................................................112<br />
11.2.2 Internet ....................................................................................114<br />
Anhang............................................................................................................115<br />
Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007..............................................115<br />
Abstract......................................................................................................120<br />
Lebenslauf .................................................................................................122<br />
2
1 Einleitung<br />
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Werken eines Genres, das mittlerweile<br />
beinahe vollständig von der Bühne der österreichischen Literatur verschwunden<br />
ist. Die Anti-Heimatliteratur beziehungsweise Anti-Heimat-Literatur<br />
durfte sich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts über ihre größten<br />
Erfolge freuen. Mittlerweile ist der Begriff mit einer Aura des Antiquierten und<br />
Unzeitgemäßen behaftet und wird meist nur in abwertender Absicht verwendet.<br />
Dabei nimmt die Anti-Heimat-Literatur eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste<br />
Position in der österreichischen Gegenwartsliteratur ein. Anti-Heimat-<br />
Literatur hat in hohem Ausmaß auf historische und aktuelle politische und gesellschaftliche<br />
Entwicklungen in Österreich Bezug genommen und diese kritisch<br />
beleuchtet. Diese Arbeit soll auch ein Beitrag dazu sein, dass dieses Genre<br />
nicht völlig in Vergessenheit gerät.<br />
Im Zentrum der Arbeit steht das Heimkehrmotiv, das sich auf den ersten Blick<br />
nicht unbedingt in Verbindung zur Anti-Heimat-Literatur bringen lässt. Denn tatsächlich<br />
ist es das Fluchtmotiv, welches weitaus häufiger zur Verwendung herangezogen<br />
wird. Von dieser Beobachtung ausgehend soll untersucht werden,<br />
ob und wie das Heimkehrmotiv kompatibel zur Anti-Heimat-Literatur ist. Dabei<br />
ist es wichtig, auf die inhaltlichen und auf die formalen Besonderheiten des Motivs<br />
einzugehen. Motive haben generell eine Funktion als Inhalts- und auch als<br />
strukturierte und strukturgebende Einheiten, sie entfalten ihre Wirkung auf zwei<br />
verschiedenen Ebenen.<br />
Das Heimkehrmotiv findet sich in der Literaturgeschichte immer wieder in den<br />
unterschiedlichsten Kontexten. Als eine der ältesten und bekanntesten Heimkehrergeschichten<br />
sei die Odyssee von Homer erwähnt. Darin und auch in vielen<br />
anderen Werken steht die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat im<br />
Vordergrund. Umgelegt auf das Genre der Anti-Heimat-Literatur stellt sich die<br />
Frage, wie sich diese Sehnsucht mit einer Gattung, die tendenziell eine kritische<br />
Haltung zur Heimat einnimmt, vereinbaren lässt. Eine Heimkehr in die Anti-<br />
Heimat kann nur schwer entsprechend den herkömmlichen Verläufen der klassischen<br />
Heimkehrergeschichten entsprechen. Deshalb soll in dieser Arbeit untersucht<br />
werden, ob sich <strong>für</strong> die Verwendung des Motivs in der Anti-Heimat-<br />
3
Literatur ein eigenes Schema definieren lässt. Eine rein textimmanente Interpretation<br />
würde jedoch zu kurz greifen. Deshalb steht zu Beginn der Arbeit ein theoretischer<br />
Teil, der dazu beitragen soll, möglichst viele relevante Aspekte in die<br />
Analyse einzubringen. Zuallererst ist es notwendig, auf die Aspekte Heimat und<br />
Identität einzugehen, da diese in enger Verbindung zum Heimkehrmotiv stehen<br />
und auch wichtige Themen in der Anti-Heimat-Literatur sind. Zu diesem Zweck<br />
werden in Kapitel zwei verschiedene Konzepte zum Thema Heimat präsentiert<br />
und zueinander in Beziehung gesetzt.<br />
Der Heimatbegriff unterzog sich im Laufe der Zeit einem vielfachen Wandel und<br />
wurde leider sehr oft auch zu ideologischen Zwecken missbraucht. Ein Wandel<br />
des Heimatbegriffes auf gesellschaftlicher Ebene findet immer auch eine Entsprechung<br />
in der Literatur, da diese wesentlich von aktuellen Entwicklungen<br />
beeinflusst wird und diese auch widerspiegelt. Diese Verbindung wird versucht<br />
in Kapitel drei, welches sich mit der Heimatkunstbewegung, der Blut-und-<br />
Boden-Literatur und dem Heimatroman der Nachkriegszeit beschäftigt, nachzuzeichnen.<br />
Erst aus dem Verständnis der problematischen und auch missbräuchlichen<br />
Verwendung des Begriffes in der Literatur kann sich das Verständnis<br />
<strong>für</strong> die Entstehung der Anti-Heimat-Literatur als spezifisch österreichisches<br />
Genre herausbilden. Kapitel vier schließlich widmet sich der Anti-Heimat-<br />
Literatur, skizziert deren Entwicklung und stellt ein umfassendes Konzept dazu<br />
vor. Den letzten Abschnitt des Theorieteils bildet Kapitel fünf, das sich mit Überlegungen<br />
zur Motivforschung und zum Heimkehrmotiv beschäftigt. Dieses Kapitel<br />
ist eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> eine fundierte Interpretation, welche in<br />
den darauf folgenden vier Abschnitten stattfindet. Es wird jeweils ein Werk pro<br />
Kapitel unter Einbeziehung von Forschungs- und Rezeptionsgeschichte genauer<br />
analysiert. Die ausgewählten Werke spannen einen zeitlichen Bogen von den<br />
1960er Jahren bis in die Gegenwart und repräsentieren jeweils verschiedene<br />
Phasen der Anti-Heimat-Literatur. Im abschließenden Kapitel zehn werden die<br />
Erkenntnisse der Einzelanalysen zusammengefasst, anhand konkreter Leitfragen<br />
zueinander in Beziehung gebracht und zu Grundaussagen über das Heimkehrmotiv<br />
in der Anti-Heimat-Literatur formuliert.<br />
4
2 Heimatbegriff außerliterarisch<br />
Betrachtet man den Begriff „Heimat“ aus diachroner Sicht, so lässt sich unschwer<br />
erkennen, dass dieser Terminus im Laufe der Zeit einem vielfältigen<br />
Wandel unterzogen wurde. Rüdiger Görner etwa bezeichnet in diesem Zusammenhang<br />
Heimat als „chamäleonhaftes Gebilde“ 1 . Im Rahmen der Arbeit wird<br />
der Wandel des Heimatbegriffs ab dem Aufkommen der Heimatkunstbewegung<br />
untersucht. Mit dieser Strömung lässt sich eine zunehmende ideologische Aufladung<br />
des Begriffes feststellen, die wesentliche Auswirkungen bis in die Gegenwart<br />
zeigt und Voraussetzung <strong>für</strong> das Verständnis der Entwicklung, die in<br />
Österreich gegen Ende der 1960er Jahre einsetzt, ist. Abseits der Literatur war<br />
das Thema Heimat ab den 1970er Jahren wieder sehr gefragt. Zahlreiche Publikationen<br />
beleuchteten die Thematik aus psychologischer, irrationaler, territorialer,<br />
historischer, sozialer, kultureller, biologischer, anthropologischer, ideologischer<br />
oder nostalgischer Sicht und trugen zur Renaissance eines Begriffes, der<br />
Ende des 18. Jahrhunderts bereits als veraltet galt, bei. 2 Einen Überblick über<br />
einige wichtige Theorien soll dieses Kapitel geben. 3<br />
2.1 Heimat im Wörterbuch<br />
Das Wort „Heimat“ existiert nur im deutschen Sprachraum und lässt sich<br />
schwer in andere Sprachen übersetzen. 4 „Heimat“ leitet sich von den mittelhochdeutschen<br />
Wörtern „heimuot(e)“, „heimōt(e)“, „heimōde“ und „heimüete“<br />
ab. Die althochdeutschen Entsprechungen lauten „heimōti“, „heimuoti“,<br />
„eimōdi“. Die damalige Bedeutung war ungefähr „Stammsitz“. Das Wort war ur-<br />
1<br />
Görner, Rüdiger: Einführendes. Oder: Verständigung über Heimat. In: Ders. (Hg.): Heimat im<br />
Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992, S.<br />
11 – 14, S. 14.<br />
2<br />
Vgl. Polheim, Karl Konrad: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />
Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 15 – 21, S. 15 –<br />
16.<br />
3<br />
Eine ausführliche, wenn auch mittlerweile etwas veraltete, Zitatensammlung zum außerliterarischen<br />
Heimatbegriff gibt Müller. Vgl. Müller, Carola: Der Heimatbegriff. Versuch einer Anthologie.<br />
In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />
Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 207 – 256.<br />
4<br />
Vgl. Bienek, Horst: Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch? In: Ders. (Hg.):<br />
Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München: Hanser 1985, S. 7- 8, S. 7.<br />
5
sprünglich ein Neutrum. 5 Jakob und Wilhelm Grimm definieren Heimat als „das<br />
land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt<br />
hat“ 6 , sie merken ferner an, dass „selbst das elterliche haus und besitzthum“<br />
7 so heißen können.<br />
2.2 Räumliche und soziale Bedingungen<br />
Heimat umschrieb also zuerst einen konkreten Raum, welchem der Mensch zugeordnet<br />
ist. Dieses Territorium ist Identifikations-, aber auch Schutz- und Aktionsraum:<br />
„Das Territorium als ein konkreter und selbst geschaffener Raumausschnitt<br />
mit fließenden Grenzen ist also gewissermaßen die conditio sine qua<br />
non zum Ablauf der Territorialität, die die Bedürfnisse Sicherheit, stimulierende<br />
Aktivität und Identifikation befriedigt.“ 8 Heimat darf aber keineswegs als ein rein<br />
geographisches Phänomen definiert werden, denn die Befriedigung der oben<br />
genannten Bedürfnisse ist Teil des menschlichen Sozialisationsprozesses, der<br />
unter spezifischen kulturellen Bedingungen stattfindet. Das räumliche Element<br />
ist dabei eine Voraussetzung. 9<br />
Andrea Bastian nähert sich in ihrer umfassenden Untersuchung dem Heimatbegriff<br />
von unterschiedlichen Seiten. Dabei trifft sie eine wesentliche Unterscheidung<br />
zwischen räumlicher und sozialer Kategorie. Erstere wird definiert als<br />
Raum im Sinne von Wohnraum und/oder Landschaft, also als Territorium im<br />
Sinne von Greverus. Der Territoriumsbegriff erstreckt sich hier von kleinen Einheiten<br />
wie dem Haus, bis hin zu einer (regional-)geographischen Ebene und<br />
kann sich auch auf einen Staat beziehen. Es lässt sich nachweisen, dass das<br />
menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, als ein zentrales Element von<br />
Heimatgefühl, durch Raumgebundenheit befriedigt wird. Territorialität ist eine<br />
5<br />
Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar<br />
Seebold. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002, S. 402.<br />
6<br />
Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 10. München: dtv 1984, S. 866.<br />
7<br />
A. a. O.<br />
8<br />
Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen.<br />
Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 25.<br />
9<br />
Vgl. Prahl, Eckhart: Das Konzept „Heimat“. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen der<br />
70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke Martin Walsers. Frankfurt/Main: Peter<br />
Lang 1993, S. 16.<br />
6
anthropologische Konstante. 10 Dies bestätigt auch Greverus, die es als absolut<br />
notwendig erachtet, dass sich der Mensch aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet<br />
und dadurch zur Heimat macht. Dieses Territorium wird in weiterer Folge<br />
zum soziokulturellen Bezugsraum, in dem Identität erfahrbar wird. Der Raum ist<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> materielle Existenzsicherung und gesellschaftliche Integri-<br />
tät. 11<br />
Die soziale Kategorie benennt Bastian mit dem Terminus „Gemeinschaft“ und<br />
subsumiert darunter auch gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Aspekte wie<br />
etwa Traditionen und Rituale. 12<br />
Eine Reduzierung des Heimatbegriffs auf die territoriale Komponente greift also<br />
zu kurz. Unwidersprochen benötigt der Mensch einen konkreten Raum, der Sicherheit,<br />
Identität, aber auch Stimulation bereitstellt, ohne die soziale Komponente<br />
ist der Heimatbegriff jedoch zu kurz gefasst. Erst durch soziale Beziehungen<br />
und Interaktionen erhält der geographische Raum die nötigen emotionalen<br />
Bindungen. 13 Eine gelungene Primärsozialisation bedeutet stabile, positive<br />
emotionale Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen, die Grundlage der<br />
späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Doch nicht nur die Primärsozialisation<br />
ist ausschlaggebend <strong>für</strong> das Entstehen eines Heimatgefühls, auch nachfolgende<br />
Sozialisationsinstanzen, von der Schule über den Freundeskreis bis<br />
hin zum Berufsleben sind von konstitutiver Bedeutung. Räumliches und soziales<br />
Element dürfen also nicht als voneinander getrennt betrachtet werden:<br />
Das Territorium dient gleichzeitig der sozialen Bindung wie der sozialen<br />
Distanzierung. [...] Ein gesichertes Territorium, auf das man immer<br />
wieder zurückkehren kann, mit seinen verschiedenen Funktionsorten<br />
und Ruhepunkten [...] dient der Kanalisierung des eigenen<br />
Verhaltens. [...] Soziologisch gesehen ist jedes Territorium sozusagen<br />
Interaktionsraum. Es erweist sich als soziokultureller Bezugsraum,<br />
in dem Identität [...] erfahrbar wird. 14<br />
Greverus betont die Wechselwirkung zwischen der Gruppe und den einzelnen<br />
Individuen: „Identität ist ein reziprokes Verhältnis zwischen den Menschen eines<br />
10 Vgl. Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen<br />
Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Max Niemeyer 1995, S. 49<br />
– 55.<br />
11 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979, S. 28 – 32.<br />
12 Vgl. Bastian 1995, S. 25.<br />
13 A. a. O., S. 37 – 40.<br />
14 Bastian 1995, S. 71.<br />
7
Raumes: die Gruppe gibt dem Einzelnen Identität und die Einzelnen bestätigen<br />
die Identität der Gruppen.“ 15 Das Zusammenwirken von räumlicher und sozialer<br />
Kategorie evoziert im Menschen jene Emotionen, die man als Heimatgefühle<br />
oder Heimatverbundenheit bezeichnen kann: Geborgenheit, Sicherheit, Zugehörigkeit,<br />
Vertrautheit und Anerkennung. 16 Defizite können durch Bindung an<br />
die Heimat kompensiert werden, wie Parin anmerkt. Für ihn hat „Heimat die Bedeutung<br />
einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche<br />
Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken…“ 17 Neben diesen<br />
positiven Emotionen kann die Bindung an den Lebensraum Heimat jedoch<br />
auch negative Auswirkungen auf das Individuum haben. In diesem Fall wird<br />
Heimat als Enge, Zwang und Gefangensein erlebt. 18 In der Anti-Heimat-<br />
Literatur etwa lässt sich tendenziell eine derartige negative Beschreibung der<br />
Heimat feststellen.<br />
2.3 Heimat als Utopie<br />
Heimat sei „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand<br />
war“ 19 , schreibt Ernst Bloch und kaum ein wissenschaftliches Werk oder ein Artikel<br />
zum Thema Heimat verzichten auf dieses Zitat. Meist steht es am Schluss<br />
der Ausführungen, ein Verweis auf die Schwierigkeit des Unterfangens, Heimat<br />
zu definieren. Nähert man sich dem Heimatbegriff von einer mehr philosophischen,<br />
denn kulturanthropologischen Seite, so muss man in der Romantik beginnen:<br />
„Wohin gehen wir?“ – „Immer nachhause!“, fragten und antworteten die<br />
Romantiker. In dieser Aussage manifestiert sich der Lauf des Lebens als ständige<br />
Suche nach Heimat.<br />
15 Greverus 1979, S. 57.<br />
16 Diese emotionalen Elemente sind anthropologische Grundbedürfnisse, die in jedem Menschen<br />
vorhanden sind. Vgl. Bastian 1995, S. 43 und S. 72.<br />
17 Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposium der<br />
Internationalen Erich Fried Gesellschaft <strong>für</strong> Literatur und Sprache in Wien zum Thema „Wieviel<br />
Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er.“ Mit einem Essay von Peter-Paul<br />
Zahl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1996, S. 18.<br />
18 Vgl. Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüche oder komplementäre<br />
Motivkonstellationen menschlichen Handelns? In: Geographie heute 100 (1992), S. 30<br />
– 44, S. 30 – 32.<br />
19 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Band 5. Kapitel 43 – 55. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp 1985, S. 1628.<br />
8
In einem Essay greift Bernhard Schlink eine Thematik auf, die Jean Améry bereits<br />
in den 1960er Jahren behandelt hat: „Wieviel Heimat braucht der<br />
Mensch?“, lautete der Titel von Amérys Essay. 20 Beide nähern sich dem Heimatbegriff<br />
von der Erfahrung des Exils, dem Gegenbegriff zur Heimat.<br />
Exil bedeutete ursprünglich eine räumliche Trennung von der Heimat durch Vertreibung<br />
oder andere Notsituationen, meist unfreiwillig. Améry war selbst ein<br />
Opfer der Judenvertreibung des Nationalsozialismus. Das Verlassen der Heimat<br />
geht immer einher mit der Erfahrung der Entfremdung, im Exil gelten andere<br />
Gesetze, denen sich der Exilant unterordnen muss. Schlink erweitert den<br />
Begriff des Exils zu einem metaphorischen. Für ihn ist das Exil eine Metapher<br />
<strong>für</strong> die Erfahrung der Entfremdung, die jedoch nicht an eine räumliche Komponente<br />
gebunden ist. 21 Die Erfahrung des Exils kann auch ohne räumliche Veränderung<br />
gemacht werden. Schlink nennt als Beispiele etwa die Angehörigen<br />
von Minderheiten oder auch Frauen, die sich in einer männerdominierten Gesellschaft<br />
wie im Exil fühlen. 22 Es gab eine Zeit, in der die Erfahrung des Exils<br />
<strong>für</strong> viele Intellektuelle durchaus prägend war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war<br />
Heimat ein belasteter Begriff, Exilanten des Krieges wurden von den Daheimgebliebenen<br />
oftmals als Vaterlandsverräter betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt war<br />
der Exilbegriff in intellektuellen Kreisen positiver besetzt als der Heimatbegriff,<br />
er signalisierte Weltoffenheit und Universalität. 23 Auch Améry weiß die Exilerfahrung<br />
durchaus zu schätzen, er betont die Bereicherungen und Chancen, die<br />
Öffnung der Welt, welche die Heimatlosigkeit bieten kann. 24<br />
Eine deutsche Umfrage ergab, dass Heimat <strong>für</strong> 31 Prozent der Befragten der<br />
Wohnort, <strong>für</strong> 25 Prozent die Familie, aber nur <strong>für</strong> elf Prozent das Land selbst ist.<br />
Aus diesem Ergebnis folgert Schlink, dass „das Land als Nation nach wie vor<br />
historisch diskreditiert ist, um den Platz der Heimat unverfänglicheren und au-<br />
20<br />
Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.):<br />
Jean Améry. Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S.<br />
86 – 117.<br />
21<br />
Vgl. Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 8 – 11.<br />
22<br />
A. a. O., S. 7.<br />
23<br />
A. a. O., S. 13 – 15.<br />
24<br />
Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 94.<br />
9
ßerdem näheren, überschaubareren, ausfüllbareren Orten zu überlassen.“ 25<br />
Durch die Kriegsschuld war die Nation als Heimat kein Thema mehr, wenn<br />
man an Heimat dachte, orientierte man sich an kleineren oder abstrakteren<br />
Begriffen. Diese Erfahrungen von Orten der Heimat werden jedoch erst aus der<br />
Distanz gemacht. Erst der Mangel macht die Bedeutung von bis dahin Selbstverständlichem<br />
klar: „Die Heimaterfahrungen werden gemacht, wenn das, was<br />
Heimat jeweils ist, fehlt oder <strong>für</strong> etwas steht, das fehlt.“ 26 Aus der Distanz sind<br />
es vor allem Erinnerungen und Sehnsüchte, die das Heimatbild ausmachen.<br />
Améry setzt Heimat mit Sicherheit gleich, das Exil evoziert ihn ihm das Gefühl<br />
des Torkelns über schwankenden Boden. 27 Ähnliches meint auch Schlink, wenn<br />
er vom Recht auf Heimat als elementarem Menschenrecht spricht, und sich dabei<br />
auf einen Ort bezieht, an dem der Mensch rechtlich anerkannt und geschützt<br />
leben und arbeiten, sowie Familie, Freunde, Erinnerungen und Sehnsüchte<br />
haben kann. 28 Für Schlink ist das Heimweh das eigentliche Heimatgefühl.<br />
Heimat manifestiert sich also nicht im Konkreten und ist folglich ein Nicht-<br />
Ort, eine Utopie: „Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerungen<br />
an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach dem, was<br />
vergangen und verloren ist [...] Heimat ist ein Ort nicht als der, der er ist, sondern<br />
als der, der er nicht ist.“ 29<br />
Auch Améry beschäftigt sich mit der Heimwehproblematik, in seinem Fall der<br />
Sehnsucht nach einer eigentlich verachtenswerten, nationalsozialistischen<br />
Heimat: „Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht<br />
war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher,<br />
neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen<br />
ist.“ 30<br />
Doch nicht nur <strong>für</strong> räumlich von ihrer Heimat getrennte Menschen ist Heimat eine<br />
Utopie. Auch wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang am selben Ort gelebt<br />
hat, ist dieser Ort als Heimat <strong>für</strong> ihn Utopie, denn dieser Ort beinhaltet nicht<br />
nur die Erinnerungen an konkrete vergangene Geschehnisse sondern dazu<br />
25<br />
Schlink 2000, S. 23.<br />
26<br />
A. a. O., S. 24.<br />
27<br />
Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 95 – 96.<br />
28<br />
Vgl. Schlink 2000, S. 47.<br />
29<br />
Schlink 2000, S. 33.<br />
30<br />
Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 102.<br />
10
noch alle vergangenen Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte und trägt somit<br />
die Utopien des gesamten Lebens. 31 Die Heimat der Vergangenheit, egal ob<br />
real oder von Träumen und Sehnsüchten dominiert, ist unwiederbringlich, „weil<br />
niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen<br />
Zeit ist.“ 32<br />
Somit erhält der Heimatbegriff auch <strong>für</strong> Améry einen utopischen Charakter: „Es<br />
gibt keine ´neue Heimat`. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer<br />
sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der<br />
Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit<br />
den Fuß auf den Boden zu setzen.“ 33 Auch <strong>für</strong> Schlink gibt es nur zwei<br />
Orte, denen er das Potential, Heimat zu vermitteln, zugesteht: „de[r] Ort der<br />
Geburt und de[r] Ort der Kindheit. Sie werden die Orte bleiben, an denen sich<br />
Heimatgefühl, Heimaterinnerung und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“ 34<br />
Améry und Schlink entwickeln ihre Thesen von ähnlichen Standpunkten aus:<br />
Améry aufbauend auf seinen eigenen Exilerfahrungen und Schlink auf einem<br />
metaphorischen Exilbegriff. Auch die Schlussfolgerungen der über drei Jahrzehnte<br />
auseinander liegenden Essays weisen starke Ähnlichkeiten auf: Heimat<br />
konstituiert sich durch Vergangenes, Erinnerungen, Projektionen und durch<br />
Mangel. Somit wird Heimat zu einer Utopie. Der Blick aus der Ferne in die Heimat,<br />
aus der Gegenwart in die Vergangenheit, wirkt oft verklärend. Einig sind<br />
sich beide Verfasser darin, dass ein geographisch definierter, überschaubarer<br />
Raum als Voraussetzung <strong>für</strong> das Entstehen von Heimatgefühl notwendig ist.<br />
Darin bestätigt sich einmal mehr die These von Greverus über Territorialität als<br />
anthropologische Konstante.<br />
Die Kindheit spielt in allen vorgestellten Konzepten eine wichtige Rolle. Besonders<br />
aus der Ferne betrachtet, erscheint die Welt der Kindheit oft als verklärte<br />
Idylle, deren Rückeroberung ein lohnenswertes Ziel darstellt. Selbst wenn die<br />
Kindheit nur ein Mindestmaß an Geborgenheit und Heimat geboten hat, aus<br />
31<br />
Vgl. Schlink 2000, S. 34.<br />
32<br />
Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 87.<br />
33<br />
A. a. O., S. 97 – 98.<br />
34<br />
Schlink 2000, S. 49 – 50.<br />
11
zeitlicher und räumlicher Distanz betrachtet, tendiert der Mensch zu einer positiveren<br />
Sicht der vergangenen Zeit. 35 Dass aber eine Rückkehr in die Welt der<br />
Kindheit nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Kindheit ist ein unwiederbringlicher<br />
Abschnitt im Leben des Menschen, durch die voranschreitende Zeit und<br />
die damit einhergehenden Veränderungen, sowohl der Umgebung, als auch<br />
des Menschen selbst, endet eine Rückkehr oft in Enttäuschung. Wohl aber wird<br />
in der Heimat der Kindheit der Grundstein <strong>für</strong> die menschliche Identitätsentwicklung<br />
gelegt. Eine Heimat zu haben, irgendwo daheim zu sein, ist ein elementares<br />
menschliches Bedürfnis. Wie sich die Suche nach Heimat beim Einzelnen<br />
gestaltet und wovon der Erfolg letzten Endes abhängt, lässt sich nicht verallgemeinern:<br />
„Heimat ist demnach kein festschreibbarer kollektiver Wert, sondern<br />
ein offenes System, das vom einzelnen Individuum im fortschreitenden Prozess<br />
der Identitätsfindung erworben und modifiziert wird.“ 36<br />
Ob tatsächlich die Kindheit als einzige Heimat bezeichnet werden kann, darf<br />
hinterfragt werden. Wahrscheinlicher ist schon die These, dass die Fähigkeit,<br />
sich aufgrund der in der Kindheit erworbenen Konzepte neue Lebensräume als<br />
Heimat anzueignen, eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> jeden Menschen ist. Speziell<br />
in der heutigen Gegenwart, die ein Höchstmaß an Mobilität bietet und auch<br />
verlangt, und vor dem Hintergrund immenser Migrationsbewegungen werden an<br />
das Heimatkonzept des modernen Menschen völlig neue Anforderungen gestellt.<br />
Die obigen Erörterungen zu außerliterarischen Heimatkonzepten bilden<br />
den Hintergrund <strong>für</strong> den zweiten, analytischen Teil dieser Arbeit. Sie sind bei<br />
der Analyse stets im Auge zu behalten. Das nächste große Kapitel widmet sich<br />
nun dem Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur, wobei der Schwerpunkt<br />
auf Österreich gelegt wird. Da Literatur immer auch die gesellschaftlichen und<br />
politischen Verhältnisse widerspiegelt und thematisiert, werden diese selbstverständlich<br />
miteinbezogen werden.<br />
35 Vgl. Fetscher, Iring: Heimatliebe – Brauch und Missbrauch eines Begriffes. In: Görner, Rüdiger<br />
(Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. München:<br />
Iudicium 1992, S. 15 – 35, S. 15 – 16.<br />
36 Prahl 1993, S. 37.<br />
12
3 Heimatliteratur<br />
Der Heimatbegriff ist quer durch alle Epochen der Literaturgeschichte vertreten.<br />
Man könnte etwa mit der Romantik beginnen, denn sie „bringt das Thema Heimat<br />
in seiner gängigsten literarischen Bedeutung hervor: Heimat als emotional<br />
aufgeladener Begriff, der mit Natur und ländlichem Leben zusammenhängt und<br />
Stimmungen wie Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Abgesichertheit<br />
assoziieren läßt.“ 37<br />
Im folgenden Abschnitt erfolgt eine Konzentration auf die jüngere Vergangenheit,<br />
konkret mit Beginn der Heimatkunstbewegung als erste den Heimatbegriff<br />
in der Literatur ideologisierende Strömung 38 , da hier die Grundsteine <strong>für</strong> das<br />
problematische Heimatverständnis der Anti-Heimat-Literatur gelegt wurden.<br />
Von der Heimatkunstbewegung war es nur ein kleiner Schritt zur nationalsozialistischen<br />
Blut-und-Boden-Literatur, und in weiterer Folge zum Heimatroman<br />
der Nachkriegszeit, der als Resultat einer Verweigerung der Aufarbeitung<br />
der Hitlerjahre gesehen werden kann. Nicht explizit eingegangen wird auf die<br />
Dorfgeschichte. Sie<br />
findet sich schon in den Formen der Idylle und setzt sich zu Beginn<br />
der 20. Jhs in der sogenannten ´Heimatkunst` und später in der<br />
´Blut-und-Boden`-Literatur des III. Reichs, unter anderen Vorzeichen<br />
in der sozialistischen Landliteratur, ja selbst im trivialen Heimat- und<br />
Bergroman der Romanheftserien fort. Sogar in den gegen die traditionelle<br />
Heimatdichtung gerichteten Ansätzen der Gegenwartsliteratur<br />
klingen Elemente der D[orf]G[eschichte] an. Eine exakte Begriffsbestimmung<br />
oder gar Abgrenzung gegen andere epische Formen der<br />
Dorfdichtung ist schwierig. 39<br />
Diese Gattung in ihren verschiedenen Spielarten hat zwar quer durch alle Genres<br />
Verbreitung gefunden, in Bezug auf die ideologische Aufladung des Hei-<br />
37<br />
Bastian 1995, S. 180.<br />
38<br />
Vgl. Charbon, Remy: Heimatliteratur. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />
Band 2. Berlin: de Gruyter 2000, S. 19 – 21, S. 20.<br />
39<br />
Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976, S. 20. Zur Ausprägung der Dorfgeschichte<br />
in der neueren österreichischen Literatur siehe auch Zeyringer, Klaus: Österreichische<br />
Literatur seit 1945. Überblicke – Einschnitte – Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001, S. 439 –<br />
448.<br />
13
matbegriffes aber keine wesentliche Rolle gespielt und ist somit <strong>für</strong> die vorliegende<br />
Arbeit von geringer Relevanz.<br />
14<br />
3.1 Heimatkunstbewegung<br />
Zeitlich verorten lässt sich die Heimatkunstbewegung in den beiden Jahrzehnten<br />
vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit einem Höhepunkt<br />
in den Jahren 1900 bis 1904. 40 Als einer der wichtigsten Vertreter dieser<br />
Strömung gilt, neben Friedrich Lienhard und Julius Langbehn, Adolf Bartels.<br />
Neben seinem Eintreten <strong>für</strong> die Heimatkunstbewegung (er war es auch der den<br />
Begriff Heimatkunst geprägt hat), kann er auch als Begründer einer völkischen,<br />
antisemitischen Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet werden. 41 Dieses<br />
Faktum sei deswegen gleich zu Beginn hervorgehoben, da es sehr schön darstellt,<br />
in welcher Ecke die Heimatkunstbewegung zu verorten ist. Als Antwort<br />
auf die Wirklichkeitsdarstellung des Naturalismus und Gegenbewegung zur<br />
Moderne gedacht, war die Heimatkunstbewegung darauf ausgerichtet, „die gesamte<br />
Kultur auf eine landschaftsbedingte und stammesorientierte Grundlage<br />
zu stellen.“ 42 Die Vertreter der Heimatkunstbewegung sahen die Einheit und<br />
Kultur des deutschen Volkes bedroht: „Wir verlangen [...] eine machtvolle<br />
Volkskunst <strong>für</strong> die Nation; voll Unerschrockenheit, Glut und Größe, mit würdigen<br />
Gegenständen, getragen von der Eigenart unserer Gaue, auf dem Boden unserer<br />
Landschaften, von der Kühnheit echten Deutschtums durchlodert…“ 43<br />
In der Heimatkunstbewegung manifestiert sich zum ersten Mal ein Denken und<br />
Agieren in Gegensatzpaaren, eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die gesellschaftliche<br />
Realität. Die Heimatkunstbewegung unterteilt in gute und böse, in gesunde und<br />
kranke Elemente. Die Großstadt fungiert als Ort der Dekadenz, als sozialer<br />
40<br />
Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie<br />
der Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett 1975, S. 13. Von 1900 – 1904 erschien<br />
auch die Zeitschrift „Heimat“, herausgegeben von Friedrich Lienhard und Adolf Bartels.<br />
41<br />
A. a. O. 1975, S. 40.<br />
42<br />
Rossbacher 1975, S. 13.<br />
43<br />
Wachler, Ernst, zit. n. Rossbacher 1975, S. 28.
Sumpf und als abzulehnendes Sinnbild <strong>für</strong> Industrialisierung. 44 Opposition<br />
gegen den technischen Fortschritt, sowie gegen die Wissenschaft und Intellektuelle<br />
stellen weitere Punkte im Programm der Heimatkunstbewegung dar.<br />
Heimatkunst war eine konservative Antwort auf die zunehmende Industrialisierung<br />
und Verstädterung der Moderne und der damit einhergehenden Zunahme<br />
der Komplexität des Lebens: „In den Gegensätzen von einer durch Normeinheit<br />
geschlossenen Gemeinschaft gegenüber einem durch Normenvielfalt charakterisierten<br />
städtisch-internationalen Weltbürgertum wurde Heimat als natürlich<br />
und authentisch gewachsene Zugehörigkeit Deutscher zu ihrer Nation gefei-<br />
ert.“ 45<br />
Die österreichische Variante der Heimatkunst bezeichnet Rossbacher als „Provinzkunst“.<br />
Zu den erfolgreichsten Vertretern dieser Strömung zählen Karl Heinrich<br />
Waggerl, Paula Grogger oder Richard Billinger, auch Peter Rosegger<br />
schrieb, zumindest phasenweise, im Sinne der Heimatkunstbewegung. Die<br />
österreichische Variante der Heimatkunst trat zeitlich etwas später auf und ist<br />
gekennzeichnet durch einen starken katholischen Akzent. 46<br />
Ein zentrales Begriffspaar in der Heimatkunst stellt die Unterscheidung von<br />
gesund und krank dar, wobei krank oft in der Komplementärform entartet verwendet<br />
wird. Wenn auch die Dichotomie gesund – krank nicht von der Heimatkunstbewegung<br />
in die Literatur eingeführt wurde, so ist doch die biologisierende<br />
Verwendung der Termini deren zweifelhafter Verdienst. 47 Der Dichter erhält<br />
als geistiger Führer und erzieherische Persönlichkeit die Aufgabe,<br />
das Volk in gesunde Bahnen zu leiten; die Poetisierung der Wirklichkeit<br />
gründet in einem ethischen Prinzip, sie verklammert die Elemente<br />
Volk, Stamm, Rasse, Nation, Heimat und Natur zu einem Ganzen,<br />
das – vordergründig betrachtet – im Bauerntum bereits verwirklicht<br />
ist. 48<br />
44<br />
Paradoxerweise agierten wichtige Vertreter der Heimatkunstbewegung von der ihnen verhassten<br />
Stadt Berlin aus, da sie dort in den Genuss der besten Produktions- und Distributionsbedingungen<br />
kommen konnten.<br />
45<br />
Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation.<br />
München: Iudicium 1999, S. 23.<br />
46<br />
Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Die Literatur der Heimatkunstbewegung um 1900. In: Plener, Peter/Zalan,<br />
Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der<br />
Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997, S. 109 – 120, S. 109 –<br />
111.<br />
47<br />
Vgl. Rossbacher 1975, S. 53.<br />
48<br />
Hein 1976, S. 112.<br />
15
Der gesunde Bauer steht in der Heimatkunst dem kranken Städter, Intellektuellen<br />
oder Fremden gegenüber. Wie eine Gesundung des deutschen Volkes zu<br />
geschehen habe, erklärt folgende Aussage des Heimatkunsttheoretikers Ernst<br />
Wachler: „Die Mittel, die die Gesundheit, Schönheit und Kraft der Deutschen<br />
aufs höchste steigern, können nur bestehen in der Reinigung des Volkstums,<br />
der Ausscheidung oder der Aufsaugung des Fremden, Vernichtung des Entarteten.“<br />
49 Entsprechend dieser Philosophie lässt sich als beliebtes Motiv in vielen<br />
Werken die Gesundung kranker Menschen beobachten. Hauptfigur ist dabei oft<br />
ein kranker, reicher, eventuell adeliger Mann, der von der Großstadt aufs Land<br />
zieht, in der Hoffnung dort gesund zu werden. Die Landschaft, die Kräfte des<br />
Volkstums und vielleicht noch ein hübsches, natürliches Mädchen bewirken die<br />
Genesung. 50 Sehr oft ist es auch ein Heimkehrer, der das Lob des Dorfes ausspricht<br />
und die Gegensätze zwischen Stadt und Land hervorhebt:<br />
16<br />
Die Konnotationen spielen in den Bereich des Wiedergewinnens, der<br />
schrittweisen Wiederaneignung von ehemals Gehabtem und Unverändertem.<br />
Längere Abwesenheit bringt zudem häufig die Jugendperspektive<br />
ins Bild. Wesentliche Komponenten eines so gesehenen<br />
Heimatdorfes sind: die Suggestion von Einheit und Geschlossenheit,<br />
aber ohne Enge; […] weiters Rauch, Herd, Nestwärme, Nahrung:<br />
das alles sind Attribute eines Ortes, an dem gut sein ist. 51<br />
In Anlehnung an die Unterscheidung, die Bastian getroffen hat, kann man den<br />
Heimatbegriff der Heimatkunst als primär räumlichen definieren. Der „Aspekt<br />
von Schollenverhaftetheit“ 52 steht im Vordergrund, der Bereich der Gesellschaft<br />
ist ausgeklammert, das Regionale und Dörfliche ist dem Sozialen vorgelagert:<br />
„Eine wahre Heimat hat der Mensch erst, wenn er Grundbesitz und insbesondere<br />
Landbesitz hat.“ 53<br />
Diese Verbindung von Heimatgefühl mit einer primär räumlichen Fixierung impliziert<br />
natürlich eine Ablehnung weniger stark verwurzelter Individuen. Fremden<br />
und Wandernden wird mit Misstrauen und Ablehnung begegnet. Wer von außerhalb<br />
kommt, also der „outgroup“ angehört, hat es schwer, sich in das festge-<br />
49 Wachler, zit. n. Rossbacher 1975, S. 54.<br />
50 Vgl. Rossbacher 1975, S. 54.<br />
51 Rossbacher 1975, S. 141.<br />
52 A. a. O. 1975, S. 106.<br />
53 Langbehn, Julius, zit. n. Rossbacher 1975, S. 108.
fahrene Gefüge der ländlichen „ingroup“ einzufügen. Territoriumsfremde müssen<br />
sich doppelt anstrengen, um Zugang zur alteingesessenen Dorfgemeinschaft<br />
zu erlangen. 54<br />
Im Gegensatz zur Ideologie der nationalsozialistischen Literatur legt die Heimatkunstbewegung<br />
ihren Schwerpunkt auf regionale Besonderheiten. Jede Region<br />
beziehungsweise jeder „Stamm“ soll mit seinen spezifischen Merkmalen in<br />
einem gesamtdeutschen Gebilde vertreten sein. Ziel ist es, „jedem Stamm seine<br />
Stufe im Akkord des deutschen Geisteslebens zuzuweisen“ 55 , die jeweiligen<br />
Regionen sollen in ihrer Gesamtheit die Zimmer des autarken „ganzen Hauses“<br />
Deutschland sein. 56 Die Verbundenheit aller Deutschen sollte durch die bewusste<br />
Einbeziehung auch der an den Rändern gelegenen Region gefördert<br />
werden. 57<br />
3.2 Blut-und-Boden-Literatur<br />
Die obige Einführung in das Programm der Heimatkunst lässt unschwer erkennen,<br />
dass hier die Grundlage <strong>für</strong> die Literatur der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie<br />
gelegt wurde. Schon die Verwendung von Wörtern, wie etwa<br />
„Entartung“, „Gau“, „Scholle“, etc. verweist auf die Nähe zum nationalsozialistischen<br />
Sprachgebrauch. Dementsprechend ist der Übergang von der<br />
einen in die andere Strömung ein fließender. Nach 1918, im Zuge einer allgemeinen,<br />
kriegsbedingten völkisch-patriotischen Haltung radikalisiert sich auch<br />
die Heimatkunstbewegung, anstelle von idyllisierten Außenseitern oder Dorforiginalen<br />
steht der Bauer in einer heroisierten Form im Mittelpunkt der Romane.<br />
Damit wurde die Heimatkunstbewegung endgültig zum Wegbereiter <strong>für</strong> die Blutund-Boden-Literatur<br />
der Nationalsozialisten. 58 Der Heimatbegriff, der in der<br />
Heimatkunst noch im Regionalen verhaftet war, soll auf den gesamten Staat<br />
ausgedehnt werden. Für die Nationalsozialisten ist die heimatliche Basis der<br />
Heimatkunst zu schmal. Hermann Löns, dessen Werk „Der Wehrwolf“ (1910)<br />
54 Vgl. Rossbacher 1975, S. 188.<br />
55 Rossbacher 1975, S. 50.<br />
56 Vgl. Rossbacher 1975, S. 111.<br />
57 Vgl. Strzelczyk 1999, S. 22.<br />
58 Vgl. Rossbacher 1975, S. 14.<br />
17
das Ende der Heimatkunst und den Beginn der Blut-und-Boden-Literatur markiert<br />
formuliert dies so: „Die Kunst, die nur Heimatkunst ist, ist kleiner Art; hohe<br />
deutsche Kunst ist alldeutsch.“ 59<br />
In der Blut-und-Boden-Literatur erreicht die Ideologisierung von Heimat ihren<br />
Höhepunkt. Elemente wie Heroisierung des Bauerntums und Abwertung der<br />
städtischen Unkultur werden beinahe unverändert von der Heimatkunst übernommen.<br />
3.3 Heimatroman<br />
Sowohl in der Heimatkunst, als auch in der Blut-und-Boden-Literatur des Nationalsozialismus<br />
war der Roman die mit Abstand häufigste formale Gattung.<br />
Noch Jahrzehnte nach Kriegsende erfreuten sich Heimatromane großer Beliebtheit.<br />
Der Heimatroman bedient sich gewisser Schemata, die mehr oder weniger<br />
stark variiert werden. Wesentlichste strukturelle Merkmale sind unreflektiertes<br />
lineares Erzählen über längere Zeitspannen, die Darstellung des ländlichen<br />
Raumes/Dorfes/Bauernhofes als geschlossener, gesellschaftsautarker<br />
Raum, ein weitgehender Verzicht auf psychologische Analysen, Addition und<br />
Kumulation von Schicksal, sowie starre ingroup-outgroup-Konstellationen. 60 In<br />
einem falschen Heimatverständnis liegen auch die Wurzeln des Chauvinismus<br />
begründet. Eine Identifikation mit einer (angepassten) Mehrheit, die sich hauptsächlich<br />
über räumliche Kriterien von anderen Gemeinschaften abgrenzt, bei<br />
gleichzeitigem schwach ausgeprägtem Selbstbewusstsein des Einzelnen, führt<br />
zu einer Angst gegenüber Fremdem, als deren unmittelbarer Ausdruck die Xenophobie<br />
gesehen werden kann. 61<br />
Es ist genau dieses Verständnis von Heimat, das in der traditionellen Heimatliteratur<br />
propagiert wird. Die Heimatliteratur lobt das beschränkte Leben des Einzelnen,<br />
nicht den individualisierten und emanzipierten Menschen. Das Thema<br />
einer gescheiterten Individualisierung wird oft mit dem Motiv des Heimkehrers<br />
59<br />
Löns, Hermann, zit. n. Rossbacher 1975, S. 126.<br />
60<br />
Vgl. Rossbacher, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 117 – 120.<br />
61<br />
Vgl. Frisch, Max: Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises.<br />
In: Ders.: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben und mit einem Nachwort<br />
versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 365 – 373, S. 371.<br />
18
verknüpft. Warnungen vor der Annahme individualisierender Attitüden werden<br />
durch die Bekehrung des Heimkehrers bestätigt. Durch ihr offensichtliches<br />
Scheitern in der Fremde beweist die Figur des Heimkehrers, dass jeglicher Versuch<br />
einer Emanzipation ein Irrweg ist. Nur in der (entindividualisierten) Schicksalsgemeinschaft<br />
eines Volkes (wobei es nicht wichtig ist durch welche Charakteristiken<br />
sich diese Gemeinschaft definiert) lässt sich Heimat finden. Aufbauend<br />
auf diesen Überlegungen lässt sich auch die Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit<br />
der Heimatliteratur erklären, denn Technik und Fortschritt werden als<br />
Hilfsmittel <strong>für</strong> Individualisierungsprozesse angesehen. 62<br />
3.4 Gattungsproblematik<br />
Als literaturwissenschaftlicher Terminus wird die Bezeichnung Heimatliteratur<br />
erst ab den 1970er Jahren verwendet. 63 Üblicherweise werden die Strömungen<br />
der Heimatkunstbewegung, der Blut-und-Boden-Literatur, sowie der Dorfgeschichte<br />
unter dem Sammelbegriff Heimatliteratur subsumiert. Charbon etwa<br />
definiert Heimatliteratur als „Sammelbegriff <strong>für</strong> Texte, in denen eine herkunftsbezogene<br />
Perspektive vorherrscht und eine zumeist ländliche Welt durch vorwiegend<br />
realistische Darstellungsweisen thematisiert wird.“ 64<br />
Von Wilpert sieht die Heimatliteratur als einen wertungsfreien Oberbegriff <strong>für</strong><br />
alles literarische Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, einer bestimmten<br />
Landschaft, ihrer Menschen, sowie des ländlichen Gemeinschaftslebens. 65 Sowohl<br />
Charbon, als auch von Wilpert zählen die kritische beziehungsweise Anti-<br />
Heimatliteratur ebenfalls zur Gattung der Heimatliteratur.<br />
Donnenberg unterscheidet zwischen Heimatliteratur im weitläufigen, engeren<br />
und engsten Sinn. Heimatliteratur im weitläufigen Sinn bezeichnet jene Werke,<br />
die das Land oder den Ort, in/an dem man geboren ist, und deren identitätsbildende<br />
Faktoren zum Thema haben. Im engeren Sinn lässt sich von Werken<br />
62<br />
Vgl. Kiss, Endre: Der grosse Konflikt in der Modernisation. Die Quelle der neuen Probleme<br />
der Heimat. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig<br />
geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997,<br />
S. 31 – 51, S. 39 – 51.<br />
63<br />
Vgl. Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19.<br />
64<br />
Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19.<br />
65<br />
Vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 1989, S. 363.<br />
19
sprechen, die vom Erlebnis einer bäuerlich-ländlichen beziehungsweise kleinstädtisch-provinziellen<br />
Welt geprägt sind und diese als überragenden Wert darstellen.<br />
Als Heimatliteratur im engsten Sinn wird die Heimatkunst bezeichnet. 66<br />
Die oben genannten Kategorien sind also als Strömungen innerhalb der Heimatliteratur<br />
zu bezeichnen, wobei das Risiko, dass der Begriff der Heimatliteratur<br />
durch diese Erweiterungen unscharf wird, bedacht werden muss. Andererseits<br />
trägt diese Tatsache den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen<br />
Rechnung. Etwa ab den 1960er Jahren setzt eine neuere, kritische Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema Heimat in der Literatur ein. Die Heimatliteratur erweitert<br />
thematisch und strukturell ihren Spielraum, die Grenzen zu anderen Gattungen,<br />
etwa zur Arbeiter- oder Frauenliteratur werden durchlässiger. Weiters<br />
lässt sich ein Verschwinden der Polarität Stadt-Land beobachten, auch Stadtromane<br />
können Heimatliteratur sein. 67<br />
20<br />
4 Anti-Heimat-Literatur<br />
4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945<br />
In diesem Abschnitt soll die Verwendung des Heimatbegriffs in der österreichischen<br />
Literatur in ihren unterschiedlichen Stadien skizziert werden. Die Situation<br />
im Nachkriegsösterreich ist dabei genauso von Bedeutung, wie die Entwicklung<br />
in späteren Jahrzehnten. In der vorliegenden Arbeit werden exemplarisch<br />
Texte aus vier Jahrzehnten behandelt werden, deshalb ist es wichtig, einen diachronen<br />
Überblick zu geben.<br />
Was Strzelczyk in ihrer Untersuchung <strong>für</strong> die Bundesrepublik Deutschland<br />
konstatiert, kann ohneweiters <strong>für</strong> auf die Situation im Nachkriegsösterreich umgelegt<br />
werden:<br />
66 Vgl. Donnenberg, Josef: Heimatliteratur in Österreich nach 1945 – rehabilitiert oder antiquiert?<br />
In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der<br />
österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 39 – 68, S. 41 – 42.<br />
67 A. a. O., S. 51.
Nach 1945 war es die heimatliche, private Idylle, aus der die Spuren<br />
des durch Deutsche [beziehungsweise Österreicher, Anm. d. Verf.]<br />
geschehenen ´Un-Heimlichen` weitgehend getilgt waren und in der<br />
die Kriegsaufbaugeneration Zuflucht suchte und fand. Die Betriebsamkeit<br />
des wirtschaftlichen Wiederaufbaus richtete sich gegen die<br />
psychisch belastende Aufarbeitung des Dritten Reichs. Große Teile<br />
der Nachkriegsgeneration flüchteten sich in die [...] Heimatfilme [...]<br />
in denen Heimat als von sozialen, historischen und ideologischpolitischen<br />
Konflikten unberührt bewahrt wurde. 68<br />
In den Nachkriegsjahren wurden etliche Werke ehemals nationalsozialistischer<br />
Schriftsteller neu aufgelegt, Beispiele <strong>für</strong> diese „Holzwegliteratur“ 69 wären etwa<br />
Karl-Heinrich Waggerl, Josef Weinheber oder Georg Oberkofler. Waggerl,<br />
schon 1934 erster Preisträger des Staatspreises <strong>für</strong> Literatur, avancierte zu einem<br />
der erfolgreichsten und populärsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Seine<br />
singuläre Stellung im österreichschen Literaturbetrieb skizziert Zier sehr treffend:<br />
[E]in Mann, [...] der heute längst als Säulenheiliger der Verklärungsindustrie<br />
etabliert ist, der in Kitsch-Großveranstaltungen zur Vorweihnachtszeit<br />
das Harmoniebedürfnis braver Mittelstandsalphabeten<br />
in Heile-Welt-Inszenierungen auszubeuten verstand, mit schmalen<br />
Büchern mehreren Lehrergenerationen als Weiser aus der Westentasche<br />
diente, von betulichen Tanten reflexartig beim ersten<br />
Schneefall <strong>für</strong> gefährdete Neffen und Nichten erstandene Erbauungsliteratur<br />
produzierte, und der einer der wenigen wirklichen Longseller-Autoren<br />
der österreichischen Literatur geworden ist. 70<br />
Die Belastetheit der Heimatdichter tat deren Beliebtheit keinen Abbruch, seitens<br />
der konservativen Kulturpolitik wurde unter dem Motto der Kontinuität versucht,<br />
diese Schriftsteller als Beispiele <strong>für</strong> innere Emigration zu legitimieren und zu re-<br />
habilitieren. 71<br />
68<br />
Strzelczyk 1999, S. 26.<br />
69<br />
Sebald, W. G.: Einleitung. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur.<br />
Salzburg: Residenz 1991, S. 11 – 16, S. 14.<br />
70<br />
Zier, O. P.: Region und Heimat, Widerstand und Widerstände. Literatur der „Europa-Sport-<br />
Region“. In: Literatur und Kritik 307/308 (1996), S. 37 – 43, S. 38.<br />
71<br />
Vgl. Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in<br />
der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991, S. 1 – 2.<br />
21
4.2 1960er & 1970er Jahre<br />
Bedingt durch die nationalsozialistische Vereinnahmung war der Heimatbegriff<br />
nach 1945 zwar ein belasteter, an einer Aufarbeitung war jedoch vorerst niemand<br />
interessiert, ganz im Gegenteil herrschte noch lange Zeit ein idyllisches,<br />
verklärendes Österreichbild in Literatur und Film vor. Der Heimatroman wurde<br />
von der literarischen Szene entkanonisiert und in die Schublade der Trivialliteratur<br />
abgeschoben, eine kritische Aufarbeitung der ideologischen Implikationen<br />
fand trotzdem oder gerade deswegen über einen längeren Zeitraum nicht statt.<br />
Die ersten Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung traten erst circa<br />
zwanzig Jahre nach Kriegsende zutage. Nachdem die Gattung der Heimatliteratur<br />
in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in progressiven literarischen<br />
Kreisen nahezu keine Rolle gespielt hatte, konnte man nun langsam unter einer<br />
neuen Generation von Nachkriegsschriftstellern Tendenzen zur kreativen und<br />
kritischen Auseinandersetzung mit den Themen und Motiven der traditionellen<br />
Heimatliteratur bemerken. 72 Bis zum Aufkommen dieser Welle waren kritische<br />
Reflexionen über die Provinz und/oder die nationalsozialistische Vergangenheit<br />
äußerst dünn gesät. Als erster Anti-Heimatroman gilt Hans Leberts „Die Wolfshaut“<br />
aus dem Jahr 1960. In diesem Roman verdrehen sich zum ersten Mal die<br />
typischen Elemente des Heimatromans ins Negative, werden „die Kulissen gewendet“<br />
73 , der Blick auf das österreichische Heimatbild als „potemkinsche[n]<br />
Veranstaltung“ 74 frei. Das Dorf – im Heimatroman noch ein Hort der Geborgenheit<br />
– wird zu einem Ort des Unbehagens und des Verbrechens. An die Stelle<br />
der idyllischen Gegenwart treten die Schatten der Vergangenheit. Die Natur erweist<br />
sich als feindselig den Menschen gegenüber. Neben Lebert sind noch<br />
Thomas Bernhards „Frost“ (1963), Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) und<br />
Gerd Jonkes „Geometrischer Heimatroman“ (1969) als Anti-Heimatromane der<br />
sechziger Jahre zu nennen.<br />
72<br />
A. a. O., S. 4.<br />
73<br />
Zeyringer 2001, S. 167.<br />
74<br />
Sebald, W. G.: Damals vor Graz – Randbemerkungen zum Thema Literatur & Heimat. In:<br />
Görner, Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert.<br />
München: Iudicium 1992, S. 131 – 139, S. 132.<br />
22
Sieht man also von den oben erwähnten Werken ab, so dauert es bis zum Ende<br />
der 1960er Jahre, bis sich eine neue Herangehensweise an das Thema Heimat<br />
konstituiert. Für W. G. Sebald setzt eine Gruppe von Schriftstellern, die sich in<br />
Graz (Forum Stadtpark, gegründet 1959) formierte, eine wichtige Zäsur. Stilistisch<br />
äußerst heterogen, von experimentellen bis hin zu realistischen Erzähltechniken,<br />
geformt, war den Schriftstellern gemeinsam, dass sie der Nachkriegsgeneration<br />
angehörten und vorwiegend aus ländlichen Gebieten stammten.<br />
Diese Gruppe, als deren Vertreter Sebald unter anderem Peter Handke,<br />
Helmut Eisendle, Gert Jonke, Wolfgang Bauer oder Alfred Kolleritsch, den Begründer<br />
der 1960 gegründeten Zeitschrift „manuskripte“, nennt, erarbeitete „ein<br />
ästhetisches Programm, das den Österreich-Mythos desavouierte und die Heimat<br />
als eher unheimliche Gegend erscheinen ließ.“ 75<br />
Was davor an Heimat in der Literatur beschrieben wurde, entstammte einer<br />
Schreibtradition, welche die österreichische Heimat abseits jeder Kritik und<br />
Realität darstellte. Die Grazer Autoren betrieben die Durchbrechung des falschen<br />
Mythos vom österreichischen Vater- und Heimatland: „Der faschistische<br />
Terror war von Anfang an mit Familie und Heimat verbunden gewesen und dort,<br />
im sogenannten Schoß der Familie und in der heimatlichen Enge hielt er sich<br />
auch weit über seine Zeit hinaus.“ 76 Es ging den Autoren um eine Literatur, die<br />
den ländlichen Raum nicht mehr als Idylle darstellen wollte und alle Klischees<br />
der traditionellen Dorf- und Ländlichkeitsromantik drastisch demontierte. 77 Das<br />
Land als locus amoenus, als „Wunschbild“ wird vom „Schreckbild“ Land abgelöst.<br />
78 Österreich präsentierte sich diesen Autoren als eine Antiheimat, nur<br />
durch Schreiben schien ein Loskommen davon möglich. Wenn Sebald anmerkt,<br />
dass der alte Geist keineswegs ausgestorben ist „vielmehr ein ungeheuer zähes<br />
Nachleben noch führt in diesem harmlosen Land, das von denen, die es<br />
heute beschreiben, nicht umsonst immer wieder empfunden wird als ein Haus<br />
75<br />
Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132.<br />
76<br />
A. a. O., S. 135.<br />
77<br />
Vgl. Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur in Österreich. Zur literarischen Heimatwelle<br />
der siebziger Jahre. In: Modern Austrian Literature 15/2 (1982), S. 1 – 11, S. 1 – 2.<br />
78<br />
Vgl. Heydemann, Klaus: Jugend auf dem Lande. Zur Tradition des Heimatromans in Österreich.<br />
In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Traditionen in der neueren österreichischen Literatur.<br />
Zehn Vorträge. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1980, S. 83 – 97, S. 94.<br />
23
voller monströser Schrecken“ 79 , so bezieht er sich in erster Linie auf die Waldheim-Affäre<br />
im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes von 1986. Aber auch<br />
heute noch trifft diese Aussage zu, wenn man die politische Entwicklung Österreichs<br />
in den letzten Jahren betrachtet. Am rechten Rand der politischen Landschaft<br />
angesiedelte Parteien spielen nach wie vor eine nicht unwesentliche Rolle<br />
in der Politik, und nicht zuletzt zeigen die Reaktionen anlässlich des Todes<br />
von Kurt Waldheim im Juni 2006, wie gespalten das Verhältnis der Österreicherinnen<br />
und Österreicher zu ihrer Vergangenheit noch immer ist. Die ersten Anti-<br />
Heimatschriftsteller ebneten den Weg <strong>für</strong> eine nachfolgende intensive literarische<br />
Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit und Realität:<br />
„Erst durch das gnadenlose Aufdecken des unrealistischen Heimatbildes in der<br />
Literatur der Vergangenheit wurde es möglich, daß in den 80er Jahren jene literarische<br />
Welle einsetzen konnte, die sich auf eines der dunkelsten Kapitel der<br />
österreichischen Geschichte, den Nationalsozialismus, konzentrierte.“ 80 Die Liste<br />
der österreichischen Anti-Heimat-Dichter ist lang, als prominentestes Mitglied<br />
der Grazer Gruppe sei Peter Handke erwähnt. Nachdem er in den 1960er Jahren<br />
mit sprachkritischen Werken, wie etwa Kaspar (1968), erfolgreich <strong>für</strong> Aufsehen<br />
gesorgt hatte, war es sein Roman „Wunschloses Unglück“ (1972), der <strong>für</strong><br />
die Entwicklung der Anti-Heimatliteratur von großer Bedeutung wurde. Oft auch<br />
unter der Bezeichnung „Neue Innerlichkeit“ oder „Neue Subjektivität“ kategorisiert,<br />
ebnete er den Weg <strong>für</strong> Schriftsteller wie Franz Innerhofer oder Gernot<br />
Wolfgruber, welche zugleich als die wichtigsten Vertreter der Anti-<br />
Heimatliteratur gelten. Speziell auf Innerhofer übte „Wunschloses Unglück“ großen<br />
Einfluss aus. 81<br />
79<br />
A. a. O., S. 134.<br />
80<br />
Ziegler, Wanda: Heimat in der Krise. Der Versuch einer interdisziplinären Annäherung an den<br />
"Heimat"-Begriff mit dem Schwerpunkt: "Salzburger Heimatliteratur". Salzburg: phil. Dipl. 1995,<br />
S. 193.<br />
81<br />
Vgl. Frank, Peter R.: Heimatromane von unten – einige Gedanken zum Werk Franz Innerhofers.<br />
In: Modern Austrian Literature 13/1 (1980), S. 163 – 175, S. 165.<br />
24
4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur<br />
Heimat wurde wieder zu einem aktuellen Thema in der deutschsprachigen Literatur,<br />
auch in Österreich, wo von Anfang an eine klare Abgrenzung von herkömmlichen<br />
Zugängen vorhanden war. Eine der gängigsten Definitionen von<br />
Anti-Heimatliteratur stammt von Jürgen Koppensteiner:<br />
Als Anti-Heimatliteratur ist jene Heimatliteratur zu verstehen, in der<br />
man zwar wohl die Gestalten und Requisiten der traditionellen, oft<br />
sentimental-kitschigen Heimatliteratur findet, also Bauern, Knechte<br />
und Mägde, den Bauernhof, das abgelegene Tal, Berge, Bäche, den<br />
Wald usw., die aber keine Heimatbezüge im traditionellen Sinn aufweist.<br />
Es geht also nicht um die Liebe zur Heimat, um die Harmonie<br />
des ländlichen Lebens, um Brauchtum oder um Abwehr einer feindlichen,<br />
meist städtischen Gegenwelt. Anti-Heimatliteratur will vielmehr<br />
negative Zustände in der Heimat, im ländlich-bäuerlichen Milieu aufdecken.<br />
Sie richtet sich dabei keineswegs gegen Heimat; sie setzt<br />
nur einen anderen Heimatbegriff voraus. 82<br />
Diese Definition geht von einem sehr engen Gestaltungsspielraum aus. Streng<br />
genommen dürfte beispielsweise nicht einmal Franz Innerhofers zweiter Roman<br />
„Schattseite“ als Anti-Heimatroman bezeichnet werden, ganz zu schweigen vom<br />
Werk Gernot Wolfgrubers, das durchwegs im kleinstädtischen Milieu angesiedelt<br />
ist. Koppensteiners Definition wird von Andrea Kunne grundsätzlich akzeptiert,<br />
da sie in ihrem Konzept ebenfalls eine sehr rigide Auffassung von Anti-<br />
Heimatliteratur vertritt. Sie spricht in ihrer Darstellung des transformierten Heimatromans<br />
von der dritten Phase der Heimatliteratur. Durch die innovierende<br />
Funktion der Verfremdung des Tradierten, Umfunktionierung bekannter Formen<br />
und Hinzufügung neuer Elemente wird eine Erneuerung des Genres bewirkt.<br />
Kunne unterscheidet dabei zwischen zwei unterschiedlichen Ansätzen: eine gesellschaftskritische,<br />
realistische Darstellungsweise auf der einen, sowie eine<br />
experimentell-postmodernistische und antinarrativ ausgerichtete Variante auf<br />
der anderen Seite. 83<br />
82<br />
Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers<br />
Roman „Schöne Tage“. In: Die Unterrichtspraxis 14 (1981), S. 9 – 19, S. 10.<br />
83<br />
Vgl. Kunne 1991, S. 12 – 16.<br />
25
Problematisch an Kunnes Ansatz sind die sehr eng gefassten Auswahlkriterien<br />
und die teilweise willkürlich erscheinende Selektion der Werke, die sie als <strong>für</strong> ihr<br />
Konzept kompatibel erachtet. Das Konzept des transformierten Heimatromans<br />
exkludiert einen Großteil der gemeinhin unter der Bezeichnung Anti-Heimat-<br />
Literatur bezeichneten Werke. 84<br />
26<br />
4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur<br />
Franz Innerhofer und die nachfolgenden Autoren präsentierten ihre Werke auch<br />
zum richtigen Zeitpunkt. Wesentliche Veränderungen im Bereich des Agrarsektors<br />
(Motorisierung, Infrastrukturausbau, etc.) und damit einhergehende soziale<br />
Umschichtung beziehungsweise ein Aufbrechen althergebrachter Strukturen,<br />
sowie ein verstärktes Interesse des Kulturmarktes am Landleben waren ausschlaggebend<br />
<strong>für</strong> eine intensivere Beschäftigung mit dem Leben in ländlichen<br />
Gebieten: „In einem nunmehr ungefährlich scheinenden Rückblick konnte man<br />
sich im Entsetzen über das Gewesene mit dem ruhigen Gewissen der kritischen<br />
Ansicht ausbreiten und in der anheimelnden Gewißheit zurücklehnen, daß in<br />
den jetzigen ´modernen Zeiten` ja alles besser sei...“ 85<br />
In den 1970er Jahren feierte die Anti-Heimatliteratur ihre größten Erfolge und<br />
wurde auch außerhalb Österreichs begeistert rezipiert. Wie jede literarische<br />
Strömung nach einiger Zeit in Frage gestellt wird, musste sich auch die Anti-<br />
Heimatliteratur Kritik gefallen lassen. 1982 spricht Koppensteiner vom Tod des<br />
Genres:<br />
Vom Thema her – das läßt sich schon jetzt sagen – hat sich die Anti-<br />
Heimatliteratur totgelaufen. [...] Letzten Endes sind die Autoren denselben<br />
Fehlern verfallen, die sie der traditionellen Heimatliteratur<br />
vorwerfen. Sie operieren nämlich im Grunde genauso mit Klischees,<br />
wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. 86<br />
84 Zur Kritik an Kunnes Modell vgl. Aspetsberger, Friedbert: Unmaßgebliche Anmerkungen zur<br />
Einschränkung des literaturwissenschaftlichen „Heimat“-Begriffs. In: Plener, Peter/Zalan, Peter<br />
(Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität.<br />
Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997, S. 53 – 85, S. 55 – 57.<br />
85 Zeyringer 2001, S. 165.<br />
86 Koppensteiner, in: Modern Austrian Literature 15/2 (1982), S. 8.
Ein ähnliches Urteil fällt Karl-Markus Gauß:<br />
Die ´Antiheimatliteratur`, der die neue österreichische Prosa von<br />
Hans Lebert bis Franz Innerhofer einige ihrer besten Werke verdankt,<br />
hat die heile Welt als würgende Enge, als Zwangsordnung<br />
kenntlich gemacht. Mittlerweile aber ist die Antiheimatliteratur längst<br />
selbst zur literarischen Lüge verkommen, ein anspruchslos ins Leere<br />
surrender Mechanismus, der dem alten Kitsch der Verklärung nur mit<br />
dem schwarzen Kitsch der Denunziation zu begegnen weiß. 87<br />
Diese Aussagen sollten nicht unwidersprochen stehen gelassen werden. Definiert<br />
man Anti-Heimatliteratur so, wie es Koppensteiner getan hat, dann mag<br />
seine Behauptung zutreffen, da eine derart eng gefasste Klassifizierung zum<br />
einen keinen Spielraum <strong>für</strong> Variationen lässt und zum anderen den geänderten<br />
gesellschaftlichen Verhältnissen nicht Rechnung trägt. Die Anti-Heimatliteratur<br />
erweiterte ihren Spielraum. Anti-Heimatromane der letzten beiden Jahrzehnte<br />
des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart thematisieren Fragen wie Umwelt,<br />
Tourismus, Ausverkauf der Heimat oder Rassismus und haben sich dementsprechend<br />
hinsichtlich ihrer Vielfalt weiterentwickelt. Sowohl Koppensteiner als<br />
auch Gauß gehen von einer veralteten Begriffsbestimmung beziehungsweise<br />
unterschiedlichen Definitionen, aus. Anti-Heimat-Literatur wie sie etwa Robert<br />
Menasse versteht, behandelt mehr als Bauern und deren Gesinde. An dieser<br />
Stelle scheint es an der Zeit, auf das Definitionsproblem der Anti-Heimatliteratur<br />
einzugehen.<br />
Mit dem Erscheinen von Franz Innerhofers „Schöne Tage“ (1974) beginnt der<br />
Hype um die Anti-Heimatliteratur. Andere Bezeichnungen <strong>für</strong> dieses Genre gibt<br />
es etliche, so manche Literaturwissenschafter und -kritiker haben eigene Termini<br />
entwickelt. Walter Weiss etwa spricht vom „problematisierte[n] Heimatroman“<br />
88 , Schmidt-Dengler von der „Anti-Idylle“ 89 , Mecklenburg unterscheidet,<br />
nicht ganz nachvollziehbar, „Anti-Heimatliteratur“ und „radikale Anti-<br />
87<br />
Gauß, Karl-Markus: Der Rand in der Mitte: Die Chronik einer Heimat. In: Die Zeit (Sonderbeilage<br />
Literatur) 4.10.1996, S. 12.<br />
88<br />
Weiss, Walter: Zwischenbilanz. In: Schmid, Sigrid/Weiss, Walter (Hg.): Zwischenbilanz. Eine<br />
Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Salzburg: Residenz 1976, S. 11 – 32, S. 24.<br />
89<br />
Schmidt-Dengler, Wendelin: Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der<br />
neueren österreichischen Prosa. In: Literatur und Kritik 40 (1969), S. 577 – 585, S. 577.<br />
27
Heimatliteratur“. 90 Solms verweist auf die mögliche unterschiedliche Schreibweise<br />
mit einem oder zwei Bindestrichen:<br />
´Anti Bindestrich Heimat Bindestrich Literatur`: das wäre nach meinem<br />
Wortverständnis eine Literatur, die gegen das Heimatgefühl<br />
oder die Sehnsucht nach Heimat gerichtet ist. [...] ´Anti Bindestrich<br />
Heimatliteratur in einem Wort`: das wäre eine Literatur, die sich nicht<br />
gegen Heimat, sondern gegen die traditionelle Heimatliteratur wendet<br />
und die damit womöglich zu einem neuen Verhältnis zur<br />
Heimat beiträgt. 91<br />
Anti-Heimatliteratur knüpft in ihren Stoffen an die traditionelle Heimatliteratur an,<br />
die Tendenz ist jedoch entgegengesetzt. Im Gegensatz zur Heimatliteratur, die<br />
sich bis zu heutigen Zeit nur wenig bis gar nicht weiterentwickelt hat, lässt sich<br />
im Bereich der Anti-Heimatliteratur eine kontinuierliche Themenexpansion feststellen.<br />
Dies macht die Definition á la Koppensteiner obsolet. Robert Menasse<br />
hat sich intensiv mit der österreichischen Anti-Heimatliteratur beziehungsweise<br />
Anti-Heimat-Literatur auseinandergesetzt und dazu ein neues Konzept entwickelt.<br />
4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence<br />
„Österreich ist eine Nation, aber keine Heimat.“ 92 Diese These untermauert Robert<br />
Menasse mit der Erwähnung einer empirischen Studie, die den Österreicherinnen<br />
und Österreichern zwar ein sehr großes Nationalgefühl, im Gegensatz<br />
dazu aber überraschenderweise sehr geringes kollektives Identitätsgefühl<br />
bescheinigt. Zwar haben die Österreicherinnen und Österreicher ein durchwegs<br />
starkes Nationenbewusstsein entwickelt, allerdings<br />
90<br />
Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München:<br />
Iudicium 1986, S. 66 – 67.<br />
91<br />
Solms, Wilhelm: Zum Wandel der „Anti-Heimatliteratur“. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen<br />
und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern:<br />
Peter Lang 1989, S. 173 – 189, S. 173.<br />
92<br />
Menasse, Robert: Das Land ohne Eigenschaften. Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ihrem<br />
Verschwinden. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.<br />
Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 29 – 120, S.<br />
94.<br />
28
ohne all die realen Konsequenzen, die ein entwickeltes, positiv besetztes<br />
Nationalgefühl gemeinhin hat: Es ist offenbar historisch zu<br />
jung, inhaltlich zu dürftig, insgesamt zu abstrakt, als daß es Identität,<br />
Geborgenheit, Heimatgefühl vermitteln und verwurzeln hätte können.<br />
Die Meinungsumfragen zeigen daher auch, daß, außer der abstrakten<br />
Angabe der eigenen Nationalität, keiner verbindlich zu sagen<br />
weiß, was Heimat ist. 93<br />
Menasse sieht diese Besonderheit in der wechselvollen Geschichte des Landes,<br />
das als Großmacht unter der Herrschaft des Kaisers, als Bestandteil des<br />
Deutschen Reiches und als kleine, unbedeutende, am Verhandlungstisch entstandene<br />
Republik innerhalb kurzer Zeit mehrmals seine Identität wechseln<br />
musste, begründet:<br />
Diese Widersprüche haben sicherlich damit zu tun, daß das österreichische<br />
Nationalgefühl kein über längere Zeit historisch gewachsenes<br />
ist, sondern, wie wir bereits gesehen haben, erst sehr spät und<br />
dann sehr forciert durchgesetzt wurde. Es ist daher extrem arm an<br />
konkreten und eindeutig bewußten inhaltlichen Bestimmungen: die<br />
beiden einzigen sind wesentlich der Staatsvertrags- und der Neutralitätsmythos,<br />
die ja die einzigen integrativen und identitätsstiftenden<br />
Erfolgserlebnisse von vier Generationen von Österreichern sind. 94<br />
Nun wäre einzuwenden, dass die Entwicklung von regionaler Identität und positivem<br />
Heimatgefühl nicht notwendigerweise mit von institutioneller oder staatlicher<br />
Seite propagierten Ideologien zusammenhängt. Gerade <strong>für</strong> Österreich<br />
konstatiert Menasse jedoch eine Entwicklung, die „eine genuine, selbstverständliche,<br />
gewissermaßen ´automatische` Entfaltung von Heimatgefühlen<br />
zerstörte.“ 95<br />
Heimat war problematisch geworden nach 1945, denn das neue, wieder aufgebaute<br />
Österreich hatte mit dem alten nur wenig gemeinsam, der einsetzende<br />
Wirtschaftsaufschwung in Zuge des Marshall-Plans und die damit verbundene<br />
Transformation von einer Agrar- in eine Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft,<br />
ließen keinen Platz <strong>für</strong> eine Identifikation mit der Heimat. Hinzu kam die<br />
drückende Kriegsschuld, denn auch wenn sich Österreich gern als Opfer Hitler-<br />
93 A. a. O., S. 95 – 96.<br />
94 A. a. O., S. 95.<br />
95 A. a. O., S. 96.<br />
29
deutschlands sieht, so steht doch längst außer Frage, dass die österreichische<br />
Bevölkerung in nicht unbeträchtlichem Ausmaß an den Verbrechen des Zweiten<br />
Weltkrieges beteiligt war. Verdrängung der Vergangenheit, der eigenen wie der<br />
kollektiven, war also angesagt. Die Schatten des Nationalsozialismus reichten<br />
tief in die ländlichen Gebiete hinein. Man war zu sehr damit beschäftigt die eigenen<br />
Identitäten zu verschleiern oder zu wechseln, als dass man sich mit dem<br />
Aufbau von Heimatgefühlen beschäftigen konnte. Österreich war ein Staat auf<br />
der Landkarte, zustande gekommen am Verhandlungstisch, aber als Heimat tabuisiert.<br />
Anschließend daran setzte die, schon nach dem Anschluss 1938 begonnene,<br />
Vermarktung des Landes als Tourismusregion voll ein, Heimat wurde<br />
zu einer „Event-Landschaft“ 96 . Zwar brachte der Tourismus Wohlstand in bis dato<br />
rückständige Regionen, zerstörte aber vollends die Identität der dort lebenden<br />
Menschen. 97<br />
In literarischer Hinsicht fehlten der österreichischen Generation von Nachkriegsschriftstellern<br />
die Vorbilder. Viele von Österreichs renommiertesten Namen<br />
waren im Exil verstorben (Robert Musil, Franz Werfel) oder kehrten nach<br />
Kriegsende nicht mehr nach Österreich zurück (Hermann Broch, Elias Canetti).<br />
<strong>Institut</strong>ionen und Autoren wie die Gruppe 47 oder Wolfgang Borchert in<br />
Deutschland gab es im Nachkriegsösterreich nicht. 98 Angesichts dieser Entwicklungen<br />
scheint es <strong>für</strong> Menasse nur logisch, dass „in Österreich mit der sogenannten<br />
´Anti-Heimat-Literatur` eine im internationalen Vergleich völlig eigenständige,<br />
neue literarische Gattung entstanden ist: Österreich ist die Anti-<br />
Heimat par excellence.“ 99<br />
Menasse ist der erste, welcher der österreichischen Anti-Heimat-Literatur den<br />
höchsten Stellenwert einräumt: „Aber die Anti-Heimat-Literatur ist nicht nur eine<br />
eigenständige österreichische Gattung, sie ist vor allem auch die wichtigste, die<br />
dominanteste Form der Literatur in der Zweiten Republik.“ 100<br />
96<br />
Aspetsberger, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 65.<br />
97<br />
Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 94 – 101.<br />
98<br />
Vgl. Olson, Michael P.: Robert Menasse`s Concept of Anti-Heimat Literature. In: Daviau,<br />
Donald G. (Hg.): Austria in Literature. Riverside: Ariadne Press 2000, S. 153 – 165, S. 155 –<br />
156.<br />
99<br />
Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />
100<br />
A. a. O.<br />
30
Schon W. G. Sebald stellte fest, dass „die Beschäftigung mit der Heimat über<br />
alle historischen Einbrüche hinweg geradezu eine der charakteristischen Konstanten<br />
der ansonsten schwer definierbaren österreichischen Literatur ausmacht.“<br />
101 Menasse konkretisiert diese These, indem er die negative Beschreibung<br />
der Heimat als Merkmal der wichtigsten österreichischen Gattung hervorhebt.<br />
Auch Meyer-Sickendiek äußert sich ähnlich:<br />
...so dürfte es in der Tat schwer fallen, eine vergleichbare Akkumulierung<br />
düsterer, schrecklicher und grausamer Phantasien in anderen<br />
´Nationalliteraturen` auszumachen. [...] Die Identifikation der österreichischen<br />
Heimat als einer beklemmenden Atmosphäre latenter<br />
Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß<br />
und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische<br />
Gesinnung [...] ist [...] das relativ konstant bleibende Thema<br />
dieser Anti-Heimatromane. 102<br />
Die Darstellung des Ländlichen und Dörflichen steht im Zentrum der österreichischen<br />
Literatur nach 1945. Den Unterschied zu anderen Nationalliteraturen<br />
ortet Menasse in der Tendenz der Darstellung:<br />
Realistische Beschreibungen des dörflichen und ländlichen Lebens<br />
in bestimmten Regionen, abseits trivialer Klischees und verlogener<br />
Idyllen, gibt es natürlich auch in der Weltliteratur – allerdings mit dem<br />
Unterschied, daß diese Literatur ein nicht nur realistisches, sondern<br />
am Ende auch wesentlich ein positives Bild der beschriebenen Heimat<br />
evoziert. 103<br />
Er nennt auch die wichtigsten Österreicher, die seiner Ansicht nach die Gattung<br />
herausgebildet und weiterentwickelt haben: Hans Lebert, Gerhard Fritsch, Peter<br />
Handke, Thomas Bernhard, Gert Jonke, Alfred Kolleritsch, Alois Brandstetter,<br />
Gernot Wolfgruber, Max Maetz, Peter Turrini, Elfriede Jelinek, Marie-Thérèse<br />
Kerschbaumer, Wilhelm Pevny, Michael Scharang, Franz Innerhofer, Norbert<br />
Gstrein, Klaus Hoffer, Josef Winkler und Marianne Gruber. 104 Diesen 19 Namen<br />
wären natürlich noch etliche andere hinzuzufügen, darunter auch Menasse<br />
selbst, wie noch zu sehen sein wird.<br />
101 Sebald, in: Ders. 1991, S. 11.<br />
102 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen eines<br />
Phantasmas der 80er. In: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31.7.2007.<br />
103 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />
104 Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />
31
Menasse unterscheidet drei Phasen der Anti-Heimat-Literatur: als erste Phase<br />
benennt er jene der Konstituierung der Gattung, wobei vor allem der Bezug auf<br />
die nationalsozialistische Vergangenheit im Vordergrund steht. Hans Lebert und<br />
Gerhard Fritsch werden hier genannt. Danach schreiben jüngere Autoren, meist<br />
ohne eigene Kriegserfahrungen, über den Alltagsfaschismus in der Provinz.<br />
Wenn auch dabei nicht direkt auf die nationalsozialistische Vergangenheit rekurriert<br />
wird, so schildern Autoren wie Franz Innerhofer oder Gernot Wolfgruber<br />
doch auch die Kontinuität althergebrachter Strukturen. Als letzte Phase<br />
sieht Menasse die Thematisierung des touristischen Ausverkaufs und die groteske<br />
Verlogenheit der Fremdenverkehrswelt, wie sie etwa von Elfriede Jelinek<br />
(„Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“, 1985) oder Norbert Gstrein („Einer“, 1988) beschrieben<br />
wird. 105<br />
Ein letztes Mal sei noch Menasse zitiert, der noch einmal erklärt, warum Österreich<br />
die mustergültige Anti-Heimat ist und welchen Beitrag die Literatur dabei<br />
leistet:<br />
32<br />
In der österreichischen Literatur ist es aber so, daß jede Destruktion<br />
von Klischees und Idyllen sofort zur völligen Destruktion jeglichen<br />
positiv besetzten Heimatgefühls führt: Werden die Kulissen der Heimat,<br />
weil man in ihnen nicht zu Hause sein kann, zerstört, dann ist<br />
überhaupt nichts mehr da, worin man sich heimisch fühlen könnte.<br />
[…] Das Beste, was die Literatur der Zweiten Republik hervorgebracht<br />
hat, beschäftigt sich mit dem Desaster der Provinz, auf eine<br />
Weise, daß wir über den Entwicklungsbogen von der Nazi-Zeit bis<br />
zum zerstörerischen Massentourismus der heutigen Tage von dieser<br />
Literatur anschaulicher informiert werden, als es der dürren Abstraktheit<br />
soziologischer Untersuchungen möglich ist. 106<br />
Robert Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur ist wesentlich weiter gefasst<br />
als ältere Beiträge zu diesem Thema, etwa von Koppensteiner oder Kunne.<br />
Menasse entwickelt aufbauend auf historischen und gegenwärtigen Besonderheiten<br />
das Bild einer Nation ohne Heimat. Als Nationalliteratur definiert er<br />
eben jene Werke die sich mit dieser nicht vorhandenen Heimat, der Anti-<br />
Heimat, auseinandersetzen. Diese Anti-Heimat ist <strong>für</strong> Menasse nicht auf den<br />
105 A. a. O., S. 102 – 103.<br />
106 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101 – 102.
ländlich-dörflichen Raum beschränkt, sondern umfasst im Wesentlichen das<br />
gesamte Staatsgebiet mit Ausnahme Wiens als einziger echter Großstadt. Dieses<br />
„flache Land“ – Menasse übernimmt dabei eine abwertende Bezeichnung<br />
der Großstädter <strong>für</strong> die Provinz – ist der Schauplatz <strong>für</strong> die bedeutendsten österreichischen<br />
Anti-Heimat-Romane. 107<br />
So wie sich die österreichische politische und gesellschaftliche Landschaft über<br />
die Jahrzehnte verändert hat, so veränderte sich auch die inhaltliche Form der<br />
Anti-Heimat-Romane. Trotzdem überwiegen die Gemeinsamkeiten, die Schilderung<br />
einer Existenz als Leibeigener auf Hof 48 wie bei Franz Innerhofer unterscheidet<br />
sich bei näherer Betrachtung nicht so sehr von der Beschreibung einer<br />
gescheiterten Existenz in einem Tiroler Fremdenverkehrsort etwa bei Norbert<br />
Gstrein. Die Strukturen, die den jeweiligen Sozialsystemen zugrunde liegen,<br />
sind dieselben. Gemeinsam haben die österreichischen Anti-Heimat-Romane<br />
die Kritik an Österreich, den Versuch die festgefahrenen Strukturen offen zu legen<br />
und den Blick hinter die Kulissen freizumachen. Wenn man mit Menasse<br />
von Österreich als einer Anti-Heimat sprechen kann, dann muss die Anti-<br />
Heimat-Literatur in gewisser Weise als die österreichische Nationalliteratur bezeichnet<br />
werden. Im Gegensatz zu Stimmen, die den Tod der Anti-Heimat-<br />
Literatur verkündet und diese als eine Ansammlung von Klischees charakterisiert<br />
haben, erkennt Menasse, dass es nicht um eine bloße Darstellung von negativen<br />
Tatsachen geht, ohne Alternativen aufzuzeigen:<br />
Austria`s problem, Menasse summarizes, is ultimately the complete<br />
destruction of its authenticity. The project of Menasse and likeminded<br />
Austrians is to render and reflect these realities, all the while<br />
striving for Sein […] and not Schein […] for naturalness and not façade<br />
– in short to bring Austria back into Austrian Literature and in so<br />
doing, to depict the protagonists and experiences with which readers<br />
everywhere can empathize. 108<br />
Die Leistung Menasses besteht darin, ein äußerst umfassendes Konzept der<br />
österreichischen Anti-Heimat-Literatur unter Einbeziehung geschichtlicher, politischer<br />
und gesellschaftlicher Gegeben- und Besonderheiten vorgelegt zu haben.<br />
Durch seine Thesen erhält die österreichische Anti-Heimat-Literatur jenen<br />
107 Vgl. Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 158.<br />
108 Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162.<br />
33
Stellenwert zurück, der ihr schon aberkannt wurde – „to render and reflect these<br />
realities […] to bring Austria back into Austrian Literature“, und somit Österreich<br />
mit Hilfe der Literatur wieder zu einer Heimat zu machen, diesen Anspruch stellt<br />
Menasse an die Literatur.<br />
Die Bezeichnung „Anti-Heimat-Literatur“ wird ab nun durchgehend verwendet.<br />
Dies bedarf einer Begründung: natürlich kann Koppensteiner Recht gegeben<br />
werden, wenn er feststellt, dass die Anti-Heimatliteratur als Antithese zur konventionellen<br />
Heimatliteratur gesehen werden muss. Menasses Anti-Heimat-<br />
Begriff umfasst selbstverständlich auch den in älteren Beiträgen verwendeten<br />
Terminus. Darüber hinaus inkludiert Menasses Definition jedoch auch jene<br />
Werke neueren Datums, die von engen und veralteten Definitionen nicht erfasst<br />
werden. Während eine Definition wie jene von Koppensteiner, hauptsächlich auf<br />
literarischen Vergleichen, nämlich der Gegenüberstellung zur traditionellen<br />
Heimatliteratur, beruht, erweist sich Menasses Konzept durch Analyse gesellschaftlicher,<br />
politischer und geschichtlicher Faktoren als wesentlich fundierter.<br />
Anti-Heimatliteratur umfasst nicht das gesamte Gebiet der österreichischen Anti-Heimat-Literatur.<br />
Als Abschluss des theoretischen Teils soll nun noch auf das Heimkehrmotiv,<br />
dessen Analyse im Zentrum der Arbeit stehen wird, eingegangen werden.<br />
5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv<br />
5.1 Exkurs: Funktion von Motiven <strong>für</strong> die Literatur<br />
Gleich zu Beginn erscheint es notwendig, ein paar Worte über die Verwendung<br />
von Motiven in der Literatur zu verlieren.<br />
Schon die etymologische Herleitung vom lateinischen „movere“ verweist auf die<br />
Funktion, zu begründen, zu bewegen und Relationen herzustellen. 109 Ein Motiv<br />
109<br />
Vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Ein<br />
Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke 1995, S. XVI.<br />
34
kann definiert werden als „[k]leinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierbares<br />
intertextuelles Element eines literarischen Werks.“ 110 Beller bezeichnet das<br />
Motiv kurz und prägnant als „eine die epische oder dramatische Handlung auslösende<br />
Situation.“ 111 Motive können auf inhaltlicher Ebene unterteilt werden in<br />
Situations-, Typus-, sowie Raum- und Zeitmotive. Formal lässt sich eine Unterteilung<br />
in Kernmotive, die einem Text den Zusammenhalt geben, Rahmenmotive,<br />
die die Textstruktur erweitern und Füllmotive, die nicht fest mit dem Stoff<br />
verbunden sind, vornehmen. 112 Tritt ein Motiv mehrfach in einem Text in gliedernder<br />
und akzentuierender Weise auf, so spricht man von einem Leitmotiv,<br />
dieses muss aber nicht notwendigerweise identisch mit dem vorherrschenden<br />
Motiv im Text sein. 113 Das Motiv ist ein inhaltsbezogenes Schema, das nicht an<br />
einen historischen Kontext gebunden ist. Dadurch ist es <strong>für</strong> die Gestaltung von<br />
Ort, Zeit und Figuren frei verfügbar. Durch diese Ungebundenheit grenzt sich<br />
das Motiv von anderen Kategorien des Inhalts, wie etwa dem Stoff oder dem<br />
Thema ab. Der Stoff definiert sich dadurch, dass er aus einem komplexeren<br />
Sinnzusammenhang besteht, der durch zeitliche, räumliche und personale Faktoren<br />
festgelegt ist. Vom Thema grenzt sich das Motiv durch einen höheren<br />
Grad an Konkretheit ab. Ein und dasselbe Motiv kann verschiedenen Stoffen<br />
angehören und auch mehrfach beziehungsweise in Verbindung mit anderen<br />
Motiven in einem Werk auftreten. 114<br />
Es ist daher angebracht, Motive nicht nur als Inhalte und Bedeutungen zu verstehen,<br />
sondern auch als strukturierte und strukturgebende Einheiten, die in<br />
vielfältigen kulturgeschichtlichen Verflechtungen stehen und den Kunstcharakter<br />
der Literatur wesentlich mitbestimmen. 115 Besondere Bedeutung kommt Motiven<br />
zu, wenn man die historische Komponente berücksichtigt. Das Motiv kann,<br />
auch wenn es aus dem konkreten Textzusammenhang herausgelöst ist, in der<br />
110<br />
Drux, Rudolf: Motiv. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />
Band 3. Berlin: de Gruyter 2000, S. 638 – 641, S. 638.<br />
111<br />
Beller, Manfred: Stoff, Motiv, Thema. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörg (Hg.): Literaturwissenschaft.<br />
Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2004, S. 30 – 39, S. 32.<br />
112<br />
Vgl. Weidhase, Helmut: Motiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon.<br />
Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990,<br />
S. 312.<br />
113<br />
Vgl. Schönhaar, Rainer: Leitmotiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle Irmgard (Hg.): Metzler<br />
Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung<br />
1990, S. 264.<br />
114<br />
Vgl. Drux, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 638.<br />
115<br />
Vgl. Beller, in: Brackert/Stückrath (Hg.) 2004, S. 36.<br />
35
Tradition weiter bestehen. Das Motiv besteht nicht nur als Einzelelement, sondern<br />
auch als in sich schlüssiges Relationsfeld, in der Überlieferung fort. Motive<br />
werden im kollektiven Gedächtnis der Rezipienten aufbewahrt und können dadurch<br />
zu jeder Zeit neu belebt werden. Dieses, die Zeiten überdauernde, Fortbestehen<br />
von Motiven im Gedächtnis der Menschen begründet sich auch dadurch,<br />
dass Motive auf sehr anschauliche und präzise Weise typische menschliche<br />
Verhaltensmuster oder Situationen darstellen. Bei Motiven handelt es sich<br />
also um schematische Muster von (arche)typischen Eigenschaften und wiederkehrenden<br />
Situationen im menschlichen Leben. Ein Motiv weckt im Rezipienten<br />
die Erinnerung an eine bekannte Situation oder Verhaltensweise, im Zuge des<br />
Rezeptionsprozesses erfolgt eine Neubewertung, die gespeichert und auf diese<br />
Weise weitergegeben wird. 116 Jedes Motiv besitzt also im kollektiven Gedächtnis<br />
der Menschheit eine schematische Repräsentation, die durch fortlaufende<br />
Verwendung im Laufe der Zeit neu bewertet, modifiziert und abgespeichert<br />
wird. Motive können charakteristisch <strong>für</strong> das Werk einzelner Autoren oder Epochen<br />
sein, dieselben Motive kommen aber auch in unterschiedlichen Sprachräumen<br />
parallel vor. Deshalb ist die Motivforschung auch zu einem wichtigen<br />
Arbeitsfeld komparatistischer Studien avanciert. Diese, die Kulturen übergreifende,<br />
Präsenz von Motiven ist ein weiterer Beweis <strong>für</strong> die Repräsentation existentieller,<br />
kollektiver Vorstellungen und Verhaltensweisen. 117<br />
Darüber hinaus lassen sich in Anlehnung an die Typologie von Daemmrich/<br />
Daemmrich 118 folgende wichtige erzähltechnische Funktionen von Motiven feststellen:<br />
36<br />
o Schaltfunktion: im chronologischen Aufbau eines Textes treten Motive an<br />
Gelenksstellen auf und steuern die Informationsverarbeitung im Wahrnehmungsvorgang.<br />
Sie gewährleisten die Übertragung der Information<br />
von einer Schicht beziehungsweise von einer Bedeutungsebene zur<br />
nächsten. Somit sind Motive linear im Text geordnet und auch als Schalter<br />
auf der Achse der Sinngehalte verteilt.<br />
116<br />
Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. XV – XVI.<br />
117<br />
A. a. O., S. XI – XII.<br />
118<br />
A. a. O., S. XVIII – XX.
o Spannungsfunktion: Motive sind leicht fassbar und beleuchten in konzentrierter<br />
Funktion komplizierte Situationen und Verhaltensweisen. In<br />
Verknüpfung mit anderen Figuren, Situationen oder Themen beziehungsweise<br />
gegensätzlichen Motiven sind sie jedoch auch verantwortlich<br />
<strong>für</strong> den Aufbau eines Spannungsbogens. Es entstehen Erwartungen, die<br />
eine intensivere geistige Auseinandersetzung mit dem Werk bewirken.<br />
o Schemafunktion: da Motive als Muster im kollektiven Gedächtnis repräsentiert<br />
sind, erleichtert ihre Verwendung den Zugang zum Text. Motive<br />
bieten Orientierung und die Möglichkeit, das Verhalten der Figuren vorauszusagen.<br />
o Verflechtungsfunktion: indem sie ein Netz von Beziehungen, das die Aufnahme<br />
und Verarbeitung abstrakter Informationen erleichtert, herstellen,<br />
leisten Motive einen wichtigen Beitrag zur thematischen Organisation des<br />
Textes.<br />
o Gliederungsfunktion: in ihrer Rolle als Bedeutungs- und Strukturträger lösen<br />
Motive Handlungen aus, verweisen auf Ereignisse oder verknüpfen<br />
Erzählstränge. Zusätzlich helfen sie, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften<br />
zu verdeutlichen. Dies alles führt dazu, dass die Struktur<br />
des Textes verfestigt wird.<br />
o Deutungsfunktion: Motive kennzeichnen existentielle Grundsituationen.<br />
Diese können an eine konkrete Figur (z. B.: Odysseus) oder auch nur an<br />
einen bestimmten Typus (z. B.: der Heimkehrer) geknüpft sein. Ferner<br />
verdichten sie soziale Anliegen oder entschlüsseln kollektive Vorstellungen<br />
oder Wünsche.<br />
5.2 Heimkehrmotiv<br />
Die Untersuchung des Heimkehrmotivs scheint sich bis dato nur geringer literaturwissenschaftlicher<br />
Beachtung erfreut zu haben.<br />
Dabei stellt die Heimkehr ein Ereignis dar, das im Bewusstsein der Menschheit<br />
seit jeher repräsentiert ist. Heimkehr ist ein präsentes Thema in der Weltliteratur,<br />
man denke nur an Odysseus, als den wohl berühmtesten Heimkehrer der<br />
37
Literaturgeschichte, oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium.<br />
Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in Deutschland<br />
das Entstehen einer eigenen Heimkehrerliteratur beobachten, die sich mit den<br />
Bemühungen der heimgekehrten Soldaten um eine Rückkehr ins zivile Leben<br />
beschäftigt.<br />
Grundsätzlich lassen sich in Bezug auf die Verwendung des Heimkehrmotivs<br />
zwei einander entgegen gesetzte Tendenzen erkennen. Zum einen kann eine<br />
bevorstehende oder beabsichtigte Heimkehr einen festen Orientierungspunkt<br />
bieten, der zur Selbstbesinnung anregt. Die Aussicht auf eine Rückkehr sichert<br />
die Identität des Heimkehrers, verleiht Zuversicht und sorgt <strong>für</strong> Ruhe und Zuflucht<br />
vor der bedrohlichen Welt. Die zweite Variante des Heimkehrmotivs<br />
nimmt die Rückkehr (beispielsweise aus Studium, Verbannung oder Emigration)<br />
zum Anlass, Umwelt und Gesellschaft kritisch zu beleuchten beziehungsweise<br />
mit den in der Heimat Verbliebenen abzurechnen. 119 Im Spannungsfeld zwischen<br />
diesen beiden Ansätzen bewegen sich auch die Protagonisten der <strong>für</strong><br />
diese Arbeit ausgewählten Werke.<br />
Wenn auch die historische Präsenz des Motivs außer Frage steht und Motive<br />
weder an bestimmte Stoffe oder Genres gebunden sind, so erscheint dessen<br />
Verwendung im Genre der Anti-Heimat-Literatur doch etwas verwunderlich,<br />
wenn nicht paradox. Die Heimkehr des Protagonisten widerspricht der Grundtendenz<br />
der Anti-Heimat-Literatur, ist diese doch vorrangig durch eine Fluchttendenz<br />
gekennzeichnet. Heimat wird gesehen als „Maske eines sozialen Ortes,<br />
aus dem es wegzugehen gilt.“ 120 Dazu sei verwiesen auf das Schicksal<br />
Holls bei Franz Innerhofer oder jenes der Protagonisten in den Romanen Gernot<br />
Wolfgrubers, deren Bestrebungen darauf abzielen, der einengenden und totalitären<br />
ländlich-provinziellen Lebenswelt zu entfliehen. Die Werke Gernot<br />
Wolfgrubers, eines der bedeutendsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur, können<br />
als beispielhaft <strong>für</strong> diese Tendenz gesehen werden. Bei Wolfgruber steht<br />
der Wunsch nach Veränderung im Zentrum der Romane. Die Hoffnungen, die<br />
an ein Entkommen aus der gegenwärtigen Lebenssituation gekoppelt sind, ba-<br />
119 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 188 – 189.<br />
120 Zeyringer 2001, S. 166.<br />
38
sieren oftmals auf Illusionen und unrealistischen Träumereien. Die Realität sieht<br />
anders aus und so scheitert das Vorhaben des Verlassens der Heimat. Innerhofers<br />
Werk durchzieht tendenziell eine Suche nach einer neuen Heimat fernab<br />
der ursprünglichen. Immerhin gelingt es Holl, sich von seinen Wurzeln loszusagen,<br />
in der Erzählung „Der Emporkömmling“ erfolgt eine temporäre Rückwendung<br />
zur Heimat, was einen Sonderfall in Innerhofers Werk darstellt. Die Heimkehr<br />
stellt somit ein interessantes Alternativmodell zur Fluchttendenz im Anti-<br />
Heimatroman dar und soll auf den folgenden Seiten genauer analysiert werden.<br />
Viel näher liegt die Verbindung des Heimkehrmotivs mit der traditionellen Heimatliteratur.<br />
Das Heimkehrmotiv kann, mit Donnenberg, als Teilaspekt der Heimatthematik<br />
beziehungsweise die Heimatthematik als Teilaspekt der Heimkehrerproblematik<br />
bezeichnet werden. 121 Innerhalb der Heimatliteratur spielt das<br />
Motiv der Heimkehr eine nicht unbedeutende Rolle. Heimat konstituiert sich dabei<br />
oft durch die Abgrenzung gegenüber Fremden. Als solche sind auch Heimkehrer<br />
zu bezeichnen. Des Weiteren werden Heimkehr und Heimkehrer in der<br />
Heimatliteratur dazu verwendet, das positiv besetzte Bild des Dorfes zu verstärken<br />
und die Fremde negativ darzustellen. Die Heimkehr fungiert als Schaltelement<br />
zwischen zwei Milieus, dem der Fremde und dem der Heimat. Dadurch<br />
wird es möglich, beide Welten zu vergleichen. Der Status als Heimkehrer stellt<br />
die Protagonisten den Daheimgebliebenen gegenüber. Diese Verschiedenheit<br />
birgt naturgemäß ein gewisses Konfliktpotential in sich.<br />
Die Heimkehr ist Ausdruck einer Suche und Sehnsucht nach Heimat. Eine<br />
Heimkehr lässt darauf schließen, dass der Heimkehrer seine Heimat noch nicht<br />
gefunden hat. Während im Heimatroman der Handlungsverlauf mehr oder weniger<br />
vorgezeichnet und mit einem guten Ausgang zu rechnen ist, stellt sich die<br />
Frage, wie es damit im Anti-Heimat-Roman bestellt ist. Den Charakteristiken<br />
des Genres entsprechend, dürfte ein positiver Abschluss des Heimkehrprozesses,<br />
eine gelungene Integration in die Gesellschaft, nicht stattfinden, da sich der<br />
Anti-Heimat-Roman dadurch ad absurdum führen würde.<br />
Im klassischen Heimkehrerroman werden die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit<br />
in der Fremde und die Zeit nach der Heimkehr ausführlich geschildert. Dement-<br />
121 Vgl. Donnenberg, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 43.<br />
39
sprechend erstreckt sich der Roman über eine längere Zeitspanne. Die Abschieds-<br />
und Wiedersehensszene sind wichtige Momente im Handlungsverlauf.<br />
Ebenso große Berücksichtigung erhält die Krise des Protagonisten, die zur<br />
Heimkehr führt, sowie die Schilderung der Veränderungen, die während der<br />
Abwesenheit stattgefunden haben. Die klassische Heimkehrergeschichte ist eine<br />
in sich geschlossene Erzählform, die mit der Lösung der Probleme des<br />
Heimkehrers und der Wiederaufnahme in die Gemeinschaft endet. 122<br />
Die Themen Identitätskrise und Suche nach Heimat sind eng mit dem Heimkehrmotiv<br />
verbunden. In der Anti-Heimat-Literatur steht jedoch primär eine andere<br />
Thematik im Vordergrund, welche Meyer-Sickendiek weit gefasst als<br />
„Identifikation der österreichischen Heimat als einer beklemmenden Atmosphäre<br />
latenter Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß<br />
und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische<br />
Gesinnung“ 123 festgelegt hat. Es stellt sich daher auch die Frage, in welchen<br />
Bezug das Heimkehrmotiv zu diesem Kontext gesetzt werden kann.<br />
Hier endet der erste Teil dieser Arbeit. Im Vordergrund stand zum einen ein<br />
Überblick über verschiedene Konzepte von Heimat. Dies ist kein leichtes Unterfangen,<br />
da das Konzept Heimat in erste Linie ein, wie Parin anmerkt, „obligat<br />
individuelles Phänomen“ 124 zu sein scheint, und somit <strong>für</strong> jeden Menschen andere<br />
Vorstellungen impliziert. Trotzdem konnten einige Grundbedingungen<br />
festgelegt werde, ohne die Heimat nicht möglich zu sein scheint, die aber noch<br />
lange keine Garantie da<strong>für</strong> sind.<br />
Zweiter wichtiger Punkt war die Darstellung des Wandels des Heimatbegriffes<br />
in der österreichischen Literatur, vor allem in der Literatur nach 1945. Ein durch<br />
die Geschichte äußerst belasteter Begriff wie Heimat und ein ebenso belastetes<br />
Genre wie die Heimatliteratur machten es notwendig etwas weiter auszuholen,<br />
um die Geschichte der Anti-Heimat-Literatur verstehen zu können. Mit Robert<br />
Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur wurde gezeigt, dass diese nach<br />
wie vor einen wichtigen Stellenwert in der österreichischen Literaturlandschaft<br />
122 Vgl. Khan, Charlotte: Studien zum Motiv der Heimkehr: „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“<br />
von Miroslav Krleža und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke<br />
in einer vergleichenden Betrachtung. Innsbruck: phil. Dipl. 1992, S. 134 – 136.<br />
123 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007.<br />
124 Parin 1996, S. 17.<br />
40
einnimmt. Ebenso vonnöten war ein theoretischer Exkurs zur Motivforschung im<br />
Allgemeinen und zum Heimkehrmotiv im Besonderen, da die Heimkehr im Zentrum<br />
des nun folgenden Teiles stehen wird.<br />
Dieser beschäftigt sich mit ausgewählten Werken der Anti-Heimat-Literatur.<br />
Gemeinsam ist diesen Werken die Rolle des Protagonisten als Heimkehrer.<br />
Dieses verbindende Element soll auch als Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Suche nach<br />
Kontinuitäten und Unterschieden in der Anti-Heimat-Literatur zwischen 1967<br />
und 2006 dienen. Es stellt sich die Frage, welche erzähltechnischen Funktionen<br />
dem Motiv zuteil werden und welche spezifischen Eigenheiten sich aus der Motivverwendung<br />
<strong>für</strong> das Werk ergeben. Gemäß der Beschaffenheit von Motiven<br />
als sowohl strukturgebende, wie auch inhaltsbezogene Einheiten, werden diese<br />
beiden Ebenen bei der Interpretation berücksichtigt.<br />
Zur Werkauswahl: Mit Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) steht eines der zentralen<br />
Werke aus der Zeit des „problematisierten Heimatromans“ 125 beziehungsweise<br />
aus Phase eins nach Menasse am Beginn des Analyseteils. Es<br />
folgt mit „Der Emporkömmling“ (1982) von Franz Innerhofer eine Erzählung des<br />
bekanntesten Vertreters der Anti-Heimat-Literatur. „Der Emporkömmling“ wird in<br />
Beziehung zu den vorhergehenden Werken Innerhofers gesetzt und ist sowohl<br />
Phase zwei als auch Phase drei zuordenbar. Robert Menasses „Schubumkehr“<br />
(1995) beschäftigt sich unter anderem mit Tourismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
und fällt in Phase drei. Als jüngstes und vielleicht düsterstes Werk beschließt<br />
„Das tote Haus“ (2006) von Peter Zimmermann diese Arbeit.<br />
125 Weiss, in: Schmid/Weiss (Hg.) 1976, S. 24.<br />
41
6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fa-<br />
sching“ von Gerhard Fritsch<br />
6.1 Späte Anerkennung<br />
Gerhard Fritsch verfasste neben zahlreichen Gedichten, Hörspielen und kurzen<br />
beziehungsweise nicht abgeschlossenen Prosawerken zwei Romane und war<br />
als Herausgeber der Zeitschriften „Wort in der Zeit“ und später „Literatur und<br />
Kritik“ eine der zentralen Figuren des österreichischen Literaturbetriebes. Sein<br />
erster Roman „Moos auf den Steinen“ (1956) brachte ihm euphorische Kritiken<br />
und großen Erfolg bei der Leserschaft. Elf Jahre danach folgte mit „Fasching“<br />
sowohl inhaltlich, als auch formal, die „reine Negation“ 126 , von „Moos auf den<br />
Steinen“. 127 „Fasching“ war das Produkt intensiver, von zahlreichen unabgeschlossenen<br />
Vorarbeiten begleiteter, Bemühungen die allgemeine Krankheit der<br />
1950er Jahre mit den Symptomen Positivität, Verbindlichkeit und Romantisierung<br />
zu überwinden. 128<br />
Mit Verwunderung und Unverständnis begegneten Kritik und Publikum dem<br />
Roman. Man hatte sich eine Fortsetzung von „Moos auf den Steinen“ erhofft<br />
und wurde brutal vor den Kopf gestoßen. „Fasching“ wurde überwiegend negativ<br />
rezensiert und verkaufte sich äußerst schlecht. 129 Die Geschichte eines minderjährigen<br />
Deserteurs (und als solcher eines Verräters), der eine Stadt vor<br />
dem Untergang bewahrt, trotzdem oder gerade deswegen denunziert wird und<br />
mit seiner Heimkehr an den von ihm Geretteten zugrunde geht, widersprach der<br />
126<br />
Menasse, Robert: Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von<br />
Gerhard Fritsch. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.<br />
Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 209 – 224,<br />
S. 219.<br />
127<br />
Hierzu sei angemerkt, dass eine kritische Lektüre von „Moos auf den Steinen“ sehr wohl<br />
auch Passagen enthält, die sich als kompromisslose Kritik an Österreich und seinem Umgang<br />
mit der Vergangenheit deuten lassen. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin: „Modo Austriaco“ – Gerhard<br />
Fritsch und die Literatur in Österreich. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard<br />
Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 25 – 33, S. 32.<br />
128<br />
Vgl. Wolfschütz, Hans: Von der Verklärung zur Aufklärung. Zur Entwicklung Gerhard<br />
Fritschs. In: Literatur und Kritik 12 (1977), S. 10 – 19, S. 13.<br />
129<br />
Für einen Überblick über Rezensionen und Kritiken vgl. Alker, Stefan: Das Andere nicht zu<br />
kurz kommen lassen. Werk und Wirken von Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007, S. 169 –<br />
177.<br />
42
Strategie des Verdrängens, wie sie in weiten Teilen der Bevölkerung und auch<br />
im Literaturbetrieb praktiziert wurde. Die Kontinuitäten, die in „Fasching“ aufgezeigt<br />
wurden, waren nicht jene, von denen man nach dem Krieg träumte.<br />
Viele Jahre später setzte allmählich eine Relektüre des Romans ein und erst in<br />
den letzten Jahren wurde dem Gesamtwerk Fritschs und somit auch „Fasching“<br />
die Aufmerksamkeit zuteil, die es sich schon viel früher verdient hätte. Es ist<br />
den Ereignissen im Präsidentschaftswahlkampf 1986 zu verdanken, dass „Fasching“<br />
erstmals wieder verstärkt rezipiert wurde. Im Zuge der Waldheimaffäre<br />
gewann der Roman an Aktualität, das Thema der Pflichterfüllung in der Deutschen<br />
Wehrmacht wurde wieder in der Öffentlichkeit präsent. Wenn Kurt Waldheim<br />
im Fernsehen beteuerte, nur seine Pflicht getan zu haben, wie viele andere<br />
Österreicher auch, so war dies haargenau die Rhetorik eines Lois Lubits in<br />
„Fasching“: „Wir, die wir unsere Pflicht getan haben, sind und bleiben Kameraden,<br />
die wissen, wo<strong>für</strong> und warum es gilt, wachsam zu sein, auf Posten zu stehen,<br />
jeder wo er steht.“ 130<br />
Robert Menasse setzte sich intensiv mit Leben und Werk von Gerhard Fritsch<br />
auseinander und bemühte sich um eine Neuauflage von „Fasching“, die<br />
schließlich 1995 bei Suhrkamp erschien. Menasse verfasste das Nachwort dazu.<br />
Für Menasse ist der Transvestismus die durchgehende Metapher in „Fasching“.<br />
Felix, der Deserteur in Frauenkleidern, musste den Stadtbewohnern als<br />
Karikatur ihres eigenen Transvestismus, ihrer Wandlung von zumindest nationalsozialistischen<br />
Mitläufern zu vermeintlich vorbildhaften Demokraten erscheinen.<br />
Die Desertion und die Rettung der Stadt stellten einen Verrat an der Ideologie,<br />
der man insgeheim noch anhing, dar. 131<br />
Dass Fritsch damit einen wunden Punkt getroffen hatte, zeigen die Reaktionen<br />
die auf das Erscheinen des Romans folgten. Dieser geht jedoch über eine rein<br />
auf Österreich bezogene Lesart hinaus:<br />
Mit dem Transvestismus als durchgehendem Motiv in ´Fasching` hat<br />
Fritsch eine große Metapher nicht nur <strong>für</strong> das österreichische, son-<br />
130<br />
Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 99. Im Folgenden zitiert als<br />
FA.<br />
131<br />
Vgl. Menasse, Robert: Auf diesem Fasching tanzen wir noch immer. In: Fritsch, Gerhard:<br />
Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 241 – 249, S. 243.<br />
43
dern schlechthin <strong>für</strong> das menschliche Wesen in großen sozialen und<br />
politischen Umbruchzeiten geschaffen, das stimmige und leider bleibende<br />
Psychogramm <strong>für</strong> all jene, die, wenn in den Geschichtsbüchern<br />
von ´Untergang` die Rede ist, nicht untergehen, und das sind<br />
eben Menschen, die die Systeme überleben. 132<br />
Mit dem Ankauf des Nachlasses von Gerhard Fritsch durch die Wiener Stadtund<br />
Landesbibliothek im Jahr 2004 konnte eine intensive wissenschaftliche<br />
Auseinandersetzung mit dem Autor in Gang gesetzt werden. Aus der Aufarbeitung<br />
dieses Nachlasses resultiert Stefan Alkers Monographie „Das Andere nicht<br />
zu kurz kommen lassen“ (2007). Darin betont Alker unter anderem die sexuelle<br />
Komponente in „Fasching“ und begründet diese Tatsache mit Fakten aus<br />
Fritschs Biographie. 133 Es war auch diese stellenweise sehr explizite Schilderung<br />
von Sexualität, die in den 1960er Jahren bei allen Kritikern auf Ablehnung<br />
und Empörung stieß, wobei nicht erkannt wurde, dass dieses Strukturelement in<br />
enger Verbindung zur faschistischen Thematik steht. 134 Durch die erstmalige<br />
ausführliche Fokussierung auf das sexuelle Element durch Alker wird eine weitere<br />
Relektüre ermöglicht.<br />
6.2 Heimkehr eines Deserteurs<br />
„Fasching“ ist erzählerisch sehr ambitioniert gestaltet. Innerhalb des Romans<br />
lassen sich drei Ebenen feststellen. Die beiden Handlungsebenen sind durch<br />
eine zeitliche Distanz voneinander getrennt. Ebene eins behandelt die Zeit von<br />
Felix´ Flucht zu Silvester 1944 bis zur sowjetischen Kriegsgefangenschaft.<br />
Ebene zwei setzt ein mit der Rückkehr in die Stadt und endet vier Tage später<br />
in den Turbulenzen des Faschingsballes. Wie in einem Film laufen die Erinne-<br />
132<br />
Menasse, Robert: Wir machen die Musik. In: Fritsch, Gerhard: Katzenmusik. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp 2006, S. 109 – 126, S. 117. Auf die Allgemeingültigkeit des in „Fasching“ dargestellten<br />
gesellschaftlichen Modells hat bereits Baumann hingewiesen, gleichzeitig jedoch einen spezifischen<br />
Österreichbezug negiert. Vgl. Baumann, Ingo: Über Tendenzen antifaschistischer Literatur<br />
in Österreich. Analysen zur Kulturzeitschrift „Plan“ und zu Romanen von Ilse Aichinger,<br />
Hermann Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko und Hans Weigel. Wien: phil.<br />
Diss. 1982, S. 333.<br />
133<br />
Vgl. Alker 2007, S. 141 – 280. Schon Baumann hat in seiner Dissertation darauf hingewiesen,<br />
seine Analyse jedoch mit dem Schwerpunkt auf Faschismus und Antifaschismus verfasst.<br />
Vgl. Baumann 1982, S. 320 – 348.<br />
134<br />
Vgl. Garscha, Beatrix: Obdachlose Helden: Defizite der österreichischen Identität. Faschismus<br />
im österreichischen Roman nach 1945. Wien: phil. Diss. 1997, S. 44 – 46.<br />
44
ungen vor Felix´ geistigem Auge noch einmal ab. Die beiden Erzählstränge<br />
werden verbunden durch eine reflektorische Ebene, wobei sich die Grenzen am<br />
Ende des Romans auflösen, der Erzählstrang geht nahtlos in die Reflexion<br />
über. Somit endet der Roman in der absoluten Gegenwart, im Versteck unter<br />
Raimund Wazuraks Schreibtisch. Da der Roman nicht einer linearen Anordnung<br />
folgt, sondern sich die Abschnitte abwechseln, erschließen sich Zusammenhänge<br />
und Parallelen erst im Verlauf der Lektüre. Insgesamt gibt es sieben Kapitel,<br />
dazu einen reflexiven Teil zu Beginn. Die in Großbuchstaben gedruckten<br />
ersten zwei bis drei Wörter der Kapitel verweisen auf Felix´ Rolle in der Stadtgemeinschaft:<br />
„Da war er – noch immer gefangen – ohne es zu wissen –<br />
rechtskräftig verurteilt – als grösste Gefahr – <strong>für</strong> die Bewahrung – aller echten<br />
Werte.“ Erzähltechnisch besteht „Fasching“ aus „einem einzigen inneren Monolog,<br />
der überwiegend erzählerisch und nur zum kleinen Teil – wie es dem Monolog<br />
an und <strong>für</strong> sich entspräche – reflexiv bestimmt ist.“ 135 Die Besonderheit<br />
dieses Monologs besteht darin, dass „Felix in den Erzählabschnitten die distanzierende<br />
Perspektive der 3. Person wählt. Damit wird er zum distanzierten Beobachter<br />
und Kommentator seiner eigenen Handlungen, wobei er von außen<br />
gleichsam sich selbst zusieht.“ 136 Der Monolog erinnert dadurch stark an die<br />
Form des Berichtes.<br />
„Fasching“ ist ein Roman, der von Beginn weg zu einem ständigen Hinterfragen<br />
des Heimkehrmotivs zwingt. Das Motiv dient in diesem Fall nicht dazu, eine<br />
komplizierte Situation zu vereinfachen, sondern zusätzliche Fragen aufzuwerfen.<br />
Während Felix die Heimkehr, der klassischen Motivkonzeption entsprechend,<br />
mit dem Wunsch nach Ruhe und Aufnahme in die Gemeinschaft verbindet,<br />
stellt sich angesichts der Vorgeschichte und der Struktur der ingroup schon<br />
sehr bald die Frage, wie dies gelingen soll. Denn im Gegensatz zum Protagonisten<br />
wird dem Rezipienten, trotz der komplexen erzählerischen Struktur, die<br />
bewirkt, dass sich die Handlung erst nach und nach erschließt und anfangs viele<br />
Zusammenhänge im Verborgenen bleiben, bald klar, dass Felix nicht nur in<br />
eine fremde Heimat, sondern in eine feindliche Anti-Heimat zurückkehrt. Je<br />
135<br />
Baumann 1982, S. 321 – 322.<br />
136<br />
Schimpl, Karl: Weiterführung und Problematisierung. Untersuchungen zur künstlerischen<br />
Entwicklung von Gerhard Fritsch. Stuttgart: Heinz 1982, S. 65.<br />
45
mehr sich dieser Schleier lüftet, desto rätselhafter erscheinen aber auch die<br />
Gründe <strong>für</strong> Felix´ Rückkehr. Auch angesichts der Krise des Heimkehrers (keine<br />
familiären und finanziellen Ressourcen, keine Ausbildung, lange Gefangenschaft)<br />
kann die Heimkehr objektiv nicht schlüssig begründet werden. In „Fasching“<br />
erscheint die Rückkehr schon von vornherein als ungeeignetes Mittel<br />
zur Bewältigung der Krise, das Heimkehrmotiv kann also keine Hilfe bei der Erschließung<br />
des Textes leisten. Die Widersprüchlichkeiten setzen sich auch in<br />
Bezug auf die Figur des Heimkehrers fort. Typische Heimkehrer sehen anders<br />
aus. Die Bewertung der Hauptfigur stellt eine große Herausforderung <strong>für</strong> den<br />
Leser dar, denn Felix ist keine ausschließlich positiv gezeichnete Figur, was die<br />
Identifikation mit ihm erschwert. Sein Verhalten evoziert Protest und Ablehnung.<br />
In Raimund Wazurak hat Felix ein Spiegelbild, das auf die Unmöglichkeit seines<br />
Unterfangens hinweist. Raimund ist selbst ein Außenseiter in der Stadt, kein<br />
Einheimischer und mit dem Stigma der Homosexualität behaftet. Er hat sich jedoch<br />
mit der Gesellschaft arrangiert beziehungsweise deren Unterwerfungswünschen<br />
bereitwillig Folge geleistet, indem er die ihm zugedachte Rolle erfüllt.<br />
Aus seiner Existenz lässt sich der einzig mögliche Verlauf einer dauerhaften<br />
Heimkehr deuten: „Backe links und Backe rechts darbieten, die Schläge gehen<br />
in Tätscheln über, der Argwohn in Wohlgefallen, alle Gegensätze in die große<br />
Synthese.“ 137<br />
In Raimunds Phrasen versteckt sich implizit der Hinweis auf die Kontinuität der<br />
alten Verhältnisse: „...aber es hat keinen Sinn in alten Wunden zu stochern,<br />
Lubits und Wahrhejtl haben sich geändert, in sich gegangen ist Plabutsch, geläutert<br />
sind sie wie ich, sie wollen ihre Ruhe haben wie wir.“ 138 Raimunds<br />
Ratschläge kann der Rezipient nur als Warnungen auffassen, Felix selbst versucht<br />
diese zu befolgen und läuft blindlings ins offene Messer.<br />
Auch im wissenschaftlichen Diskurs wurde die Frage nach Felix´ Persönlichkeit<br />
ausführlich erörtert. Es mag zutreffen, dass Felix in Bezug auf die erste Handlungsebene<br />
durchaus heldenhafte Züge trägt, wie Garscha in ihrer Analyse<br />
feststellt, die Felix als Helden, der bis zum bitteren Ende Widerstand gegen die<br />
faschistische ingroup leistet und dadurch seine innere Identität bewahrt, klassi-<br />
137 FA, S. 224.<br />
138 FA, S. 14.<br />
46
fiziert. 139 In Zusammenhang mit der Heimkehr sind heldenhafte Momente jedoch<br />
nicht mehr vorhanden, die fallweise Auflehnung gegen die Stadtbevölkerung<br />
lässt sich eher als verzweifelter Versuch einer Abwehr physischer Bedrohungen,<br />
denn als heldenhafte, von antifaschistischer Ideologie angetriebene<br />
Handlung sehen (Bevor sich Felix beispielsweise am Faschingsball gegen die<br />
Attacken wehrt, verhält er sich einen ganzen Abend lang passiv und lässt die<br />
Demütigungen über sich ergehen). Erst im Nachhinein reflektiert er seine Strategie<br />
der „ehrliche[n] Anbiederung“ 140 und erkennt sich als „Opportunist in der<br />
Grube, der sich <strong>für</strong> das darüber befindliche wackelige Häuschen und dessen<br />
Besitzerin zu allem hergibt, sich vielleicht sogar um die Mitgliedschaft beim Kameradschaftsverein<br />
bewürbe,...“ 141<br />
Während der kritisch-reflexive Prozess erst am Ende der Heimkehr einsetzt,<br />
zeigt sich davor ein wesentlich anderes Bild des Protagonisten: „Ich will Ruhe,<br />
ich bin zehn Jahre in Russland gewesen, ich will heiraten“ 142 , wünscht sich Felix,<br />
und an anderer Stelle: „Ich möchte ja Kleinbürger werden, Fotograf, sonst<br />
nichts.“ 143 In Passagen wie diesen lässt sich wenig Heldenhaftes finden, gegen<br />
Ende zeigt Felix bereits Ansätze, Werte und Ideologie der ingroup zu übernehmen:<br />
„...in Treue fest wie noch nie, er gehörte her, er gehörte dazu,...“ 144<br />
Für Berger ist die Geschichte Felix´ die Geschichte eines moralischen Verfalls:<br />
Die Substitution des ethischen Humanismus, mit dem er handelnd<br />
als Deserteur und Widerstandskämpfer angetreten war, durch die<br />
scheinbar überlegene und abgeklärte moralische Haltung des Heimgekehrten,<br />
der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt, erweist<br />
sich in der Grubensituation als Haltlosigkeit. 145<br />
Louis vereint die beiden Pole, indem sie Felix sowohl opportunistische, als auch<br />
revoltierende Züge zuerkennt. Auf die Rezeption bezogen, bedeutet dies, dass<br />
139<br />
Vgl. Garscha 1997, S. 103 – 104.<br />
140<br />
FA, S. 221.<br />
141<br />
FA, S. 145.<br />
142<br />
FA, S. 166.<br />
143<br />
FA, S. 146.<br />
144<br />
FA, S. 224. Unschwer lässt sich hier ein intertextueller Verweis auf den Wahlspruch der Waffen-SS<br />
erkennen: “Meine Ehre heißt Treue”.<br />
145<br />
Berger, Albert: Überschmäh und Lost in Hypertext. Eine vergleichende Re-Lektüre von Gerhard<br />
Fritschs Romanen „Moos auf den Steinen“ und „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner,<br />
Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 57 – 77,<br />
S. 74.<br />
47
der Leser gezwungen ist, in seiner Bewertung ständig zwischen den beiden Polen<br />
zu wechseln. Felix kann nicht als Typus mit überschaubaren, klassifizierbaren<br />
Eigenschaften definiert werden, vielmehr zwingt er zu einem ständigen Verschieben<br />
und Revidieren der Perspektiven, was dazu animiert, von vorschnellen<br />
Bewertungen abzusehen und die eigene Wahrnehmung permanent<br />
zu hinterfragen. 146 Louis hat nicht Unrecht, wenn sie sich ausschließlich auf die<br />
erste Handlungsebene beziehen würde. Denn da war Felix sowohl Opportunist<br />
als auch Held, er nutzte die Gelegenheit, in Frauenkleidern den Krieg zu überleben<br />
und warf seine Partisanenträume über Bord, und er rettete die Stadtbevölkerung<br />
durch die Überwältigung des Kommandanten. Als Heimkehrer jedoch,<br />
und hier zeigt sich die kontrastierende Funktion des Motivs, ist Felix weder<br />
Held noch Opportunist. Als Heimkehrer ist Felix einzig davon geleitet, eine<br />
Heimat zu finden und bereit, da<strong>für</strong> auch Opfer in Kauf zu nehmen. Mit der<br />
Rückkehr in die Stadt ergreift er keine günstige, sondern die einzige Möglichkeit<br />
sein Ziel zu erreichen und wählt die Strategie der Anbiederung, da er sich von<br />
dieser die Bewältigung seiner Krise erhofft. Der Heimkehrer agiert mehr pragmatisch<br />
denn opportunistisch und glaubt bis zuletzt an seinen Erfolg, seine verzweifelte<br />
Situation versperrt ihm den Blick auf die Realität.<br />
In „Fasching“ erhält das Heimkehrmotiv eine neue Bedeutung. Die Fragen, warum<br />
Felix heimkehrt und wie er einzuordnen ist, werden nicht beantwortet. Herkömmliche<br />
Muster können nicht herangezogen werden, um die Rezeption zu<br />
erleichtern. Die literaturwissenschaftlichen Diskussionen zeigen, dass sich diese<br />
Fragen bis heute nicht eindeutig beantworten lassen.<br />
Nach dieser Darstellung der widersprüchlichen Aspekte des Motivs nun zur<br />
Analyse der Struktur- und Verlaufsebene.<br />
In Bezug auf die strukturelle Funktion des Heimkehrmotivs fällt die Verknüpfung<br />
mit der reflexiven Ebene auf. Felix´ prekäre Situation in seinem Versteck respektive<br />
Gefängnis ist als direktes Resultat seiner Heimkehr zu verstehen. Die<br />
Heimkehr hat ein Handlungsgefüge ausgelöst, das in einer ausweglosen Situation<br />
endet. So fragt sich Felix auch: „Soll ich vor zwölf Jahren beginnen und<br />
146<br />
Vgl. Louis, Raffaele: Das ausgesetzte Urteil. Eine poetologische Lektüre von Gerhard<br />
Fritschs Roman „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller<br />
in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 111 – 131, S. 120 – 121.<br />
48
mich in diesem Loch zum ersten Mal verstecken lassen, soll ich vor vier Tagen<br />
ankommen, der dringenden Einladung folgend, den Fasching mitzumachen?“ 147<br />
Felix erkennt die Parallelen zwischen den beiden Handlungsebenen, die er lange<br />
nicht wahrhaben wollte. Die Flucht vor zwölf Jahren und die Heimkehr vor<br />
vier Tagen führten zu ähnlichen Ergebnissen.<br />
Motive wie die Heimkehr haben die Funktion, zwei Ebenen zu kontrastieren.<br />
Diese Verwendung bezüglich der Figur des Heimkehrers selbst wurde weiter<br />
oben schon dargelegt. Auch die beiden Handlungsebenen werden rückblickend<br />
von der Reflexionsebene aus kontrastiert beziehungsweise in diesem Fall parallelisiert.<br />
Denn im speziellen Fall von „Fasching“ verschwindet die Polarität zusehends,<br />
es kommt zu einer Angleichung von Vergangenheit und Gegenwart.<br />
Die Ursache liegt darin begründet, dass schlicht und einfach keine Veränderungen<br />
stattgefunden haben. Der Heimkehrer findet ein in personeller und ideologischer<br />
Hinsicht unverändertes System vor. Zwar erstrahlen die Fassaden der<br />
Häuser in neuem Glanz und wurde das Gasthaus von Reichs- in Doppeladler<br />
umbenannt, hinter den Kulissen herrscht jedoch nach wie vor der alte Geist, der<br />
<strong>für</strong> Feiglinge und Vaterlandsverräter kein Verständnis aufbringt.<br />
Felix´ Situation als heimgekehrter Deserteur löst permanent Ereignisse aus, die<br />
stets demselben Muster folgen. Das Wiedersehen mit dem Kollektiv der Kleinstadt<br />
(im Roman im Wesentlichen repräsentiert durch deren Honoratioren) folgt,<br />
basierend auf der klassischen ingroup-outgroup-Konstellation, einem Schema,<br />
das nur hinsichtlich der Intensität des Unterdrückungsprozesses eine Steigerung<br />
erfährt. Baumann hat dabei drei zur Anwendung kommende Mechanismen<br />
definiert: die Demütigung, die Verleumdung, sowie körperliche und seelische<br />
Folter. 148 Anhand des Beispieles der Demütigung soll exemplarisch gezeigt<br />
werden, dass diese Mechanismen in fester Verbindung mit der Heimkehr stehen<br />
und eine wichtige strukturierende Rolle übernehmen.<br />
Die Demütigung zeigt sich im Gelächter, das Felix bei jeder Begegnung mit der<br />
Stadtbevölkerung begleitet. Leitmotivisch zieht sich dieses Lachen durch den<br />
Roman. Das Motiv der Heimkehr als Auslöser von Prozessen, an deren Ende<br />
147 FA, S. 10.<br />
148 Vgl. Baumann 1982, S. 341.<br />
49
das Gelächter als Form der Unterdrückung steht, bildet eine sich wiederholende<br />
textliche Einheit. Kurz nach der seiner Ankunft begegnen Felix und Raimund<br />
der Faschingskommission, die sich aus der Prominenz der Stadt zusammensetzt.<br />
Während Felix den Hut zieht, erwidert die Kommission diesen Gruß nicht<br />
und verharrt in Schweigen. Als die beiden ins Haus treten, bricht „die Kommission<br />
in Gelächter aus, exakt einsetzendes Gewieher, Gegluckse, Gegacker.“ 149<br />
Ebenso bei der Führung durch das Heimatmuseum, bei der Felix gefoltert und<br />
genötigt wird, eine Erklärung zu unterschreiben, in welcher er jegliche Beteiligung<br />
an der Rettung der Stadt dementiert: „Oben stand Hilga, neben ihr Radegund<br />
Plabutsch, Umrisse vor einem Fenster. Gelächter. Er richtete sich auf,<br />
grüßte.“ 150 An anderer Stelle ist es Raimund, der Felix, nicht zum ersten Mal,<br />
vorwirft, selbst Schuld an der ungünstigen Entwicklung zu sein: „Du hast mich<br />
desavouiert. Ich habe deine Verdienste gerühmt, mich überall um deine Anerkennung<br />
bemüht, ungeachtet des Gelächters, ich hätte sie durchgesetzt, und<br />
du!“ 151 Dieses Lachen definiert die feindliche Grundhaltung, die Felix entgegenschlägt.<br />
Doch selbst mit zunehmender Steigerung der Demütigungen missdeutet<br />
Felix seine Situation, ja er selbst stimmt in das Lachen ein, als er in sein Versteck<br />
hinuntersteigt:<br />
50<br />
Ich habe gelacht und sie [Vittoria, d. Verf.] hat gelacht, ich höre uns<br />
noch lachen, beide ein einziges Gelächter, ich sehe sie noch lachen,<br />
oben, plötzlich hoch über mir, lachend habe ich mich in der Grube<br />
zurechtgesetzt, lachend hat sie gesagt, hier findet dich keiner, lachend<br />
habe ich gesagt, vergiß mich nicht. 152<br />
Die obige Passage ist zugleich der Beginn des Romans, der Verlauf der Handlung<br />
wird also schon zu Beginn angedeutet, das Ende vorweggenommen. Dies<br />
erschließt sich jedoch erst im Laufe der Lektüre.<br />
Die Analyse hat die besondere Funktion des Heimkehrmotivs in „Fasching“ gezeigt.<br />
Die Motivation zur Heimkehr ist nicht nachvollziehbar, der Verlauf jedoch<br />
folgt einem klaren Schema und offenbart die Parallelen zur ersten Handlungs-<br />
149 FA, S. 13.<br />
150 FA, S. 150.<br />
151 FA, S. 171.<br />
152 FA, S. 7.
ebene. Die durch die komplexe formale Struktur und die atypische Ausgangssituation<br />
entstandene Verwirrung wird durch einen schematischen Ablauf strukturiert,<br />
was den Zugang zum Text erleichtert, ohne den Spannungsbogen zu zerstören.<br />
Dies ist insofern beachtenswert, da in der Regel gerade die unterschiedlichen<br />
Lösungsmöglichkeiten <strong>für</strong> die Spannung verantwortlich sind, hier<br />
jedoch aufgrund der Bedingungen, unter denen sich die Heimkehr vollzieht, eine<br />
positive Bewältigung der Krise der Hauptfigur a priori ausgeschlossen werden<br />
kann. Im Spannungsfeld zwischen den Themen Auflehnung und Anpassung<br />
beziehungsweise Freiheit und Begrenzung strukturiert das Motiv von Beginn<br />
an den Handlungsverlauf in Richtung Anpassung (in Form von Felix´ Bemühungen<br />
sich anzubiedern) und Begrenzung (die in der aussichtslosen<br />
Schlusssituation gipfelt). In Bezug auf die Typologie nach Daemmrich/Daemmrich<br />
steht zu Beginn die erste Variante im Vordergrund. Felix strebt<br />
nach Ruhe und Harmonie und bemerkt nicht, dass ihm diese Ziele verwehrt<br />
sind. Mit Fortlauf des Romans ergibt sich <strong>für</strong> den Leser ein zunehmend negatives<br />
Bild einer seit den nationalsozialistischen Tagen kaum veränderten Gesellschaft.<br />
In Felix selbst jedoch hat sich durch seine Zeit in der Fremde, entgegen<br />
der herkömmlichen Charakterentwicklung des Heimkehrers, die Fähigkeit zu<br />
kritischer Reflexion nicht verstärkt, sondern abgebaut beziehungsweise hat die<br />
Verzweiflung den Blick auf die Realität getrübt. Er orientiert sich mit gutem<br />
Glauben an der von Raimund, der sich als ebenfalls ortsfremder Außenseiter<br />
mit der ingroup arrangiert hat, empfohlenen Strategie, die auch ihm am Nützlichsten<br />
erscheint. Dass es zu einer exakt konträren Entwicklung kommt, zeichnet<br />
sich schon sehr bald ab, Felix erkennt die Fakten aber erst, als es zu spät<br />
ist und er dem Tod ins Auge sieht.<br />
6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs<br />
In „Fasching“ ergibt sich ein neues Muster der Heimkehrsituation, das zwar Anleihen<br />
bei der traditionellen Heimatliteratur oder dem Heimkehrerroman nimmt,<br />
in seiner Gesamtheit jedoch einzigartig ist.<br />
51
Zusammenfassend noch einmal die Schwierigkeiten, die sich dadurch <strong>für</strong> die<br />
Rezeption ergeben: durch die nicht schlüssige Begründung der Heimkehr wird<br />
gleich zu Beginn die Interpretation erschwert. Die Charakterisierung des Heimkehrers<br />
erlaubt es nicht, diesen zu kategorisieren. Herkömmliche, im kollektiven<br />
Gedächtnis der Rezipienten abgespeicherte Heimkehrsituationen können nicht<br />
auf die vorliegende Konstellation angewendet werden. Der (schematische) Verlauf<br />
der Heimkehr (gezeigt anhand der durchgehenden Koppelung an das Gelächter)<br />
und Felix´ (schematisches) Handeln sind nicht kongruent. Felix´ Charakterisierung<br />
lässt kaum Identifikation mit ihm zu, aber noch weniger gelingt<br />
dies bezüglich der ingroup. Die durch die Heimkehr bewirkte schonungslose<br />
Darstellung der Stadtbevölkerung, welche die österreichische Gesellschaft und<br />
damit auch die Rezipienten repräsentiert, zeigt verdrängte Kontinuitäten und<br />
unbequeme Wahrheiten, dies bewirkt Proteste und Widerstände. 153<br />
In diesen Besonderheiten mag auch die Ablehnung begründet sein, die der<br />
Roman nach seinem Erscheinen hervorrief. Die traditionelle Heimatliteratur war<br />
erfolgreich, weil sie den von der Leserschaft in sie gesetzten Erwartungen entsprach.<br />
Die Handlungsverläufe waren schematisiert, die handelnden Personen<br />
eindeutig definiert und die Grenzen zwischen Gut und Böse genau gezogen.<br />
„Fasching“ hingegen ließ sich nicht einordnen, enttäuschte die Erwartungshaltungen,<br />
überforderte durch seine Struktur und provozierte durch die Thematik.<br />
Wie Jauß in seinen Überlegungen zu einer rezeptionsästhetischen Grundlegung<br />
der Literaturgeschichte bemerkt hat, weckt jede Rezeption eines neuen<br />
Werkes Erinnerungen an schon Gelesenes und evoziert durch vertraute Merkmale<br />
oder implizite Hinweise Erwartungen an den weiteren Handlungsverlauf.<br />
Das Vorwissen des Lesers präformiert den Erwartungshorizont, der an das<br />
neue Werk gesetzt wird. Das neue Werk kann die Erwartungen erfüllen, es<br />
kann aber auch zu einer Variation oder Korrektur der durch Gattungs- Stil- oder<br />
Formkonventionen geprägten Annahmen kommen. 154 Jauß erwähnt als Beispiel<br />
da<strong>für</strong> „Don Quijote“ von Cervantes. In diesem Werk wird der Erwartungshori-<br />
153<br />
Interessanterweise ist auch Johann Unfreund, die Hauptfigur in Hans Leberts „Die Wolfshaut“,<br />
ein Heimkehrer.<br />
154<br />
Vgl. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In:<br />
Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Wilhelm Fink 1975,<br />
S. 126 – 162, S. 131 – 132.<br />
52
zont der beliebten und weit verbreiteten Ritterromane evoziert und in weiterer<br />
Folge parodiert. 155<br />
Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont<br />
und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen<br />
Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig<br />
ausgesprochener Erfahrungen einen ´Horizontwandel` zur Folge<br />
haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum<br />
der Reaktionen des Publikums und des Urteils der Kritik (spontaner<br />
Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, allmähliches<br />
oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständlichen.<br />
156<br />
Bei einer sehr großen ästhetischen Distanz kann es sehr lange dauern, bis das<br />
Werk in den Erwartungshorizont des Publikums eingegangen ist. Werke mit geringer<br />
ästhetischer Distanz werden unverzüglich von einer breiten Leserschicht<br />
akzeptiert. „Fasching“ war seiner Zeit voraus beziehungsweise waren Publikum<br />
und Kritik leider noch nicht in den 1960er Jahren angekommen. Man erwartete<br />
sich eine Fortsetzung des zehn Jahre zuvor erschienenen Romans „Moos auf<br />
den Steinen“. Sowohl in inhaltlicher, als auch formaler Hinsicht, dies gilt auch<br />
besonders <strong>für</strong> das Heimkehrmotiv, sprengte „Fasching“ die bisher herrschenden<br />
Grenzen. Die innovative Verwendung des Motivs bedeutete vor dem Hintergrund<br />
traditioneller Heimatliteratur und in Anbetracht des Umgangs mit der<br />
nationalsozialistischen Vergangenheit einen radikalen Bruch mit den bisherigen<br />
literarischen Konventionen, durch die komplexe formale Struktur wurde die inhaltliche<br />
Negation der gewohnten Erfahrungen verstärkt. Erst Jahre später<br />
konnte „Fasching“ unvoreingenommen rezipiert und in seiner Bedeutung <strong>für</strong> die<br />
österreichische Literatur erkannt werden. Der Erwartungshorizont des Publikums<br />
hatte sich verändert, „Fasching“ wurde zu einem Teil des literarischen<br />
Kanons. Jauß meint, dass die ästhetische Distanz „in dem Maße verschwinden<br />
kann, wie die ursprüngliche Negativität des Werkes zur Selbstverständlichkeit<br />
geworden und selbst als nunmehr vertraute Erwartung in den Horizont künftiger<br />
ästhetischer Erfahrung eingegangen ist. 157 Dass die Diskussion über den Roman<br />
noch immer anhält, etwa in Bezug auf die Bewertung der Hauptfigur, und<br />
155<br />
Vgl. Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 132.<br />
156<br />
Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 133.<br />
157<br />
A. a. O., S. 134.<br />
53
um neue Aspekte (Sexualität) erweitert wird, spricht <strong>für</strong> dessen große ästhetische<br />
Distanz. In den 1970er Jahren avancierte die Anti-Heimat-Literatur zum<br />
wichtigsten literarischen Genre in Österreich, „Fasching“ muss als Wegbereiter<br />
dieser Entwicklung gesehen, als einer der ersten Romane in der „literarischen<br />
Reihe“ (Jauß) dieses Genres.<br />
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit einem Werk des renommiertesten Anti-<br />
Heimat-Dichters der oben genannten Zeitspanne.<br />
7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die<br />
Rede sein.“ – „Der Emporkömmling“ von Franz In-<br />
nerhofer<br />
7.1 Teil vier einer Trilogie?<br />
Nachdem Franz Innerhofer mit der „Wucht der Authentizität“ 158 seines Debüts<br />
„Schöne Tage“ (1974) einen unerwartet großen Erfolg verbuchen konnte, war<br />
der Erwartungsdruck seitens der Kritik, seine weiteren Veröffentlichungen<br />
betreffend, sehr groß. Es folgten „Schattseite“ (1975) und „Die großen Wörter“<br />
(1977). Den hohen Erwartungen konnte Innerhofer nicht gerecht werden, von<br />
Werk zu Werk mehrten sich kritische Stimmen und negative Rezensionen. In<br />
seinen ersten drei Romanen zeichnet Innerhofer den Weg des Protagonisten<br />
Holl vom Leibeigenen auf dem „Bauern-KZ“ seines Vaters über seine Lehre und<br />
Übersiedlung in die Stadt bis hin zum Studium an der Universität nach. Der<br />
Weg heraus aus der Enge der bäuerlichen Unterdrückung hin zum Intellektuellen<br />
gestaltet sich äußerst schwierig und ist von Rückschlägen begleitet. Im letzten<br />
der drei Romane kommt die Enttäuschung in besonders klarer Form zum<br />
Ausdruck. Auch die Welt der Wissenschaft, der universitäre Betrieb, lassen den<br />
158<br />
Greiner, Ulrich: Ein Alleingang, der Größe hat: „Schöne Tage“, „Schattseite“ und „Die großen<br />
Wörter“. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits, Kritiken zur österreichischen<br />
Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979, S. 108 – 121, S. 113.<br />
54
Suchenden nicht fündig werden. Holl wird auch in der Stadt, in der Welt des<br />
Geistes und der Kultur nicht heimisch.<br />
Innerhofers Werk wird tendenziell auf seine ersten drei Romane reduziert, wobei<br />
auch hier auf ein fallendes erzählerisches Niveau verwiesen wird. „Schöne<br />
Tage“, „Schattseite“ und „Die großen Wörter“ werden als „(Holl-)Trilogie“ bezeichnet.<br />
Das restliche Werk Innerhofers stieß bei der Kritik, wie auch bei der<br />
Leserschaft, nur mehr auf geringe Zustimmung. Franz Innerhofer wurde von der<br />
Literaturkritik und den Medien genauso schnell fallengelassen wie er hochgejubelt<br />
worden war. Dass ihm in seinen späten Jahren oft mit einer gewissen Voreingenommenheit<br />
begegnet wurde, ist, auch wenn die wechselhafte Qualität<br />
seiner Werke außer Frage steht, bedauerlich. Des Weiteren zu bedauern ist die<br />
teilweise äußerst schlampige und oberflächliche Weise, in welcher bisweilen<br />
Tatsachen verdreht werden. So wird in der Zeitschrift Wespennest behauptet,<br />
„Die großen Wörter“ sei in der ersten Person geschrieben 159 , an anderer Stelle<br />
heißt der Protagonist von „Der Emporkömmling“ Karl Lambrecht 160 , ein Rezensent<br />
behauptet, dieser Lambrecht kehre auf den Hof seines Vaters zurück, während<br />
es sich um das Haus der Mutter und seines Stiefvaters handelt. Schrott<br />
verzichtet von vornherein darauf, sich in dieser Angelegenheit festzulegen und<br />
zieht beide Varianten in Erwägung, obwohl sie ihre Arbeit zum Thema der<br />
Funktion der Schauplätze bei Franz Innerhofer verfasst hat. 161<br />
In diesem Sinne soll mit der nachfolgenden Analyse der Erzählung „Der Emporkömmling“<br />
der Versuch einer Neubewertung vorgenommen werden, wie sie<br />
sich Zier wünscht: „Aber vielleicht wird eine neue Generation von Kritikern und<br />
Literaturwissenschaftlern sich einmal unvoreingenommen dieses Teils des literarischen<br />
Werkes von Franz Innerhofer annehmen und zu anderen Sichtweisen<br />
und Einschätzungen gelangen.“ 162<br />
159<br />
Vgl. Freund, Jutta: Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. In: Wespennest 53 (1983), S. 43<br />
– 44, S. 43.<br />
160<br />
Vgl. Schwarz, Waltraut: Franz Innerhofer – Das Ende einer Anklage. In: Zeman, Herbert<br />
(Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart<br />
(1880 – 1980). Teil 2. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 1167 – 1183, S.<br />
1175.<br />
161<br />
Vgl. Görtz, Franz Josef: Odyssee oder Holzweg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
5.10.1982, S. 26, sowie Schrott, Regine: Auf der Suche nach Heimat. Die Funktion der Schauplätze<br />
bei Franz Innerhofer. Wien: phil. Dipl. 1995, S. 136 – 137.<br />
162<br />
Zier, O. P.: Im Kampf mit dem Wort um das Wort. Frank Tichys Innerhofer-Biografie. In:<br />
http://www.biblio.at/rezensionen/details.php3?mednr%5B0%5D=luk2004606&anzahl=1,<br />
31.7.2007.<br />
55
Bei näherer Beschäftigung mit Innerhofers Schaffen steht außer Frage, dass<br />
„Der Emporkömmling“ als Fortsetzung der vorangehenden Trilogie gelesen<br />
werden muss, da die Erzählung auch explizit darauf Bezug nimmt. Eckhart<br />
Prahl analysiert die Holl-Trilogie und weist auf die Fortsetzung durch Innerhofers<br />
Erzählung „Der Emporkömmling“ hin, ohne diese jedoch in seine Analyse<br />
mit einzubeziehen. 163 Auch Johannes Birgfeld, dessen Arbeit aus dem Jahr<br />
2002 den bisherigen Endpunkt der Innerhoferforschung markiert, bemerkt diese<br />
Engführung aufgrund der beinahe ausschließlichen Konzentration auf die ersten<br />
drei Romane, was ihn nicht davon abhält, sich in weiterer Folge gleichfalls nur<br />
mit der Trilogie zu beschäftigen. 164 Waltraut Schwarz spricht unter Einbeziehung<br />
der Erzählung „Der Emporkömmling“ davon, dass diese „Tetralogie ein<br />
autobiographischer Bildungs- und Entwicklungsroman ist.“ 165 Regine Schrott<br />
bezieht in ihre Arbeit zur Funktion der Schauplätze bei Innerhofer auch den<br />
„Emporkömmling“ sowie den letzten großes Roman „Um die Wette leben“<br />
(1993) mit ein und spricht folgerichtig von einer autobiographischen Penta-<br />
logie. 166<br />
In Innerhofers viertem längerem Prosawerk findet eine Rückorientierung in die<br />
Heimat, beziehungsweise in die Welt der Arbeiter, statt. Der Protagonist Hans<br />
Peter Lambrecht hofft, durch eine Rückkehr zu seinen Wurzeln zu sich selbst<br />
finden zu können. Als biographischer Zwilling Holls erzählt nun Lambrecht in<br />
der Ich-Form auf 130 Seiten von seiner Rückkehr in das Haus der Kindheit und<br />
die Welt der Arbeiter. Der abermalige Wechsel der Erzählperspektive von der<br />
dritten Person in „Die großen Wörter“ zur ersten Person mag analog zum selben<br />
Wechsel von „Schöne Tage“ zu „Schattseite“ begründet sein: „Das Ich hat<br />
sich herausgearbeitet, und nun muß es sich auch präsentieren: als Ich.“ 167 So<br />
wie Holl in „Schattseite“ der väterlichen Zwangsherrschaft auf Hof 48 entflieht,<br />
163<br />
Vgl. Prahl 1993, S. 81 – 95.<br />
164<br />
Vgl. Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit einer<br />
Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt/Main: Peter Lang 2002, S. 9.<br />
165<br />
Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1177.<br />
166<br />
Vgl. Schrott 1995, S. 169.<br />
167<br />
Lüdke, Martin W.: Franz Innerhofer. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.<br />
Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik<br />
1987ff. 45. Nachlieferung 1993, S. 1 – 9, S. 5.<br />
56
ewältigt Lambrecht seine Krise durch eine Rückkehr aufs Land und findet, zumindest<br />
zwischenzeitlich, wieder zu sich selbst.<br />
„Der Emporkömmling“ wurde überwiegend negativ rezensiert, fast immer auch<br />
an seinen Vorgängerwerken gemessen und als minderwertig eingestuft. Am<br />
Positivsten äußerst sich Michael Skasa: „Innerhofers ´Emporkömmling` ist ein<br />
schön und aufregend ehrlicher Bericht [...] [i]n warmen, leuchtenden Bildern und<br />
in genauer Sprache, so fremd und schön wie irgendeine angegilbte Erzählung<br />
Kafkas, und doch spürt man, daß jedes Wort die heutige Wirklichkeit be-<br />
schreibt...“ 168<br />
Vorsichtig wohlwollend das Urteil in den Salzburger Nachrichten: „Franz Innerhofer<br />
hat wieder Tritt gefaßt, es ist wieder mit ihm zu rechnen.“ 169 Der Rest der<br />
Rezensionen, von denen nur einige hier wiedergegeben werden können, kann<br />
der Erzählung wenig bis gar nichts Positives abgewinnen. Freund bedauert, die<br />
Erzählung sei „allzu peripher und gelegentlich ohne Belang“ 170 , vernichtend fällt<br />
Janetscheks Kritik aus, er bemängelt die „Plumpheit des sprachlichen Ausdrucks“<br />
171 , die oft nicht „einer unfreiwilligen Komik“ 172 entbehre, die Erzählung<br />
bleibe im „sprachlich Verschwommenen“ 173 und wirke „demgemäß wenig glaubhaft“<br />
174 , er rät Innerhofer „mit neuen Veröffentlichungen zuzuwarten, bis er sich<br />
wieder im Vollbesitz seiner sprachlichen Ausdruckskraft befindet.“ 175 Für Fetzer<br />
stellt sich die Frage, ob alles so ernst gemeint ist, oder ob es sich um eine zynische<br />
Karikatur einer Bildungsgeschichte, wie sie die vorhergehenden Romane<br />
waren, handelt. Die Herrschaft über die Sprache hat Innerhofer, seiner Meinung<br />
nach, jedenfalls verloren. 176 Ganz anderer Meinung ist Görtz, der sicher ist,<br />
dass alles „unglaublich zynisch – und unglaublich naiv zugleich [...] tatsächlich<br />
168 Skasa, Michael: Nachrichten von Stirn und Faust. Franz Innerhofers Rückkehr zu den Arbeitern.<br />
In: Süddeutsche Zeitung 285 (1982), o. S.<br />
169 Thuswaldner, Werner: Leben Arbeiter das wahre Leben? Franz Innerhofers Erzählung „Der<br />
Emporkömmling“ erschienen im Residenz Verlag, Salzburg. In: Salzburger Nachrichten<br />
11.12.1982, S. 27.<br />
170 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 44.<br />
171 Janetschek, Albert: Franz Innerhofer. Der Emporkömmling. In: Literatur und Kritik 181/182<br />
(1984), S. 81 – 82, S. 82.<br />
172 A. a. O.<br />
173 A. a. O., S. 81.<br />
174 A. a. O.<br />
175 A. a. O., S. 82<br />
176 Fetzer, Günther: Die Herrschaft über die Sprache verloren. In: Mannheimer Morgen<br />
26.11.1982, o. S.<br />
57
so gemeint war und verstanden werden will“ 177 , jedenfalls sollte sich Innerhofer<br />
„nach diesem Buch mit dem Schreiben viel Zeit lassen.“ 178 Von Matt kritisiert<br />
vor allem die verfälschende Pauschalerhöhung des Arbeiterstandes und die<br />
gleichzeitige Abwertung der Intellektuellen. 179 Solms fragt in seiner Gegenüberstellung<br />
von „Schöne Tage“ und „Der Emporkömmling“, ob Innerhofer in letzterem<br />
Werk nicht eine zu unkritische Stellung zur Arbeitswelt bezieht beziehungsweise<br />
ob die Erzählung nicht eigentlich schon ein Heimatroman eines<br />
ehemaligen Anti-Heimat-Autors ist? 180<br />
Das folgende Kapitel soll auch zur Klärung dieser Frage verhelfen.<br />
58<br />
7.2 Heimkehr als letzter Ausweg<br />
Die Erzählung betrachtet rückblickend die Geschichte einer Heimkehr auf Zeit.<br />
Hans-Peter Lambrecht selbst berichtet über sein Unterfangen, in sein angestammtes<br />
Milieu zurückzukehren. Im linearen Handlungsverlauf nimmt das<br />
Heimkehrmotiv eine strukturierende Funktion ein. Die Heimkehr als ein Situationsmotiv<br />
unterteilt die Erzählung in ein Vorher und Nachher, verknüpft aber<br />
auch diese beiden Handlungsstränge. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Schilderung<br />
der Ereignisse nach der Heimkehr. Warum die Zeit davor nicht berücksichtigt<br />
wird, liegt einerseits in Innerhofers vorher veröffentlichten Werken, andererseits<br />
in den Charakteristiken des Genres begründet. Die „Holl-Trilogie“<br />
schildert genau diese Periode von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter,<br />
Anti-Heimat-Literatur konzentriert sich auf die Darstellung der Heimat.<br />
Die Beweggründe <strong>für</strong> das Verlassen von Stadt und Universität werden aber in<br />
der Erzählung angeführt. Es ist eine schwere Identitätskrise, die Lambrecht zum<br />
Entschluss bringt, sich wieder als Arbeiter zu versuchen. Kontrastiv stehen einander<br />
die negative Darstellung der Studienzeit („Selbst das Gebäude der Arbeitermittelschule<br />
hatte ich wenigstens noch gehaßt, aber von den Gebäuden der<br />
Universität, die ich mit ungeheurem Interesse betreten hatte, blieb nichts zu-<br />
177<br />
Görtz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.10.1982, S. 26.<br />
178<br />
A. a. O.<br />
179<br />
Matt, Beatrice von: Rückkehr zu den Arbeitern. Franz Innerhofers neuer Roman. In: Neue<br />
Zürcher Zeitung 8.12.1982, S. 39.<br />
180<br />
Vgl. Solms, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 178.
ück. Keine Reue, kein Haß, kein Bedauern.“ 181 ) und die hoffnungsfrohe Projektion<br />
auf das Arbeitsleben gegenüber („Du mußt dir deine Hände zurückerobern.<br />
Die Hände sind dein Ausweg. Nur über sie kannst du vielleicht zu dir<br />
finden.“ 182 ). Diese beiden Pole stehen auch in Verbindung mit den Gegensatzpaaren<br />
Begrenzung und Freiheit. Der Student Lambrecht denkt in seinem<br />
bis „zum Ersticken vollgeräumt[en]“ 183 winzigen Studentenheimzimmer an „Tod,<br />
Untergang und Selbstmordvorhaben“ 184 , während der Arbeiter Lambrecht nach<br />
einer kurzen Arbeitsperiode resümieren kann: „Es ging mir inzwischen schon so<br />
gut, daß ich mich einen glücklichen Menschen nennen durfte.“ 185 Somit ist der<br />
Entschluss zur Heimkehr als einer Möglichkeit zur Findung beziehungsweise<br />
Wiederfindung der eigenen Identität schlüssig begründet. Die Heimkehr präsentiert<br />
sich hier als eine spannungsgeladene, existentielle Grundsituation, die in<br />
dieser oder ähnlicher Form im Gedächtnis der Rezipienten verankert ist und<br />
dementsprechende Assoziationen evoziert. Darauf nimmt auch Lambrecht Bezug,<br />
wenn er den Vergleich mit Homers Helden strapaziert:<br />
Die geistige Odyssee eines Arbeiters lag vor mir ausgebreitet. Eine<br />
ungeheure Müdigkeit überkam mich, wenn ich an die Naivität, den<br />
Eifer und die viele Zeit dachte, die ich aufgewandt hatte, um die Geheimnisse<br />
der Geisteswissenschaft aufzuspüren. [...] Über sieben<br />
Jahre hatte diese Odyssee gedauert. Über sieben Jahre hatte ich<br />
gebraucht, um herauszufinden, daß ich einem aufwendigen Leichenbegängnis<br />
gefolgt war. 186<br />
Auch das Motiv des verlorenen Sohnes, der mittellos in den Schoß der Familie<br />
zurückkehrt, klingt hier an, die weitere Entwicklung bricht jedoch mit dem klassischen<br />
Motivverlauf. Lambrechts Heimkehr folgt einem anderen Schema, das<br />
zugleich auch die Hoffnungen, die mit dem Entschluss zur Heimkehr verbunden<br />
waren, zerstört. Die Heimkehr vollzieht sich auf mehreren Ebenen: es kommt zu<br />
einem Wiedersehen mit der Familie, zu der Lambrecht vor etlichen Jahren alle<br />
Kontakte abgebrochen hat, Lambrecht wird konfrontiert mit der Dorfgemein-<br />
181<br />
Innerhofer, Franz: Der Emporkömmling. Salzburg: Residenz 1982, S. 14. Im Folgenden zitiert<br />
als DE.<br />
182<br />
DE, S. 9.<br />
183<br />
DE, S. 12.<br />
184<br />
DE, S. 10.<br />
185<br />
DE, S. 68.<br />
186<br />
DE, S. 23 – 24.<br />
59
schaft, die ihn als Fremden betrachtet, und nicht zuletzt steht der Protagonist<br />
vor der Herausforderung, wieder im Arbeitsleben Fuß zu fassen. Zu keinem der<br />
drei Milieus hat Lambrecht eine besondere Beziehung. Durch den langen Zeitraum<br />
der Abwesenheit veränderten sich naturgemäß die Verhältnisse. Der<br />
Heimkehrer befindet sich weniger in der Rolle eines verlorenen Sohnes, als<br />
vielmehr in der eines fremden Neuankömmlings.<br />
Die Schilderung der Veränderungen sind fester Bestandteil der Heimkehrszenen<br />
in Familie und Dorf. Der Heimkehr kommt auch hier wieder eine kontrastierende<br />
Funktion zu. Aus der Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart,<br />
Heimat der Kindheit und Heimat der Jetztzeit resultieren konflikthafte Situationen.<br />
Denn eine Heimkehr ist stets verbunden mit Erinnerungen an die vergangene<br />
Zeit, diese sind zusätzlich oft sentimental eingefärbt. Die Heimkehr vermittelt<br />
somit auch zwischen Illusion und Realität. Veränderungen einerseits und ein<br />
erweiterter Erfahrungshorizont des Heimkehrers, der einen kritischeren Blick<br />
auf die vorgefundenen Verhältnisse bedingt, andererseits, stellen den Heimkehrer<br />
vor eine große Herausforderung. Das Haus der Kindheit hat sich verändert:<br />
„Ich sah mich um, aber ich entdeckte tatsächlich nichts, was mich an früher erinnerte.<br />
Es kam mir vor, als hätte ich irgendwo auf dem Land ein Fremdenzimmer<br />
betreten. [...] Vertraut waren mir lediglich die Sachen, die ich mitgebracht<br />
hatte.“ 187 Ebenso misslingt der Versuch, sich in die Familie zu integrieren, Kommunikationsversuche<br />
scheitern, der Stiefvater schwelgt lieber in Erinnerungen<br />
an seine nationalsozialistische Vergangenheit.<br />
60<br />
Freilich wußten auch sie nichts mit mir anzufangen. [...] Wie ich redete<br />
und dachte, ließ sich nicht mehr mit dem einst braven und tüchtigen<br />
Arbeiter in Verbindung bringen. Viel näher lag es, mich <strong>für</strong> einen<br />
grundlos unzufriedenen Studenten oder sonst einen Unruhestifter zu<br />
halten. Eine unberechenbare Existenz jedenfalls. 188<br />
Lambrecht wird nicht als Arbeiter gesehen, sondern weiterhin als der Student,<br />
der er nicht mehr sein will. Analog dazu betont die Heimkehr in das Dorf die<br />
Gegensätze, der Ort der Kindheit ist nicht mehr auffindbar, denn sämtliche „öffentlichen<br />
Anstrengungen galten dem Tourismus und dem Schmücken der<br />
187 DE, S. 57.<br />
188 DE, S. 33 – 34.
Landschaft, deren Verkauf den Gemeinden viel Geld brachte.“ 189 Die Heimkehr<br />
nimmt einen Verlauf, wie er sich in Innerhofers drittem Roman abgezeichnet<br />
hat. Darin findet sich eine Passage, die genau diese Entwicklung voraussagt:<br />
Die Milieuwechsler waren ganz auf sich selber angewiesen. Kehrte<br />
eine oder einer gebrochen zu seinem Ausgangsort zurück, lief sofort<br />
alles zusammen und verbreitete die Nachricht, daß die oder der gescheitert<br />
sei. Hörte Holl von solch einem Fall, wurde er jedesmal wütend,<br />
tobte und schwor sich, eher würde er jämmerlich in der Redewelt<br />
verenden, als nur mit einem Schritt in sein früheres Milieu zurückkehren.<br />
190<br />
In diesem Zitat zeigt sich auch deutlich die Rolle des Heimkehrers in der Heimatliteratur.<br />
Das Scheitern in der Fremde macht den Rückkehrer zum Außenseiter.<br />
Der Verlauf der Heimkehr entspricht der Motivgestaltung in der traditionellen<br />
Heimatliteratur. Die Heimkehr offenbart die Gräben zwischen ingroup<br />
und outgroup.<br />
Die Vorstellung, die Welt der Kindheit vorzufinden, erweist sich als Utopie und<br />
so bleibt nur ein frühes, resigniertes Resümee: „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls<br />
nicht die Rede sein.“ 191 Die Heimkehr löst hier einen Prozess aus, der<br />
eine Integration von Beginn an nicht zulässt. Im Gegensatz zur Motivverwendung<br />
in der Heimatliteratur, liegen die Gründe da<strong>für</strong> jedoch nicht beim Heimkehrer,<br />
denn Lambrecht erscheint keineswegs als negative Figur, sondern bei der<br />
ingroup begründet. Der Kontrast zwischen in- und outgroup und die daraus resultierende<br />
Unmöglichkeit der Annäherung zeigt sich sehr gut am Verhältnis<br />
Lambrechts zu seinem Bruder. Schon das erste Wiedersehen nach langen Jahren<br />
am Arbeitsplatz des Bruders, die erste Wiedersehensszene der Erzählung,<br />
verweist auf kommende Verständigungsprobleme. Im Lärm der Maschinen<br />
schreien sich die beiden an, trotzdem ist es unmöglich, sich zu verständigen<br />
und Lambrecht geht wieder. 192 Der Bruder verkörpert das Gegenbild Lambrechts,<br />
er ist der, der Lambrecht sein will, aber nie sein kann: ein fleißiger Arbeiter,<br />
ins Dorfleben integriert. Im Gegensatz zu früher bewundert Lambrecht<br />
189 DE, S. 59.<br />
190 Innerhofer, Franz: Die großen Wörter. München: dtv 1994, S. 53.<br />
191 DE, S. 56.<br />
192 Vgl. DE, S. 17.<br />
61
seinen Bruder und kann sich auch mit dessen früher abgelehnter Einstellung<br />
identifizieren:<br />
62<br />
Ich ließ schließlich von dem Gespräch ab, als Hermann sagte, er<br />
könne nur arbeiten, solange er nicht über alles nachdenke. Dieser<br />
Satz war deutlich genug. Und diesen Satz wurde ich nicht wieder los.<br />
[...] Wahrscheinlich hatte ich schon seit Jahren keinen so deutlichen<br />
Satz mehr gehört, er gefiel mir. Er fing sogar an, mich zu faszinieren,<br />
denn er schloß die Arbeiter nicht vom Denken aus. 193<br />
Andererseits verkörpert Hermann aber auch eine <strong>für</strong> Lambrecht unverständliche<br />
Einstellung:<br />
Es gab da jene von Studenten und Intellektuellen vergeblich bekämpfte<br />
Zeitung, die er zu meinem Entsetzen ziemlich regelmäßig<br />
kaufte. [...] Immer lag diese großformatige, machthaberische Zeitung<br />
in den engen Behausungen herum. Sie paßte so gar nicht zu meinem<br />
Bruder. Er war das Gegenteil von aufgeblasen, machtsüchtig<br />
und böswillig. 194<br />
Hier zeigt sich die Aporie von Lambrechts Heimkehr. Er hat sich durch die Zeit<br />
in der Fremde andere Einstellungen angeeignet, seinen Horizont erweitert, die<br />
Fähigkeit zu kritischer Reflexion erworben. Dieser Prozess kann nicht mehr<br />
rückgängig gemacht werden. In diesem Spannungsfeld präsentiert sich auch<br />
die Heimkehr in das Arbeitermilieu. Das Motiv übernimmt hier eine vermittelnde<br />
Funktion. Angesichts des Scheiterns auf den anderen Handlungsebenen bietet<br />
die Arbeitswelt die letzte Chance, Heimat und Identität zu finden. Lambrecht<br />
tendiert zu einer idyllisierenden Betrachtung des Milieus, die Arbeiter werden<br />
stellenweise heroisiert: „Da waren Arbeiter darunter, die so ungeheure Leistungen<br />
erbrachten, daß mir vorkam, ein böser Traum sei über sie hergefallen und<br />
habe sie in das 19. Jahrhundert versetzt.“ 195 Aus der Sicht eines verzweifelten<br />
Menschen mag diese Strategie verständlich erscheinen, dies ändert jedoch<br />
nichts an der Tatsache, dass Lambrecht hier unglaubwürdig wirkt. Anfangs<br />
scheint sich der Misserfolg auch auf dieser Ebene nach dem schon beschriebenen<br />
Muster zu prolongieren. Lambrecht muss feststellen, dass auch die Arbeiter<br />
193 DE, S. 30 – 31.<br />
194 DE, S. 78 – 79.<br />
195 DE, S. 77.
„unzugänglich, unansprechbar [...] [a]ngetrieben von Gier und Mißtrauen“ 196 aneinander<br />
vorbei leben, und sich ihm gegenüber „kühl, mißtraurisch und geringschätzig“<br />
197 verhalten. Es gelingt ihm jedoch funktionierende Beziehungen zu<br />
einigen Arbeitskollegen aufzubauen und Teil der ingroup zu werden: „Nein, darauf<br />
waren wir nicht vorbereitet. [...] Keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen,<br />
daß wir es zu aufregenden Unterhaltungen bringen würden.“ 198 Die<br />
Heimkehr setzt hier einen anderen Verlauf in Gang, der Lambrechts Sonderstellung<br />
als arbeitender Intellektueller, beziehungsweise intellektueller Arbeiter<br />
spiegelt.<br />
Auf längere Sicht hat jedoch eine Lösung dieser Situation zu erfolgen und hier<br />
geht das Heimkehr- in das Fluchtmotiv über:<br />
Während etlicher Monate waren wir ohne Fernseher ausgekommen.<br />
Während etlicher Monate wußten wir uns selber zu unterhalten.<br />
Wenn ich jetzt abends zu unserer Baracke zurückging, war nach<br />
dem Eintritt oft mein erster Handgriff, daß ich den Fernsehapparat<br />
einschaltete. [...] Das kam von den Wiederholungen, die uns Tag <strong>für</strong><br />
Tag kreuzigten. Einziges Mittel dagegen: aufstehen und weggehen!<br />
So dachte ich jedenfalls in der Früh. 199<br />
Dieser Konflikt zwischen Heimkehr und Flucht wird durch ein abermaliges Verlassen<br />
der Heimat vorerst bereinigt. Lambrecht nützt die Möglichkeit, durch einen<br />
Förderungspreis an seiner Karriere als Schriftsteller zu arbeiten und in die<br />
Stadt zurückzukehren, die Heimkehr kann als gescheitert bezeichnet werden.<br />
„Gelöst war freilich nichts“ 200 , reflektiert denn auch der abermalige Milieuwechsler<br />
vor seiner Rückkehr in eine ungewisse Zukunft. Das Thema Heimat- und<br />
Identitätssuche wird fortgesetzt, symptomatisch da<strong>für</strong> ist, dass sich Lambrecht<br />
auf der Rückreise, weil er sich dort geborgen fühlt, lange am Bahnhof, einem<br />
anonymen und dezentralen Ort der Heimatlosen, Abreisenden und Heimkehrer,<br />
aufhält. 201<br />
196 DE, S. 48.<br />
197 DE, S. 76.<br />
198 DE, S. 63.<br />
199 DE, S. 116.<br />
200 DE, S. 117.<br />
201 Vgl. DE, S. 121.<br />
63
Nach einer Analyse, die sich vorwiegend auf die erzähltechnische und strukturelle<br />
Funktion des Heimkehrmotivs konzentriert hat, soll das folgende Resümee<br />
auch eine inhaltliche Interpretation beinhalten, da Motive nicht nur strukturelle,<br />
sondern auch inhaltliche Elemente sind und die inhaltliche Komponente in Bezug<br />
auf die Verortung im Genre der Anti-Heimat-Literatur von Bedeutung ist.<br />
Das Leben als Werksstudent in der Fabrik war nur eine Übergangsphase im<br />
Leben Holls beziehungsweise Lambrechts. Abschließend muss die Rückkehr<br />
als gescheitert betrachtet werden: „Ein Versuch der Scheitern muß, denn einmal<br />
in Gang gekommen, läßt sich wohl ein solcher Bewußtseinsprozeß, den der<br />
Protagonist vom Arbeiter zum Intellektuellen durchlebte, kaum mehr rückgängig<br />
machen. Trotzdem startet er den aussichtslosen Versuch.“ 202<br />
Zweifelsohne gelingt es Lambrecht, seine Identitätskrise vorläufig zu bewältigen,<br />
dabei idealisiert er jedoch die Arbeitswelt und sieht über bedauerliche Arbeitsbedingungen<br />
hinweg. Das System, das die Arbeiter im Akkord ausnützt<br />
und sie zu einem Leben in Baracken zwingt, stellt die Erzählung leider nie in<br />
Frage. Trotz des teilweisen Entwurfs einer Sozialutopie der Arbeitswelt überwiegen<br />
bei einer genauen Analyse die negativen Schilderungen. Oft nur angedeutet,<br />
muss man oft zweimal hinsehen, um die Details in ihrer Gesamtheit zu<br />
erfassen.<br />
Die Analyse von Lambrechts Heimkehr ergibt ein ambivalentes Bild. Die Arbeit<br />
verhilft Lambrecht anfangs zur Überwindung seiner schweren persönlichen Krise.<br />
Allerdings weicht mit fortschreitender Dauer die anfängliche Euphorie der<br />
Ernüchterung. Die aktive Kommunikation mit den Kollegen wird durch passives<br />
Fernsehen ersetzt. Das Dorf und das elterliche Haus haben sich verändert. Der<br />
Ort der Kindheit, als einer der wenigen Orte, die Heimat vermitteln können, erfüllt<br />
im Falle Lambrechts diese Aufgabe nicht. Auch die nötigen sozialen Interaktionen<br />
beziehungsweise die Identitätsbildung in der Gruppe, wie bei Bastian<br />
und Greverus angeführt, kommen nicht zustande. „Der Emporkömmling“ ist die<br />
Erzählung einer Heimkehr, die sich sehr nahe an der Hauptfigur orientiert, was<br />
durch die Ich-Erzählform und die zahlreichen Reflexionen Lambrechts unterstrichen<br />
wird. Das Heimkehrmotiv wird nicht entsprechend der klassischen Ver-<br />
202 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 43.<br />
64
wendungsweise eingesetzt. So fehlt etwa die Geschlossenheit der Darstellung,<br />
das Ende der Erzählung ist offen. Auch die Zeit in der Fremde wird nur ansatzweise<br />
skizziert, der Focus liegt auf der Schilderung der Situation nach der<br />
Heimkehr. Durch die Heimkehr entsteht eine Situation, die auch den durchaus<br />
kritischen Blick auf die Heimat mit ihren Veränderungen ermöglicht. Lambrecht<br />
resigniert und verdrängt, anstelle sich aktiv mit den durch die Heimkehr aufgeworfenen<br />
Problemen auseinanderzusetzen. Er bleibt ein klassischer Außenseiter.<br />
Seine Reintegration gelingt nur zum Teil im Falle der Arbeiterschaft, aber<br />
auch dort nimmt er in seiner Rolle als Werksstudent eine Sonderposition ein.<br />
Bezug nehmend auf die Unterscheidung, die Daemmrich/Daemmrich hinsichtlich<br />
der Verwendung des Heimkehrmotivs getroffen haben, muss festgestellt<br />
werden, dass sich die Erzählung zwischen beiden Polen bewegt, wobei im Laufe<br />
der Erzählung die negative Variante immer stärker zum Ausdruck kommt.<br />
Die Frage, die Wilhelm Solms gestellt hat, mag durchaus berechtigt erscheinen,<br />
ist jedoch klar zu beantworten, auch weil Solms´ Argumentation sehr dünn, und<br />
sein Resümee, dass die Entwicklung Innerhofers ein Niedergang sei, nicht<br />
nachvollziehbar ist. 203 Die Geschichte Lambrechts ist eine maßgebliche Ergänzung<br />
der Holl-Trilogie. Selbstverständlich ist die Erzählung in ihrer Drastik und<br />
Negativität weit von Innerhofers Debüt entfernt, die Schilderung der Heimat erfolgt,<br />
wie anhand der Textstellen ausführlich bewiesen, ambivalent, jedoch tendenziell,<br />
trotz einer bisweilen ausgeprägten Verklärung der Arbeitswelt, kritisch<br />
bis negativ. Innerhofer thematisiert den noch immer nicht ausgestorbenen Geist<br />
des Nationalsozialismus, er weist auf die negativen Auswirkungen des Tourismus<br />
in ländlichen Gebieten hin. Damit steht die Erzählung zwischen den Phasen<br />
zwei und drei nach Robert Menasse. Durch das Motiv der Heimkehr wird<br />
eine externe Sichtweise auf die Heimat ermöglicht. Die Heimkehr selbst zeigt<br />
versöhnliche aber auch resignative Züge. Die Erwartungen des Heimkehrers<br />
werden nicht völlig erfüllt, in Familie und Dorf bleibt er ein Außenseiter. Heimat<br />
findet er nicht, er geht zurück in die Stadt, weiterhin auf der Suche nach sich<br />
selbst. Heimatroman ist „Der Emporkömmling“ definitiv keiner, vielmehr eine facettenreiche,<br />
leider stellenweise unreflektierte, Erzählung aus der Anti-Heimat,<br />
die es verdient, intensiver als nur oberflächlich gelesen zu werden.<br />
203 Vgl. Birgfeld 2002, S. 26.<br />
65
Wenn Schwarz in Bezug auf Innerhofers Tetralogie anmerkt, dass „kein anderer<br />
österreichischer Gegenwartsautor – anklagend, Sinn suchend und verstehend –<br />
ein so vielseitiges Bild der sozialen österreichischen Wirklichkeit in Stadt und<br />
Land gezeichnet hat...“ 204 , so befindet sie sich auf einer Linie mit Robert<br />
Menasse, der den Informationswert der Anti-Heimat-Literatur, bezüglich der kulturellen<br />
und gesellschaftlichen Realität, über jenen von soziologischen Untersuchungen<br />
gestellt hat. Diese Tatsache ist als weiterer Beweis <strong>für</strong> die Zugehörigkeit<br />
von Innerhofers Erzählung zum Genre der Anti-Heimat-Literatur zu werten.<br />
8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von<br />
Robert Menasse<br />
8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman<br />
Menasses Thesen zur österreichischen Literatur, im Speziellen zum Anti-<br />
Heimat-Roman, wurden im Rahmen dieser Arbeit bereits vorgestellt. Mit<br />
„Schubumkehr“ (1995) hat der Schriftsteller Menasse einen Roman verfasst,<br />
der, unter anderem, die Thesen des Literaturwissenschafters Menasse in die<br />
literarische Praxis umsetzt. „Schubumkehr“ bildet den Abschluss der „Trilogie<br />
der Entgeisterung“, die Menasse als Gegenentwurf zu Hegels „Phänomenologie<br />
des Geistes“ (1807) verfasst hatte. Vor „Schubumkehr“ erschienen „Sinnliche<br />
Gewissheit“ (1989) und „Selige Zeiten, brüchige Welt“ (1991). 205 In der Trilogie<br />
wird die Ansicht vertreten, dass sich der Mensch seit Hegels absolutem Wissen<br />
rückentwickelt hat, hin zu einer Anschauung, die nichts mehr auszusagen vermag,<br />
was über das bloße Sein des Gegenstandes hinausgeht.<br />
204<br />
Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1180.<br />
205<br />
In „Sinnliche Gewißheit“ schreibt die Hauptfigur Leo Singer an einer „Phänomenologie der<br />
Entgeisterung“. Ein Essay mit dem gleichen Titel wurde von Menasse 1991 unter dem Pseudonym<br />
Leo Singer und 1995 unter seinem eigenen Namen publiziert. Insofern müsst man eigentlich<br />
von einer vierbändigen Trilogie sprechen. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wissen.<br />
Die Roman Gilanian-Trilogie. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu<br />
Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 264 – 284,<br />
S. 264 – 265.<br />
66
Die drei Romane gehen den Weg des werdenden Wissens in umgekehrter<br />
Richtung: vom absoluten, sich selbst denkenden Geist, der<br />
das Sein in seiner Totalität und den Zusammenhang aller Phänomene<br />
begreifen kann, über die beobachtende und handelnde Vernunft,<br />
das Selbstbewusstsein, zurück bis zum Bewusstsein, das – in der<br />
unmittelbaren sinnlichen Gewissheit verhaftet – nicht imstande ist,<br />
das Ganze zu erkennen und nur in Beziehung zu sich selbst steht.<br />
Der geistlose Zustand des sinnlichen Bewusstseins äußert sich in<br />
der unmittelbaren Erfahrung des hic et nunc. 206<br />
Mit „Schubumkehr“ habe Menasse einen „depressiven und witzigen Österreich-<br />
Roman“ 207 geschrieben, eine Geschichte, „die sich trotz oder wegen ihrer offensichtlichen<br />
Fiktionalität zu einem erschreckend realistischen Panorama nicht<br />
nur der österreichischen Gegenwart verdichtet“ 208 , meinen die einen, während<br />
andere Kritiker nur eine Aneinanderreihung abgestandener Vorurteile sehen<br />
und das Etikett Anti-Heimat-Roman durchaus abwertend verwenden. 209 Wenn<br />
Breitenstein in „Schubumkehr“ einen österreichischen Wenderoman sieht, so<br />
bezieht sich er dabei auch auf die Anti-Heimat-Literatur, die sich den Herausforderungen<br />
der Postmoderne anzupassen habe: „Ein Horizont schliesst sich,<br />
ein neuer geht auf: Über die Dörfer wird man nach diesem Buch auf- und abgeklärter<br />
schreiben müssen.“ 210 „Schubumkehr“ präsentiert sich als „Zitatenreigen<br />
der Literatur- und Philosophiegeschichte, der die auf die postmoderne Lust am<br />
Spiel versessenen Herzen höher schlagen [lässt], ohne dabei die lediglich an<br />
den vordergründig erzählten Geschichten interessierten Leser auch nur zu tan-<br />
gieren.“ 211<br />
Diese Aussage fasst die Erkenntnis zusammen, die sich aus der Lektüre der<br />
zahlreichen Aufsätze, die bis dato zu „Schubumkehr“ erschienen sind, ergibt:<br />
206 Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren. Geschichte(n)<br />
in „Schubumkehr“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von<br />
Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007, S. 213 – 225, S. 215. Vgl. auch Gerk, Andrea: Eine<br />
Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. In:<br />
Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“.<br />
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 37 – 49, S. 38.<br />
207 Hoffmann-Ostenhoff, Georg: Heimkehr und Zerfall. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse.<br />
Graz: Droschl 2004, S. 166 – 169, S. 166.<br />
208 Liessmann, Konrad Paul: Da muss es ja alles zerlegen. In: Der Standard (Beilage)<br />
24.5.1995, S. 5.<br />
209<br />
Vgl. Heyl, Tobias: Camcorder und Tiefsinn. In: Der Falter (Beilage) 31.3.1995, S. 16.<br />
210<br />
Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer Wenderoman<br />
„Schubumkehr“. In: Neue Zürcher Zeitung 24.2.1995, S. 36. Die Formulierung „Über die<br />
Dörfer“ ist eine Anspielung auf das gleichnamige dramatische Gedicht von Peter Handke.<br />
211<br />
Holler, Verena: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur „Trilogie der Entgeisterung“.<br />
In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004, S. 27 – 58, S. 27.<br />
67
Der Roman kann auf zwei unterschiedliche Arten gelesen werden. Zum einen<br />
im Kontext der „Trilogie der Entgeisterung“ als Teil einer geschichtsphilosophischen<br />
Auseinandersetzung auf Basis der Hegelschen „Phänomenologie<br />
des Geistes“ und zum anderen als postmoderner Anti-Heimat-Roman ohne Verbindung<br />
zur Trilogie. Denn auch ohne die Fülle an Zitaten, die Menasse in<br />
„Schubumkehr“ in den Text eingebaut hat, zu erkennen (beispielsweise sprechen<br />
die Komprechtser Kommunalpolitiker in Zitaten der österreichischen Politprominenz),<br />
erschließt sich ein Zugang zum Text. Dem Konzept dieser Arbeit<br />
entsprechend stehen bei der nachfolgenden Analyse die intertextuellen Bezüge<br />
und geschichtsphilosophischen Überlegungen im Hintergrund. In erster Linie erfolgt<br />
eine Konzentration auf das Heimkehrmotiv und den Bezug zur Anti-<br />
Heimat-Literatur.<br />
68<br />
8.2 Heimkehr als Regression<br />
In „Schubumkehr“ ist kein erzählendes Subjekt mehr auszumachen. Erzählt<br />
wird aus zwei Perspektiven: zwei Kriminalbeamte betrachten und kommentieren<br />
Romans Videoaufnahmen, ohne sich einen Reim darauf machen zu können.<br />
Den Rest ergänzt eine auktoriale Erzählstimme.<br />
Der Roman als Endpunkt einer Entwicklung weg vom Geist, der das Sein in<br />
seiner Totalität und seinen Zusammenhängen begreift, stellt den Rezipienten<br />
vor die Aufgabe, Zusammenhänge selber erkennen zu müssen. Begründungen<br />
<strong>für</strong> Handlungen und Ereignisse werden nicht geboten, Zusammenhänge zeigen<br />
sich vorerst nicht. Die Geschichte der Heimkehr wird also nicht, wie bei Gerhard<br />
Fritsch, Franz Innerhofer und auch Peter Zimmermann in der Ich-Form erzählt,<br />
sondern auf die oben beschriebene Art. Somit kommt dem Heimkehrmotiv eine<br />
weit geringere Bedeutung zu, als in den anderen drei Werken.<br />
In „Schubumkehr“ werden sieben Erzählstränge miteinander verknüpft, dementsprechend<br />
vielschichtig zeigt sich der Themenbereich: „Grün-<br />
Bewegung;Strukturpolitik; Arbeitslosigkeit; Irrsinnige; Literaturzitate; Aberglau-
en; Zeugungen; Verzweiflungen; Versuche abzunehmen; Kindermorde; und so<br />
fort;“ 212<br />
Unschwer zu erkennen ist Komprechts ein Symbol <strong>für</strong> Österreich, dessen<br />
Eigenheiten sich in der Dorfwelt wieder finden: „Das Österreich-Molekül Komprechts<br />
enthält: Österreichs verdrängten Faschismus; dessen Wiederkunft als<br />
mörderische Fremdenfeindlichkeit; die Selbstentfremdung Österreichs als touristischer<br />
Konsumartikel; das Kasperltheater österreichischer Koalitionspoli-<br />
tik.“ 213<br />
Der Multiperspektivität des Romans entsprechend gibt es kaum strukturierende<br />
Elemente. Auch das Heimkehrmotiv kann diese Funktion nicht übernehmen. Da<br />
die Geschichte Romans im Gesamtkontext nur eine von mehreren ist, der<br />
Heimkehrer also nicht im Zentrum der Handlung steht, wirkt sich das Heimkehrmotiv<br />
auch nicht auf den gesamten Text aus. Auf den Roman in seiner Gesamtheit<br />
bezogen, hat das Motiv bei weitem nicht die handlungsauslösende und<br />
-strukturierende Funktion wie bei Fritsch, Innerhofer und Zimmermann. Jedoch<br />
lassen sich, vor allem in Bezug auf Roman Gilanians Geschichte, durchaus wesentliche<br />
erzähltechnische Funktionen erkennen, welche in Folge dargestellt<br />
werden sollen.<br />
Die Mehrheit der oben angeführten Themen hat mit der Geschichte des 35jährigen<br />
Literaturdozenten, der aus Brasilien zu seiner Mutter ins Waldviertel<br />
zurückkehrt, wenig zu tun. Romans Heimkehr bildet nur einen Teil des Romans.<br />
Der zweite Handlungsstrang dreht sich, als Ergebnis der Verflechtung mehrerer<br />
Erzählstränge, um das „strukturschwache“ Dorf Komprechts im tiefsten Waldviertel,<br />
nahe an der tschechischen Grenze. Im Jahr 1989 steht Komprechts,<br />
aufgrund wirtschaftlicher Probleme, vor großen strukturellen Veränderungen:<br />
„Die Zeit drängte. So wie es war, konnte es nicht bleiben, so wie es gewesen<br />
war, konnte es nicht mehr werden. Es mußte etwas geschehen.“ 214 Was <strong>für</strong><br />
Komprechts gilt, trifft auch auf Roman zu. Auch er befindet sich in einer krisen-<br />
212<br />
Aspetsberger, Friedbert: Schnitzler – Bernhard – Menasse. Der Umstandsmeier – Der Angeber<br />
– Der Entgeisterer. Wien: Sonderzahl 2003, S. 117 – 118.<br />
213<br />
Gollner, Helmut: Österreich-Molekül. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98 – 99, S.<br />
99.<br />
214<br />
Menasse, Robert: Schubumkehr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 78. Im Folgenden zitiert<br />
als SU.<br />
69
haften Situation. Die Beweggründe <strong>für</strong> die Heimkehr erschließen sich dem Leser<br />
jedoch nicht, was wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt, da der weitere<br />
Handlungsverlauf nicht imaginiert werden kann. Eine typische Heimkehrsituation<br />
ist gekennzeichnet von einer schlüssigen Begründung der Entscheidung<br />
zur Rückkehr, was im Falle von Romans Heimkehr nicht der Fall ist. Die Ausgangssituation<br />
ist einigermaßen nachvollziehbar, die Krise des Protagonisten<br />
wird zwar exponiert, Begründung <strong>für</strong> den Entschluss zur Rückkehr gibt es jedoch<br />
keine, genauso wenig wie eine Darstellung der mit der Rückkehr verbundenen<br />
Absichten und Ziele. Wohl weckt die Rückkehr zur Mutter kurz Assoziationen<br />
an das Motiv des Verlorenen Sohnes, in der (über-)freudigen Aufnahme<br />
durch die Mutter erschöpft sich die Ähnlichkeit jedoch wieder. Roman wird beim<br />
Gedanken an die Heimkehr von äußerst widersprüchlichen Gefühlen gequält.<br />
Einerseits verspürt er starke Abneigungen, zu seiner Mutter in die „[t]iefste Provinz<br />
eines ohnehin schon zutiefst provinziellen Landes“ 215 zurückzukehren, andererseits<br />
plagt ihn auch ein Gefühl diffusen Heimwehs: „Heimweh, aussichtsloses<br />
Heimweh: Entwurzelung. Als wäre er erst jetzt, nach sieben Jahren<br />
Wegsein, in der Fremde angekommen.“ 216 Der überstürzte Aufbruch erinnert an<br />
eine Flucht, schlussendlich kann sich Roman seine Entscheidung selbst nicht<br />
erklären: „Daß er so plötzlich heimflog. Warum? Er dachte: Ich weiß es nicht.<br />
Wann kommst du wieder? Er dachte: Ich weiß es nicht. Bald!“ 217<br />
Die Besonderheiten des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“ liegen in der Umdrehung<br />
herkömmlicher Motivverläufe begründet. Das Motiv strukturiert die Geschichte<br />
Roman Gilanians, indem es erstens seine Situation in der Fremde der<br />
Situation in der Heimat gegenüberstellt und zweitens die Kindheit mit der Gegenwart<br />
vergleicht. Dem herkömmlichen Fokus des Motivs auf die Darstellung<br />
der Veränderungen entgegengesetzt, lässt sich in „Schubumkehr“ eine Tendenz<br />
zur Parallelisierung erkennen. Die dritte Besonderheit bezieht sich auf das<br />
Verhältnis zwischen ingroup und outgroup. Nachfolgend sollen diese Aspekte in<br />
der genannten Reihenfolge erörtert werden.<br />
215 SU, S. 42.<br />
216 SU, S. 43.<br />
217 SU, S. 55.<br />
70
Das Motiv der Heimkehr zieht einen Schnitt durch Romans Leben, indem die<br />
Zeit in Brasilien der Zeit in Österreich gegenübergestellt wird. Die Gegenüberstellung<br />
zeigt jedoch keine Kontraste, sondern Kontinuitäten auf. Die Krise Romans<br />
wird prolongiert. Die Heimkehr löst einen Handlungsverlauf aus, der die<br />
zunehmende Regression Romans zur Folge hat. Die Identitätskrise vor der<br />
Rückkehr manifestiert sich in Alpträumen, in denen Roman überfallen und niedergeschlagen<br />
und anschließend wie ein Fremder durch die Stadt irrt, sowie in<br />
der andeutungsweisen Schilderung seiner problematischen Beziehung zu seiner<br />
Freundin. 218 Die Alpträume finden eine Entsprechung in der Realität Komprechts.<br />
Auch hier bleibt Roman ein Fremder, der mit der Videokamera die Geschehnisse<br />
im Dorf festhält, ohne Zusammenhänge erkennen zu können. Seine<br />
psychische Situation ist unverändert: „Die Vorstellung, was wäre, wenn er in<br />
Brasilien geblieben wäre, irritierte ihn genauso, wie die Tatsache, daß er hier<br />
war. Ihn irritierte alles.“ 219 Die Realität überfordert Roman auch in der Heimat<br />
jeden Tag aufs Neue. In Brasilien („Dann spielte er drei Stunden mit seinem<br />
Camcorder. Er filmte alle Räume seines kleinen Hauses, [...] betrachtete den<br />
Film auf dem Bildschirm, dann überspielte er ihn auf eine Videokassette, die er<br />
zu den anderen ins Regal stellte.“ 220 ) und noch exzessiver in Komprechts („Er<br />
kaufte ein zweites Videogerät [...], seine Ersparnisse schmolzen dahin, es war<br />
ihm egal, sie waren ohnehin zu gering, um eine Entscheidung treffen zu können,<br />
die sein Leben qualitativ verändern würde.“ 221 ) schaltet er seine eigene<br />
Wahrnehmung aus und den Camcorder ein, der Akt des Filmens tritt mehr und<br />
mehr an die Stelle des eigenen Denkens. Komprechts zeigt sich Roman als Ort,<br />
„wo [d]u nichts von all dem verstehst, was [d]u siehst oder erlebst oder erfährst.“<br />
222 Das Heimkehrmotiv fungiert hier als Schaltstelle zwischen zwei Welten<br />
mit ähnlichem Verlauf. Durch die Heimkehr beschleunigt sich der Verfall des<br />
Protagonisten, der Prozess der Rückentwicklung auf das Stadium der „Sinnlichen<br />
Gewißheit“ erfährt in Komprechts eine verschärfte Fortsetzung.<br />
218 Vgl. SU, S. 24 – 33.<br />
219 SU, S. 75.<br />
220 SU, S. 17 – 18.<br />
221 SU, S. 148.<br />
222 SU, S. 85.<br />
71
Neben dem Vergleich zwischen Brasilien und Österreich fungiert das Heimkehrmotiv<br />
als Schnittstelle zwischen Kindheit und Gegenwart. Die Heimkehr<br />
führt Roman gefühlsmäßig zurück in die Vergangenheit. Seine Mutter hat ihm<br />
ein Kinderzimmer eingerichtet: „Alles was er je besessen hatte, was aus irgendeinem<br />
Grund nie weggeworfen worden und in seinem ehemaligen Zimmer<br />
oder im Abstellraum der Wiener Wohnung verstaut gewesen war und vergessen<br />
war, ist nach dem Verkauf der Wohnung in dieser <strong>für</strong> ihn bestimmten<br />
Kammer des Bauernhauses gelandet.“ 223<br />
Dieses Zimmer, das ihm bald zu einer „kleinen Zelle“ 224 wird, löst keine sentimentalen,<br />
durch die vergangenen Jahre verklärten, Erinnerungen aus, vielmehr<br />
kommt es zu einer schmerzhaften Aufarbeitung einer schwierigen Zeit. Erst<br />
durch die Heimkehr wird in Roman ein Erinnerungsprozess ausgelöst, dem er<br />
sich bisher widersetzt hat. „Die Kindheit präjudiziert gar nichts“ 225 , vermeinte er<br />
zu wissen und wird nun eines besseren belehrt, er verspürt Hass, Verachtung,<br />
Gefühle von Peinlichkeit und Gepeinigt-Worden-Sein. 226<br />
Der schmerzhafte Erinnerungsprozess als Ausdruck seiner Identitätskrise ist<br />
mitverantwortlich da<strong>für</strong>, dass Komprechts ein Rätsel <strong>für</strong> ihn bleibt: „Zu schaffen<br />
macht mir in Wahrheit nicht die äußere, sondern die innere, die private Rätselhaftigkeit<br />
meines Lebens.“ 227 Durch die Gegenüberstellung der Kindheit und der<br />
Gegenwart zeigen sich die Parallelen zwischen den beiden Lebensabschnitten.<br />
Als Internatszögling den Quälereien der Mitschüler ausgesetzt, war es Romans<br />
einzige Freude, heimlich unter der Bettdecke lesen zu können. Dazu geht er<br />
auch in Komprechts über: „Aber wie einfach war sie jetzt wieder herstellbar,<br />
diese über allem Schmerz zerfließende Wonne: Da waren seine Bücher von<br />
damals. Und da war seine neue Taschenlampe.“ 228 Die Gegenüberstellung von<br />
Kindheit und Gegenwart zeigt auch die Kontinuität der problematischen Mutter-<br />
Sohn-Beziehung. Die Mutter nennt Roman Romy, steckt ihn in sein altes Kinderzimmer<br />
und behandelt ihn wie ein Kind, „das man schon wie einen Großen<br />
223 SU, S. 61.<br />
224 SU, S. 102.<br />
225 SU, S. 72.<br />
226 Vgl. SU, S. 72.<br />
227 SU, S. 86.<br />
228 SU, S. 107.<br />
72
ehandeln konnte.“ 229 Dem Tod des Vaters in der Kindheit entspricht die Trennung<br />
seiner Mutter vom neuen Ehemann in der Gegenwart, die Ergebnisse sind<br />
dieselben. Vergangenheit („Der Vater war tot – und die Zeit darauf schlief er im<br />
Bett seiner Mutter. Er genoß es. Er durfte nicht zeigen, daß er es genoß. Sie<br />
schliefen aneinandergepreßt in schweigender starrer Trauer.“ 230 ) und Gegenwart<br />
(„Später schmiegte er sich im Schlaf an sie, umschlang sie, drückte sich an<br />
ihren Rücken, sie wachten auf, es kam ihm zu Bewusstsein, was er tat und daß<br />
der Satz in seinem Kopf war: Ich nehm sie mit.“ 231 ) führen zu denselben Verhaltensmustern.<br />
Die Heimkehr überfordert Roman, er reagiert mit Depression und<br />
Regression. Auch die Umstellung der Mutter auf einen gesunden, alternativen<br />
Lebenswandel hat Roman verstört und irritiert, dementsprechend erfreut reagiert<br />
er als sich diese Entwicklung wieder umkehrt: „Roman hatte das Gefühl,<br />
daß er erst jetzt allmählich heimkehrte“ 232 , „[j]a, so war seine Mutter, so ist sie<br />
gewesen. Es tat sich Heimat auf.“ 233 Erst durch diese Rückentwicklung auch<br />
der Mutter kann sich Romans Regression vollständig entfalten.<br />
Eine Entwicklung wie diese lässt nur zwei Möglichkeiten offen: entweder eine<br />
totale psychische Erkrankung oder den Abschied aus der Heimat. Im Handlungsverlauf<br />
erschließt sich sehr bald, dass eine Flucht unabdingbar ist. Dies<br />
zeigt sich in gelegentlichen Reflexionen Romans, die seine Zerrissenheit widerspiegeln:<br />
Ich befinde mich hier im Haus meiner Mutter in einem kleinen geschlossenen<br />
Wahnsystem, das natürlich den steten Impuls bei mir<br />
bewirkt, so schnell wie möglich zu flüchten. Warum tue ich es nicht?<br />
Ich ertappe mich seltsamerweise immer wieder bei einem [...] auf<br />
den hier herrschenden Wahnsinn fixierten Staunen, so daß ich mich<br />
schön langsam frage, ob ich nicht süchtig nach dem bin, wovor ich<br />
flüchten will. 234<br />
Das Heimkehrmotiv steht in Verbindung mit zwei entgegen gesetzten Tendenzen,<br />
wobei eine davon eine pathologische Ausprägung zeigt. Eine logische<br />
Konsequenz dieser Situation ist, dass es zu einer Lösung kommen muss. Wie<br />
229 SU, S. 160.<br />
230 SU, S. 106.<br />
231 SU, S. 159.<br />
232 SU, S. 116.<br />
233 SU, S. 118.<br />
234 SU, S. 86.<br />
73
auch bei Innerhofer ist Romans Heimkehr nur temporär, es gelingt dem Heimkehrer<br />
seine Situation zu erfassen: „Er regredierte hier, das war ihm durchaus<br />
bewußt, nicht mehr lange, und er würde nur noch in seiner Spielecke sitzen, vor<br />
seinen Videogeräten, ab und zu gefüttert werden, und bald würde er nur noch<br />
lallen.“ 235 Roman erkennt seinen Zustand und erkennt auch die fatale Richtung,<br />
die sein Leben genommen hat:<br />
74<br />
So war er starr vor dem Bildschirm gesessen – STOP, AUS, plötzlich<br />
der Gedanke, daß im Moment des Todes das Leben wie ein Film vor<br />
einem ablaufen soll, und was machte er? Er stellte diese Situation<br />
technisch her – und dann sollte er die Augen schließen? Dieser Film<br />
ist kein Leben gewesen, nur Ersatzmaterial, reproduzierbar und ohne<br />
Belang, von nachvollziehbarer Bedeutung nur das Banalste: unbewußt<br />
und unbeabsichtigt hatte er den Wechsel der Jahreszeiten aufgenommen<br />
[...] Weil er kein Leben mehr hatte, dachte er, und dieser<br />
Gedanke wütete und randalierte in ihm so brutal wie die schlimmste<br />
Krankheit. 236<br />
Somit vollzieht sich im letzten Moment eine Kehrtwendung, das Stadium der totalen<br />
Regression bleibt Roman erspart, eine Lösung der Probleme hat die<br />
Heimkehr nicht gebracht, der weitere Verlauf von Romans Biographie ist offen.<br />
Das Heimkehrmotiv geht wieder über in das Fluchtmotiv, wohin die Flucht führt,<br />
bleibt im Dunkeln, Romans letzte Videokassette ist unbespielt: „Vielleicht ist er,<br />
wie soll ich sagen, aufgewacht. Alptraum aus und zu Ende. Und er hat deshalb<br />
auf seine letzte leere Kassette einfach draufgeschrieben: ENDE.“ 237<br />
Nun zur dritten Besonderheit des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“. Heimkehrsituationen<br />
werfen stets die Frage auf, wie sich der Heimkehrer in das soziale<br />
Gefüge der Heimat einfügen wird. Im Gedächtnis der Rezipienten sind dazu<br />
verschiedene Muster gespeichert, die sich aus den bisherigen Lektüreerfahrungen,<br />
sowie aus der eigenen Biographie rekrutieren. In „Schubumkehr“ bricht<br />
das Heimkehrmotiv mit bisher bekannten Verläufen. Denn die nahe liegende<br />
klassische ingroup-outgroup-Konfrontation ergibt sich nicht. Zwischen Roman<br />
und den Dorfbewohnern entwickelt sich kaum Interaktion, wenn Roman einmal<br />
in Komprechts auftaucht, dann nur an Nebenschauplätzen in der Rolle eines<br />
235 SU, S. 160.<br />
236 SU, S. 160 – 161.<br />
237 SU, S. 180.
unbekannten Fremden. Der Heimkehrer, der sich auch selbst als „nur ein Tourist,<br />
sozusagen ein Tourist“ 238 deklariert, spielt die Rolle eines passiven Beobachters<br />
und Chronisten, der von der Bevölkerung kaum wahrgenommen beziehungsweise<br />
ignoriert, mit seiner Videokamera die Vorgänge im Dorf dokumentiert.<br />
Die Heimkehr wirkt sich also inhaltlich nicht auf die Ereignisse in Komprechts<br />
aus, erzähltechnisch ist das Motiv jedoch in zweierlei Hinsicht von Bedeutung.<br />
Romans Videoaufnahmen, kommentiert von zwei Polizeibeamten, bilden<br />
eine Erzählinstanz und präsentieren dem Leser, neben der auktorialen Erzählstimme,<br />
die Geschehnisse im Dorf. Der gewohnte kritische Blick des<br />
welterfahrenen Heimkehrers wird hier durch ein Medium ersetzt, das zwar Momente<br />
exakt wiedergeben kann, jedoch nicht imstande ist, Zusammenhänge<br />
oder Erklärungen zu liefern. Es ist die Aufgabe des Lesers, Romans Bilder zueinander<br />
in Beziehung zu setzen.<br />
Wenn es auch zu keiner Interaktion zwischen Roman und der ingroup kommt,<br />
so geht die Entwicklung auf diesen beiden Ebenen doch in die gleiche Richtung.<br />
Der Heimkehrer und das Dorf leben aneinander vorbei und steuern ihren<br />
jeweiligen Katastrophen entgegen, welche große Ähnlichkeiten aufweisen:<br />
Roman ist in die ´Gerümpelkammer seiner Kindheit`[...] heimgekehrt<br />
und ganz Komprechts frönt der Lust am falschen Zusammenhang.<br />
Nicht nur der Steinbruch, der einst ´das Ganze gewesen` war, degeneriert<br />
zur ´Trümmerlandschaft`, selbst der alte riesige Wald ist zum<br />
Trümmerhaufen zerfallen. 239<br />
Durch die Heimkehr Romans spiegeln sich der Zerfall und die Fragmentierung<br />
seines Bewusstseins in den Geschehnissen in Komprechts:<br />
Zukunft prallt auf Vergangenheit und detoniert als Katastrophe der<br />
Gegenwart. Der Protagonist Roman prallt auf seine Mutter Anne und<br />
wird dabei seines verdrängten Lebensdilemmas gewahr. Der Ort<br />
Komprechts prallt auf die Leichen in seinem Keller und verliert in einer<br />
beinahe antikischen Tragödie die Betreiber seiner Zukunft. 240<br />
238<br />
SU, S. 104.<br />
239<br />
Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29.<br />
240<br />
Vgl. Gollner, in: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98. Auf diese gleichzeitige Vorwärtsund<br />
Rückwärtsbewegung verweist auch der Titel des Romans.<br />
75
Zusammenfassend seien noch einmal die Merkmale des Heimkehrmotivs in<br />
„Schubumkehr“ angeführt. Ein fluchtartiges und wenig durchdachtes Verlassen<br />
Brasiliens lässt <strong>für</strong> den weiteren Verlauf alle Möglichkeiten offen, die Absichten<br />
und Ziele Romans lassen sich nicht eruieren. Diese Ausgangssituation bewirkt,<br />
dass herkömmliche Muster der Heimkehr nicht auf Romans Situation angewendet<br />
werden können. Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt sich das Motiv als<br />
Schaltstelle zwischen Romans alter und neuer Heimat beziehungsweise zwischen<br />
Vergangenheit und Gegenwart. Romans Krise erfährt jedoch nicht durch<br />
die veränderten Gegebenheiten eine Verschärfung, sondern durch die offensichtlichen<br />
Kontinuitäten und Parallelen. Auf den Gesamtkontext der Romanhandlung<br />
bezogen, nimmt das Motiv nur eine marginale Position ein und wirkt<br />
sich inhaltlich kaum aus. Erzähltechnisch jedoch ist das Motiv <strong>für</strong> eine von zwei<br />
Erzählperspektiven verantwortlich. Auf struktureller Ebene spiegelt sich der Verlauf<br />
der Heimkehr Romans in den Geschehnissen im Dorf wieder. Die Verbindung<br />
des Motivs mit einem psychopathologischen Abwehrmechanismus als einer<br />
untypischen Verhaltensweise stellt eine neue Kombination <strong>für</strong> den Rezipienten<br />
dar und erweitert damit das Motivrepertoire. Der Wegfall jeglicher ingroupoutgroup-Interaktion<br />
bedeutet einen weiteren Bruch mit konventionellen Verläufen.<br />
Ebenso ungewöhnlich präsentiert sich die Figur des Protagonisten, die in<br />
keiner Weise an das geläufige Bild vom Heimkehrer anschließen kann, da er<br />
sich weder zu integrieren versucht, noch zu kritischer Reflexion der heimatlichen<br />
Verhältnisse fähig ist.<br />
Abschließend sei noch auf das Verhältnis der Heimkehr zur Anti-Heimat-<br />
Thematik eingegangen. „Schubumkehr“ muss auch als Anti-Heimat-Roman gelesen<br />
werden. Im speziellen Fall Romans verknüpft sich seine Geschichte jedoch<br />
nicht mit den <strong>für</strong> dieses Genre typischen Themen. Die Anti-Heimat entfaltet<br />
sich vor Romans Augen, ohne dass er sie bewusst wahrnimmt. Komprechts<br />
ist ein Dorf, aber keine Heimat, könnte man in Anlehnung an Menasses These<br />
zu Österreich formulieren. Im Mikrokosmos der Gemeinde vereint Menasse das<br />
seiner Meinung nach typisch Österreichische. Auf der Suche nach einer neuen<br />
Identität regrediert die Gemeinde zu einer touristischen Kulisse, zu einer<br />
Scheinidylle, deren Aufrechterhaltung bereitwillig ein vermeintliches Ausländerkind<br />
geopfert wird. Wenn es Roman nicht gelingt, sich in diese Welt einzufügen,<br />
so liegt dies nicht nur in seiner eigenen Identitätskrise begründet (denn wer kei-<br />
76
ne eigene Identität hat, kann auch keine Heimat finden), vielmehr zeichnet<br />
Menasse ein Komprechts respektive Österreich, welche a priori keine Heimat<br />
sein können und jede Heimkehr zum Scheitern verurteilen.<br />
9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von<br />
Peter Zimmermann<br />
9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans<br />
„Das tote Haus“ ist der dritte Roman des österreichischen Schriftstellers und<br />
Journalisten Peter Zimmermann. Die wenigen Rezensionen sind geprägt von<br />
einer sehr positiven Grundhaltung und einer überraschenden Einigkeit in Bezug<br />
auf die Klassifikation des Romans. Die Rezensenten sehen „Das tote Haus“<br />
übereinstimmend zumindest in der Nähe der Anti-Heimat-Literatur. Strigl verweist<br />
auch auf die Nähe zu Hans Leberts „Der Feuerkreis“, sie bezeichnet das<br />
Werk als eine Mischung aus Western und schwarzem Heimatroman. 241 Eva<br />
Schobel spricht von einem „Antiheimatroman, der keine Fluchtbewegung zulässt,<br />
Literatur, die wehtut.“ 242 Schwens-Harrant erwähnt die Fülle der literarischen<br />
Österreichklischees, die Zimmermann im Roman verwendet, ohne dies<br />
aber abwertend zu meinen. Sie betont die düstere und geheimnisvolle Atmosphäre<br />
und sieht im Roman ein Buch über Rassismus, über Erdulden, den<br />
Ausbruch von Gewalt und örtliche sowie psychische Enge. 243 Nach Pfabigans<br />
Ansicht spielt der Roman massiv mit den Grundthemen der Anti-Heimat-<br />
Literatur: „Stumpf, katholisch, und ´national` – so leben die Menschen am Land,<br />
und was einmal nationalsozialistisch war, ist notdürftig mit sozialdemokrati-<br />
241<br />
Vgl. Strigl, Daniela: Beton im Bayou. In: Der Falter 15.6.2007, S. 56. Auch auf eine Nähe zu<br />
Thomas Bernhards „Auslöschung“, sowie zu „Korrektur“ und „Beton“ wird hingewiesen, ohne<br />
jedoch Epigonalität zu kritisieren.<br />
242<br />
Schobel, Eva: Stille, Qual und Phantomschmerz. Peter Zimmermanns schnörkellose, grausame<br />
Antiidylle „Das tote Haus“ lässt keine Fluchtbewegung zu. In: Der Standard (Album)<br />
30.6.2007, S. A 6.<br />
243<br />
Vgl. Schwens-Harrant, Brigitte: Die Träume auf den Müll geworfen. Peter Zimmermanns<br />
recht düsterer Antiheimatroman. In: Die Presse (Spectrum) 17.6.2007, S. VII.<br />
77
schen Phrasen übertüncht.“ 244 Bis auf einige Kritikpunkte betreffend stilistische<br />
Mängel wurde „Das tote Haus“ sehr positiv rezensiert. Die einhellig festgestellte<br />
Nähe zum Genre der Anti-Heimat-Literatur überrascht insofern, da Zimmermann<br />
selbst keineswegs beabsichtigt hat, einen Anti-Heimat-Roman zu schreiben.<br />
Er betrachtet Anti-Heimat-Literatur bereits als Teil der Literaturgeschichte.<br />
245 Für ihn sind die Hauptthemen des Romans die Kraft der Erinnerung, das<br />
Versagen der Liebe, der Einbruch des Fremden ins Vertraute und die Gewalt. 246<br />
Auch wenn der Autor jegliche Intentionen leugnet, so lassen sich in seinem<br />
Roman Merkmale der Anti-Heimat-Literatur finden, auch nach Menasses Kriterien<br />
kann das Werk diesem Genre zugeordnet werden. Wenn Meyer-<br />
Siekendiek bemerkt, dass die österreichische Anti-Heimat-Literatur sich durch<br />
eine unvergleichliche „Akkumulierung düsterer, schrecklicher und grausamer<br />
Phantasien“ 247 von anderen Nationalliteraturen unterscheidet, so fällt es<br />
schwer, diese Feststellung nicht auf Zimmermanns Roman zu übertragen. Nicht<br />
zuletzt schöpft der Autor, wie auch Franz Innerhofer, aus seiner Biographie, indem<br />
er die Erlebnisse seiner Kärntner Kindheit und Jugend zu einer Art verdichtetem<br />
Panorama 248 zusammenfügt.<br />
78<br />
9.2 Suche nach der Stille<br />
Der Roman besteht aus drei Zeitebenen, die ineinander montiert sind. Die jeweiligen<br />
Abschnitte variieren in ihrer Länge von nur wenigen Sätzen bis zu<br />
mehreren Seiten. Der namenlose Ich-Erzähler protokolliert seine Kindheit und<br />
Jugend, sowie seine Zeit in den USA. Mit der Ankunft im Heimatdorf beginnt die<br />
Zeitebene der Gegenwart. Es wird in der Ich-Form erzählt, nur jene Abschnitte<br />
der Kindheit und Jugend, die in direktem Zusammenhang zu Familie und Haus<br />
stehen, werden in der dritten Person erzählt, der Erzähler berichtet von sich als<br />
„der Junge“. Die Kindheit im größten Haus des Dorfes, gelegen auf einer klei-<br />
244 Pfabigan, Alfred: Flucht im Zwischendeck. „Das tote Haus“: Peter Zimmermanns Variante<br />
des Anti-Heimat-Romans. In: Wiener Zeitung (Beilage) 10.6.2006, S. 11.<br />
245 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115.<br />
246 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />
247 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007.<br />
248 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115 – 116.
nen Anhöhe am Dorfrand war geprägt von Schweigen und Angst. Es kommt zu<br />
keiner sentimentalen Verklärung der alten Heimat. Schonungslos rekonstruiert<br />
der Ich-Erzähler eine traumatische Kindheit.<br />
Das titelgebende Haus, eine „kalte Festung“ 249 , „zweitausend Kubikmeter provinzieller<br />
Trotz“ 250 , „eher ein grau verwaschener Monolith mit Kanten und Spitzen<br />
als eine Behausung“ 251 , wurde bewohnt von den Großeltern, sowie den Eltern<br />
des Jungen. Der Junge selbst musste mit wenig Zuneigung auskommen,<br />
die beiden Frauen wetteiferten um die Gunst des Vaters, der Großvater interessierte<br />
sich hauptsächlich <strong>für</strong> andere Frauen. Wenn der Junge die Erwachsenen<br />
störte wurde er in ein abgelegenes Zimmer gebracht, abgeschoben „ein Ding<br />
unter Dingen, überflüssig wie alles, was hier seit Jahrzehnten lagerte“ 252 , wo er<br />
alleine mit seinen Ängsten die Zeit verbringen musste. 253 Ein Bild an der Wand,<br />
Picassos „Akrobatenfamilie mit Affe“ war es, das dem Jungen eine bis heute<br />
andauernde Angst einjagte: „Das Bild hängt immer noch an der selben Stelle,<br />
und die Erinnerung an meinen ersten Blick darauf [...] treibt mir noch jetzt den<br />
Schweiß auf die Stirn.“ 254 Was die Familie verband, war nicht Kommunikation,<br />
sondern Schweigen, wie in der nächsten Passage auch formal dargestellt wird:<br />
Ich erinnere mich noch heute mit Schrecken an die Einsamkeit, die<br />
einen umfing, selbst wenn man hätte meinen können, das Haus wäre<br />
belebt wie ein Bienenstock. Die Mutter in der Küche [...] stumm; die<br />
Großmutter im Garten [...] stumm; der Vater im Schlafzimmer [...]<br />
stumm; und der Großvater [...] Auch er stumm. 255<br />
Episodenhaft erschließt sich das Bild einer tristen Jugend auf dem Land, die einem<br />
Heranwachsenden wenig Perspektiven bietet. Die Erwachsenen trinken,<br />
die Jugendlichen nehmen bewusstseinserweiternde Drogen, oder was ihnen<br />
unter dieser Bezeichnung verkauft wird:<br />
249<br />
Zimmermann, Peter: Das tote Haus. Berlin: Kato 2006, S. 20. Im Folgenden zitiert als TH.<br />
250<br />
TH, S. 16.<br />
251<br />
TH, S.16.<br />
252<br />
TH, S. 63.<br />
253<br />
Der Junge selbst nannte es Blaubarts Zimmer, in Anlehnung an das Märchen von König<br />
Blaubart: „Wer es betritt muss sterben, heißt es im Märchen. Und manchmal auch in der Wirklichkeit.“<br />
TH, S. 42.<br />
254<br />
TH, S. 47.<br />
255<br />
TH, S. 20 – 21.<br />
79
80<br />
Auf dem Land wollen die Leute abheben, da kommt ihnen jeder<br />
Rausch gerade recht. [...] [A]lle Menschen auf dem Land trinken, die<br />
Frauen heimlich und die Männer öffentlich, aber alle aus demselben<br />
Grund: sie sind nicht <strong>für</strong>einander geschaffen. Sie heiraten aus Verzweiflung,<br />
aus Langeweile, aus Gewohnheit, aus Einsamkeit, Männer<br />
beeindrucken Frauen mit frisierten Autos, Frauen Männer mit gekreischten<br />
Scheinorgasmen. 256<br />
Nur fragmentarisch zeigt sich das Bild der Jugend, Details bleiben im Dunkeln,<br />
ebenso wie die genaue Motivation zum Mord an den Eltern, der den Abschied<br />
von der Heimat markiert. In den Sekunden nach dem Mord verspürt der Junge<br />
eine Stille, die sein zukünftiges Leben beherrschen wird. Die Suche nach einer<br />
Rückkehr dieses Moments steht im Zentrum all seiner weiteren Bemühungen.<br />
Seine Flucht führt ihn nach Amerika, wo er heiratet, sich wieder scheiden lässt<br />
und in die Sümpfe Louisianas zieht. Dort wird ein Neger, vom Ku-Klux-Klan seiner<br />
Zunge beraubt, sein stummer Begleiter. Von seiner Zeit in der Fremde<br />
bleibt die Feststellung, dass „Amerika eine herbe Enttäuschung war.“ 257<br />
„Das tote Haus“ bietet eine Vielzahl von Bildern und Motiven, von Anspielungen<br />
und intertextuellen Verweisen. Der Roman würde sich eine intensivere Analyse<br />
verdienen. Im Rahmen dieses Kapitels soll aber noch ein letztes Mal die Funktion<br />
des Heimkehrmotivs im Zentrum stehen. Es geht also darum, dieses und<br />
die damit verbundenen Motive und Themen näher zu analysieren.<br />
In der Reise des Protagonisten durch die USA klingt das Motiv des Wanderns<br />
an, das in seiner Auffächerung in Ausfahrt, Wegsuche und Einkehr auf typische<br />
menschliche Grundhaltungen verweist. 258 In Zimmermanns Roman gleicht die<br />
Wanderung einer Irrfahrt, bestimmt von der Suche nach einer verlorenen Empfindung.<br />
Die Wanderung wird durch die Heimkehr beendet, die Suche jedoch<br />
geht weiter. Durch die Thematik der Suche sind Wander- und Heimkehrmotiv<br />
miteinander verknüpft, letzteres löst ersteres im linearen Handlungsablauf ab.<br />
Wenn Strigl schreibt: „Der verlorene Sohn kehrt heim, wo man ihn in einer Mischung<br />
aus Angst und Hass erwartet“ 259 , so bemüht sie dieses Motiv nicht ganz<br />
zu Recht, denn im Dorf erwartet niemand den Heimkehrer, niemand empfängt<br />
256 TH, S. 31 – 32.<br />
257 TH, S. 30.<br />
258 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 372.<br />
259 Strigl, in: Der Falter 15.6.2007, S. 56.
ihn. Eher schon eignet sich die Odyssee als Referenzpunkt, einerseits durch die<br />
Irrfahrt in der Fremde und andererseits durch den Verlauf der Heimkehr, wie<br />
auch Zimmermann selbst anmerkt: „...auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu<br />
einem Gefühl der Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg.“ 260 Zu diesem<br />
Krieg später mehr.<br />
Der Roman beginnt mit der Ankunft des Protagonisten und seines Begleiters im<br />
Dorf. Erst danach beginnt der Ich-Erzähler mit der Schilderung der anderen<br />
Zeitebenen. Somit ist die Heimkehr Ausgangspunkt <strong>für</strong> einen Rückblick auf das<br />
bisherige Leben. Durch die Parallelmontage verschiedener Zeitebenen zeigt die<br />
Heimkehr die Veränderungen beziehungsweise Kontinuitäten zwischen der<br />
Heimat der Kindheit und der Heimat der Gegenwart:<br />
Alles wie vor einem halben Leben, nur ein wenig verkommener. Aus<br />
Erwachsenen sind Greise geworden, aus Säuglingen Arbeitslose und<br />
Frührentner, aus dem ersten Aufwallen der Gefühle Kinder, gezeugt<br />
an Autositzen, in Kellerabteilen und auf pflegeleichten Bettsofas, und<br />
aus einer endlosen Kette von Enttäuschungen der Tod im Rausch. 261<br />
Was die Heimkehr offenbart, sind keine richtigen Veränderungen, vielmehr Verschlechterungen<br />
ohnehin schon ungünstiger Verhältnisse. Deutlich wird dem<br />
Heimkehrer vor Augen geführt, welches Schicksal er sich durch sein Weggehen<br />
erspart hat: Die Leute von früher haben ihre Träume schon längst auf den Müll<br />
geworfen und „leben, so sie überhaupt noch leben, in Gefängnissen, Entziehungsanstalten,<br />
an Sauerstoffflaschen hängend in stinkenden Einzimmerwohnungen<br />
oder mit einem künstlichen Arschloch daheim bei den Eltern, in ihren alten<br />
Jugendzimmern, und beziehen ihr Taschengeld vom Sozialamt.“ 262<br />
Es sind drastische Worte die der Heimkehrer da von Ela, seiner Jugendliebe zu<br />
hören bekommt. Ela steht stellvertretend <strong>für</strong> all jene, die es nicht über den Rand<br />
des Dorfes hinausgeschafft haben. Ein letztes Mal kommt es zu einer Annäherung,<br />
dabei verschmilzt die Erinnerung an den ersten Kuss mit dem emotionslosen<br />
Versuch, die alten Gefühle noch einmal heraufzubeschwören. Beendet wird<br />
die mehr traurige, denn lustvolle Annäherung abrupt durch die Hinrichtung des<br />
260 Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />
261 TH, S. 12.<br />
262 TH, S. 65.<br />
81
Negers. 263 In der Konfrontation mit Ela zeigt sich sehr deutlich der Unterschied<br />
zwischen dem Heimkehrer und den Daheimgebliebenen. Es ist die Erfahrung<br />
des Weitgereisten, die ihm die Augen öffnet und ihn die Stagnation der heimischen<br />
Verhältnisse erkennen lässt. Über die Jahrzehnte unverändert das Haus:<br />
„Ich bin das einzige Ding, das dieses Zimmer wieder verlassen hat, sonst steht<br />
alles noch an seinem Platz, wie damals an meinem fünften Geburtstag…“ 264 ,<br />
unverändert auch die ingroup. Der Großvater des Heimkehrers war der Bürgermeister<br />
des Ortes und als solcher verantwortlich <strong>für</strong> die Genehmigung von<br />
Neubauten: „Ein Haus das auffalle, sagte er, sei ein auffälliges Haus. Und ein<br />
Hausherr, der durch ein auffälliges Haus erreichen wolle, dass man ihn <strong>für</strong> einen<br />
außergewöhnlichen Menschen halte, werde sich damit nicht bescheiden…“<br />
265 Gegen die Individualität und gegen ein Abweichen von der Norm richtet<br />
sich die Bauordnung nach wie vor. Der Umbau, den der Heimkehrer durchführt,<br />
stößt auf offene Ablehnung. Der Bürgermeister, so erfährt man ist Anhänger<br />
der Sozialwohnung: „Genormte Einheiten in einheitlichen Bauten sind <strong>für</strong><br />
ihn der Garant […] <strong>für</strong> die Unterbindung des persönlichen Faschismus…“ 266 Die<br />
Bevölkerung des Dorfes hat sich nicht aus der „Bunkermentalität des „Wir-sind-<br />
Wir“ 267 herausgewunden, die Heimkehr zeigt sehr deutlich, dass es zu einem<br />
Konflikt zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen kommen<br />
muss, wie auch der Heimkehrer, spät aber doch, erkennt: „Es wird schwierig,<br />
sage ich. Es hat sich nichts verändert.“ 268<br />
Neben dem Vergleich von Einst und Jetzt dient die Heimkehr auch dazu, die<br />
Fremde und die Heimat zu vergleichen. Der Begleiter des Heimkehrers ist<br />
stumm, weil ihm vom Ku-Klux-Klan die Zunge abgeschnitten wurde. In der<br />
Kärntner Provinz erfährt der Südstaatenrassismus, als Symbol <strong>für</strong> eines der<br />
dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten, seine traurige<br />
Entsprechung. Der Neger, Prototyp des bedrohlichen Fremden, dazu in Trachtenkleidung<br />
gesteckt, eine „unverschämte[n] Verhöhnung alpiner Traditio-<br />
263<br />
Vgl. TH, S. 127 – 138.<br />
264<br />
TH, S. 64.<br />
265<br />
TH, S. 81.<br />
266<br />
TH, S. 103.<br />
267<br />
Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />
268<br />
TH, S. 120.<br />
82
nen“ 269 , wird von den Kindern gejagt und von den Erwachsenen verprügelt.<br />
Spätestens als er sich wehrt, sind seine Tage gezählt. Während der Neger als<br />
klassisches Feindbild leicht einzuordnen ist, bietet der Heimkehrer Anlass <strong>für</strong><br />
Verwirrung. Der Mensch, der hier nach Hause zurückkehrt, ist genauso rätselhaft<br />
wie seine Absichten im Dorf. Ein Dandy mit Vorliebe <strong>für</strong> teure Anzüge und<br />
extravagantes Schuhwerk. In der Literatur ist der Dandy eine kaum jemals vorbildhaft<br />
dargestellte Figur. Auch hier muss man sich fragen, wie groß der Unterschied<br />
zwischen Dandy und ingroup ist. Denn ist eine Person, die einen Afroamerikaner<br />
zu Provokationszwecken in die Landestracht steckt und sich von<br />
ihm den Rücken waschen lässt, nicht auch des Rassismus verdächtig?<br />
Der Dandy steht seiner Umwelt gleichgültig gegenüber und legt vor allem Wert<br />
auf äußere Eleganz, der Schein ist ihm wichtiger als das Sein. 270<br />
Der Typus des Heimkehrers, der tendenziell nach einer Wiederaufnahme in die<br />
Gemeinschaft strebt, findet sich hier im Typus des Dandys repräsentiert, der<br />
keine Interessen <strong>für</strong> provinzielle soziale Systeme hegt. Die zwei auf den ersten<br />
Blick unvereinbaren Typen weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die Suche<br />
nach der eigenen Identität. Denn es ist nur eine Maske, die sich der Heimkehrer<br />
verpasst hat, um die eigene Vergangenheit zu verdrängen: „Er ist jemand, der<br />
vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das nicht klappt. Das Dandyhafte<br />
ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu verpassen.“ 271<br />
So rätselhaft wie die Figur sind auch die Gründe <strong>für</strong> die Rückkehr. Die Frage<br />
nach den Beweggründen wird, zugunsten der Aufrechterhaltung der Spannung,<br />
erst spät beantwortet. Anfangs erscheint sie nicht als eine existentielle Notwendigkeit,<br />
eine Krise des Protagonisten lässt sich vordergründig nicht erkennen.<br />
Der Entschluss zur Heimkehr fiel spontan und unerwartet: „Ich muss dir sagen,<br />
dass ich nie ernsthaft erwogen habe zurückzukommen, trotz allem, was mir in<br />
Amerika passiert ist. Aber jetzt denke ich, es ist nun einmal das einzige Zuhause,<br />
das ich je hatte.“ 272<br />
Der Romantitel suggeriert es und zu Beginn scheint es auch, als würde das<br />
Haus im Zentrum der Heimkehr stehen. Die fatale Verbindung der Hauptfigur<br />
269<br />
TH, S. 125.<br />
270<br />
Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 90 – 91.<br />
271<br />
Interview Peter Zimmermann, S. 118.<br />
272<br />
TH, S. 54.<br />
83
mit diesem wird dargelegt: „Das Haus der Kindheit überlagert alle Häuser, die<br />
man in seinem späteren Leben betritt. […] Ich bin mit diesem Haus verwachsen.<br />
Mit seinem Geruch, mit seiner Kälte und mit seiner Hässlichkeit.“ 273<br />
Wie Daemmrich/Daemmrich anmerken, steht das Haus als Motiv in enger Verbindung<br />
mit dem Motiv der Heimkehr als Zeichen <strong>für</strong> eine Veränderung im Leben<br />
der Figuren, und kann sich unter Umständen auch zum Gegenspieler des<br />
Handlungsträgers entwickeln. Im Betrachten eines Hauses kann sich eine Person<br />
kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. 274 Diese Funktionen<br />
erfüllt das Haus auch im Roman. Mit dem Betreten des Hauses, das im<br />
ersten Kapitel nur von außen betrachtet wurde, verdichten sich die Erinnerungen<br />
an die schreckliche Kindheit und die Absichten des Heimkehrers erfahren<br />
eine konkretere Gestaltung: „Das muss alles raus, sage ich. Ich will ein Haus<br />
ohne Vergangenheit und ohne Möglichkeit, sich darin eine Zukunft vorzustellen,<br />
verstehst du?“ 275<br />
Auch anhand dieser Passage wird ersichtlich, dass sich die Heimkehr hier jeglicher<br />
Deutung verweigert. Die alten gespeicherten Muster lassen sich nicht über<br />
den Text legen. Zumindest lässt sich erahnen, dass Veränderungen stattfinden<br />
sollen. Veränderungen, die der Heimkehrer initiiert und die wohl mit seiner Vergangenheit<br />
zusammenhängen. Das Auslöschen der Vergangenheit mag plausibel<br />
erscheinen, doch ein Haus ohne Zukunft? Dies wäre dann ein Haus nur <strong>für</strong><br />
einen Augenblick, <strong>für</strong> einen Moment. Erst gegen Ende von Kapitel zwei klärt<br />
sich auf, um welchen Moment es sich dabei handelt:<br />
84<br />
Nach dem Aufschlag des Leichnams am Boden war die Stille im<br />
Zimmer atemberaubend. Nichts war zu hören, kein Vogel und kein<br />
Wind, kein Knacken der Äste in den Bäumen, kein Auto von der fernen<br />
Hauptstraße, keine Stimmen in den Wänden. Ich hörte nicht<br />
einmal mein Herz schlagen oder das Blut in den Ohren rauschen, es<br />
war, als wäre das Zimmer aus der Welt geschleudert worden. 276<br />
Hier verbindet sich das Motiv der Heimkehr mit dem, laut Autor einzigen durchgängigen<br />
Motiv des Textes, also dem Leitmotiv. 277 Die Suche nach diesem<br />
273<br />
TH, S. 16 – 17.<br />
274<br />
Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 187 – 188.<br />
275<br />
TH, S. 45.<br />
276<br />
TH, S. 67 – 68.<br />
277<br />
Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 118.
Moment der Stille wurde zum Lebensinhalt des Protagonisten, ein aussichtsloses<br />
Unterfangen, egal ob im schalltoten Raum des Hauses in Louisiana oder<br />
auf einem Tafelberg in Ohio. 278 Somit erscheint die Rückkehr als letzte Hoffnung,<br />
die Stille wenigstens am Ort des Verbrechens noch einmal zu erleben.<br />
Dazu muss zuerst der Gegenspieler, das Haus selbst ausgeschaltet werden,<br />
denn „dieses Haus wird zu deinem Gefängnis, sobald du es wieder betrittst. Es<br />
ist, wie soll ich es sagen, es ist, als würdest du in einem Geflecht aus Erinnerungen<br />
hängen bleiben, es sei denn, und jetzt hör mir gut zu, du bringst die<br />
Kraft auf, alles zu zerstören.“ 279<br />
Die Herausforderung, die hier an den Rezipienten gestellt wird, ist die Verweigerung<br />
konventioneller Heimatdefinitionen. Um Heimat und Identität zu finden,<br />
benötigt es einen konkreten Raum und vor allem auch soziale Beziehungen.<br />
Der Dandy in Zimmermanns Roman verweigert sich von Beginn an jeglicher Interaktion<br />
mit der ingroup und zieht sich in sein Haus zurück: „Mach aus dir eine<br />
Insel, hörst du? Gibt es einen edleren Anspruch an sich selbst?“ 280 Das Haus,<br />
als hermetisch abgeriegeltes Territorium, ist längst nicht mehr nur Wohnraum,<br />
es ist eine Festung und Provokation <strong>für</strong> die Dorfbewohner. Die Funktion des<br />
Motivs nach Daemmrich/Daemmrich ist klar: hier findet eine Abrechnung mit der<br />
Heimat statt. Der Heimkehrer positioniert sich bewusst außerhalb der Gemeinschaft.<br />
Das Heimkehrmotiv erhält eine neue Verlaufsmöglichkeit, die sich mit<br />
herkömmlichen Schemata nicht überschneidet. Die Heimat des Dandys ist nicht<br />
von dieser Welt. Der Krieg gegen das Dorf ist der letzte Akt im Kampf mit einer<br />
Welt, an der er letztendlich zugrunde gegangen ist. Die Heimkehr ist gescheitert<br />
und endgültig: „Der Erzähler verharrt im Innenraum der Stille wie in einem<br />
Grabmal. Die Welt wird ihn nicht mehr sehen.“ 281 Die Stille ist zurück, wird aber<br />
zur Qual:<br />
Doch jetzt, unter der nackten Glühbirne, bist du allein wie nie. [...]<br />
Vielleicht ist die Stille eine Art Phantomschmerz, eine Erinnerung an<br />
die Qual vielstimmiger Weltwahrnehmung, was auch immer. Tatsa-<br />
278 Vgl. TH, S. 66 – 73.<br />
279 TH, S. 90 – 91.<br />
280 TH, S. 188.<br />
281 Interview Peter Zimmermann, S. 119.<br />
85
86<br />
che ist, dass die Stille einem den Atem raubt. Nichts ist beklemmender<br />
als die anwesend empfundene Abwesenheit von Geräusch. 282<br />
Trotz dieses Endes entspricht „Das tote Haus“ von allen im Rahmen dieser Arbeit<br />
behandelten Werken am ehesten der klassischen Heimkehrergeschichte.<br />
Die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit in der Fremde und die Zeit nach der<br />
Heimkehr werden geschildert, zwar nicht lückenlos, aber die wichtigsten Episoden<br />
werden erwähnt. Die Krise des Protagonisten und die Veränderungen in<br />
der Heimat werden ebenso thematisiert. Die Abschiedsszene verschweigt uns<br />
der Ich-Erzähler, begründet liegt dies im fluchtartigen Verlassen der Heimat.<br />
Dass eine Lösung der Probleme und Aufnahme in die Gemeinschaft nicht erfolgen<br />
kann, liegt in den, dem Genre der Anti-Heimat-Literatur inhärenten Charakteristiken<br />
begründet.<br />
Das Heimkehrmotiv weist in diesem Werk auch den unkonventionellsten Verlauf<br />
auf. Es löst einen Handlungsablauf aus, der im Vorhinein nicht absehbar ist und<br />
wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt. In Kombination mit anderen Motiven<br />
(Dandy, Haus) ergeben sich Konstellationen, die keinen bekannten Mustern zugeordnet<br />
werden können und somit auch keine Voraussagen <strong>für</strong> den weiteren<br />
Handlungsverlauf zulassen. So manches bleibt rätselhaft und auch das Ende ist<br />
mehr als unkonventionell. An den traditionellen Heimatroman erinnert die<br />
ingroup-outgroup-Konstellation, wobei man dem heimkehrenden Dandy nicht<br />
immer mit Sympathie begegnen kann. Bei Zimmermann wird die Heimat zu einem<br />
Ort, um den zu kämpfen es sich nicht mehr lohnt. In seiner Kärntner Topographie<br />
aus „Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung“ 283<br />
und Gewalt erscheint es a priori unmöglich Heimat zu finden. Nur eine totale<br />
Destruktion der alten Kulissen und ein gleichzeitiges Verharren am Ort des<br />
Schreckens können den gewünschten Gefühlszustand noch einmal herstellen.<br />
Dies jedoch um den Preis der eigenen Existenz. „Das tote Haus“ sollte kein Anti-Heimat-Roman<br />
werden und geht in seiner Drastik auch über das Genre hinaus.<br />
Diese beklemmende Verdichtung und Überzeichnung autobiographischer<br />
Momente könnte man als eine Non-Heimat-Literatur bezeichnen, die jeglichen<br />
Heimatbegriff von vornherein negiert.<br />
282 TH, S. 188 – 189.<br />
283 Interview Peter Zimmermann, S. 116.
Besonders drastisch zeigt sich, dass es Heimat ohne soziale Beziehungen nicht<br />
geben kann. Ein Territorium alleine, sei es Manhattan, der Bayou oder das verzauberte<br />
Zimmer, ist zuwenig. Die Kindheit, die der Protagonist nach seiner<br />
Heimkehr noch einmal ausführlich reflektiert, war begleitet von negativen Emotionen,<br />
von nicht vorhandener Kommunikation und von einer nicht vorhandenen<br />
Bindung an die Familie. Geborgenheit und Heimat konnte der Junge nicht erfahren.<br />
Für den Heimkehrer bietet sich somit von vornherein keine Möglichkeit,<br />
an die Heimat der Kindheit anzuknüpfen. Die ersten Sozialisationserfahrungen<br />
wirken sich auf das gesamte spätere Leben aus: „Diese Prägungen schleppt<br />
man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich die Lebensumstände vollkommen<br />
ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug,<br />
Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“ 284<br />
An dieser Stelle sei noch einmal Schlink zitiert: „Die Erinnerungen machen den<br />
Ort zur Heimat, die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch<br />
die Sehnsucht nach dem, was vergangen und verloren ist,...“ 285 „Das tote Haus“<br />
bietet keinen Platz <strong>für</strong> sentimentale Erinnerungen, hier wird Heimat wirklich zu<br />
einem utopischen Begriff, die Heimkehr zu einer Selbstaufgabe, die in der Auslöschung<br />
der eigenen Existenz ihr Ende findet.<br />
10 Funktionen des Heimkehrmotivs<br />
Welche Erkenntnisse ergeben sich nun aus der Betrachtung des Heimkehrmotivs<br />
in den obigen vier Anti-Heimat-Romanen? Dieses abschließende Kapitel<br />
gliedert sich in drei Teile, in denen die Erkenntnisse zusammengefasst und<br />
Verbindungen zwischen dem theoretischen und interpretatorischen Teil hergestellt<br />
werden sollen. Der erste Teil dreht sich um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />
der vier Motivverläufe. Es soll versucht werden, das Spezifische des<br />
Heimkehrmotivs in den jeweiligen Werken zu eruieren und dessen erzähltechnische<br />
Funktion(en) herauszuarbeiten. Natürlich kann eine Analyse von nur vier<br />
Werken nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, die Auswahl von<br />
284 Interview Peter Zimmermann, S. 116.<br />
285 Schlink 2000, S. 33.<br />
87
Werken aus vier Jahrzehnten sollte es aber ermöglichen, Aussagen in Bezug<br />
auf eventuell vorhandene Konstanten und Kontinuitäten zu treffen. Es soll also<br />
versucht werden, Konstanten und Variablen zu definieren. Als Referenzpunkt<br />
dienen stets die Verläufe der klassischen Heimkehrergeschichte, sowie die traditionelle<br />
Heimatliteratur, als deren Teilgebiet die Anti-Heimat-Literatur auch<br />
bezeichnet werden kann. Die Divergenz beziehungsweise die Ähnlichkeit zu<br />
diesen Genres weist auf den Grad der Innovation (beziehungsweise Epigonalität)<br />
hin. Die im Theorieteil dargestellten Charakteristika von Motiven werden in<br />
Bezug zu den spezifischen Ausprägungen des Heimkehrmotivs in den Werken<br />
von Fritsch, Innerhofer, Menasse und Zimmermann gesetzt.<br />
Der zweite Teil wird sich mit den in Kapitel zwei diskutierten Heimatkonzepten<br />
und deren Entsprechungen im Analyseteil beschäftigen. Dabei steht eine<br />
genauere Betrachtung der individuellen Heimkehrerschicksale im Vordergrund.<br />
Leitfragen <strong>für</strong> das Auffinden eines werkübergreifenden Heimatkonzeptes sind<br />
die Aspekte der Identität der Heimkehrer und deren Krisen, die Suche nach<br />
Heimat, die Sozialisation vor allem in der Kindheit und die nach der Heimkehr<br />
angewandten Strategien. Es stellt sich die Frage, ob es ein bestimmtes Heimatkonzept<br />
gibt, das vermittelt wird, und, wenn ja, wodurch es sich definiert.<br />
Grundlegende Frage dabei ist, ob es grundsätzlich möglich ist, Heimat zu finden.<br />
Abschließend soll das Motiv der Heimkehr in Bezug zum Genre gesetzt werden.<br />
Die Figuren der Anti-Heimat-Literatur zeichnen sich in erster Linie durch eine<br />
Tendenz zur Flucht aus. Zu untersuchen ist daher, welche Funktion das Heimkehrmotiv<br />
in einem Anti-Heimat-Roman einnehmen kann, welchen Beitrag es in<br />
Hinblick auf die dem Genre immanenten Grundaussagen und -absichten leistet.<br />
Auch der Blick auf die ingroup, wie sie sich dem Heimkehrer präsentiert, soll<br />
hier diskutiert werden.<br />
88
10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs<br />
Motive definieren sich dadurch, dass sie eine epische Handlung auslösen. Welchen<br />
Stellenwert diese Handlung im Werk einnimmt, hängt davon ab, ob das<br />
Motiv als Kern- oder Rahmenmotiv verwendet wird. In Bezug auf die diskutierten<br />
Werke lässt sich <strong>für</strong> drei der vier eine eindeutige Verwendung als Kernmotiv<br />
feststellen. Felix Golub kehrt aus der Kriegsgefangenschaft in die Kleinstadt zurück,<br />
Hans-Peter Lambrecht und Zimmermanns namenloser Dandy finden sich<br />
an den Orten ihrer Kindheit wieder. Durch die Heimkehr wird die Handlung erst<br />
in Gang gesetzt, im Zentrum der Werke steht die Zeit nach der Heimkehr. So<br />
etwa wechseln sich in „Fasching“ die Abschnitte der Vergangenheit und Gegenwart<br />
zwar ab, die erzählte Zeit der Heimkehr umfasst jedoch nur vier Tage,<br />
welche dementsprechend ausführlicher geschildert werden. „Der Emporkömmling“<br />
als lineare Erzählung streift die Ereignisse der Vergangenheit nur zu Beginn,<br />
indem Lambrecht über sein Scheitern als Student berichtet und seine Abneigung<br />
gegen die Stadt artikuliert, von Roman Gilanians Zeit in Brasilien erfährt<br />
der Leser nur durch Träume und Textfragmente, „Das tote Haus“ setzt ein<br />
mit der Ankunft im Dorf und streift die Vergangenheit in durch die Heimkehr<br />
ausgelösten ausführlichen Reflexionen. Insofern löst das Heimkehrmotiv nicht<br />
nur Handlung aus, sondern auch einen Reflexionsprozess, der die Vergangenheit<br />
beziehungsweise Kindheit zum Thema hat. Diese Rückblicke sind auch<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart.<br />
Die Heimkehrer sind zugleich auch die Hauptfiguren in den Werken, dementsprechend<br />
große Berücksichtigung findet die Heimkehr im Romangeschehen.<br />
Im Falle von Roman Gilanian kann das Heimkehrmotiv nur als Rahmenmotiv<br />
bezeichnet werden, da es zwar die Handlung einer von zwei Ebenen auslöst,<br />
zur anderen Ebene, den Geschehnissen in und um das Dorf Komprechts, jedoch<br />
nur indirekte Bezüge aufweist. Roman ist die Hauptfigur des Romans, jedoch<br />
grenzt sich seine Stellung weniger klar von den anderen Figuren ab, er ist<br />
weniger als Hauptfigur, denn als primus inter pares zu sehen. Dementsprechend<br />
gestaltet sich die Erzählperspektive. Die Heimkehr als Kernmotiv bedingt<br />
die Darstellung in der Ich-Form, das Geschehen präsentiert sich aus dem<br />
89
Blickwinkel der Heimkehrer, wird die Heimkehr nur als Rahmenmotiv verwendet,<br />
bestreitet ein auktorialer Erzähler den Großteil des Romans.<br />
Motive verbinden verschiedene Ebenen miteinander. Im konkreten Fall des<br />
Heimkehrmotivs fällt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />
auf. Aus der Situation der Protagonisten ergibt sich ein Vergleich zwischen der<br />
Zeit vor und nach der Heimkehr.<br />
Herkömmliche Heimkehrergeschichten legen den Schwerpunkt auf die Veränderungen,<br />
die im Laufe der Zeit stattgefunden haben. In den behandelten Werken<br />
dient die Heimkehr vor allem dazu, Kontinuitäten aufzuzeigen. Felix etwa<br />
erfährt spätestens am Heimkehrerball, dass die Gesinnung der Bevölkerung<br />
sich nicht geändert hat, dass er nach wie vor als Verräter gebrandmarkt ist,<br />
Hans-Peter Lambrecht muss sich weiterhin die nationalsozialistischen Heldentaten<br />
seines Stiefvaters anhören, Roman Gilanian landet physisch wie psychisch<br />
in der „Gerümpelkammer seiner Kindheit“ 286 und auch der Dandy muss<br />
feststellen: „Es wird schwierig, sage ich. Es hat sich nichts verändert.“ 287 Im<br />
Gegensatz zu den Veränderungen, die Heimkehrern in der Regel zu schaffen<br />
machen, sind es die Kontinuitäten, die Probleme bereiten. Nur bei Innerhofer<br />
zeigt sich auch die Problematik, die durch Veränderungen ausgelöst wird. Lambrecht<br />
muss erkennen, dass sich Dorf und Haus der Kindheit in eine Richtung<br />
verändert haben, die es ihm schwer macht, sich in seine alte Umgebung wieder<br />
einzufinden. „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein“ 288 , lautet<br />
das ernüchternde Resümee.<br />
Das Heimkehrmotiv findet sich in allen Epochen der Literaturgeschichte. Als älteste<br />
und auch bekannteste Variationen gelten die Odyssee und das Gleichnis<br />
vom Verlorenen Sohn aus der Bibel. Das Thema Heimkehr ist untrennbar mit<br />
Assoziationen zu diesen beiden Darstellungen verbunden. Auch die der in dieser<br />
Arbeit analysierten Schicksale laden stellenweise dazu ein, Vergleiche mit<br />
den alten Beispielen zu ziehen. Lambrecht vergleicht sich selbst mit Odysseus<br />
und bezeichnet seinen Weg in die Redewelt als Irrfahrt. Roman Gilanians<br />
Rückkehr in den Schoß der Mutter verleitet zu einem Vergleich mit der Ge-<br />
286<br />
Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29.<br />
287<br />
TH, S. 120.<br />
288<br />
DE, S. 56.<br />
90
schichte aus dem Lukasevangelium, und der Dandy irrt lange Jahre in den USA<br />
herum, bevor ihn seine Heimkehr, so wie Odysseus, nicht „zu einem Gefühl der<br />
Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg“ 289 führt. Mehr als eine entfernte<br />
Verbindung lässt sich bei weiterer Lektüre jedoch nicht herstellen, zu sehr<br />
brechen die Verläufe der Heimkehrer mit denen ihrer Vorbilder. Ein Happy End<br />
findet nicht statt. So wie Odysseus und der Verlorene Sohn irren die vier Hauptfiguren<br />
suchend in der Fremde umher, um letztendlich den Weg in die Heimat<br />
einzuschlagen. In diesen Übereinstimmungen erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten,<br />
bekannte Heimkehrschemata können nicht auf die Texte angewandt<br />
werden. Orientiert sich der Rezipient an bekannten gespeicherten Mustern, erfährt<br />
er im Laufe der Lektüre eine Enttäuschung und ist dazu gezwungen, das<br />
Heimkehrmotiv neu zu deuten. Besonders in „Fasching“ war dies eine Herausforderung,<br />
die Ablehnung und Fehlinterpretationen hervorrief. Mehr als ein<br />
schemenhaftes Auftauchen bekannter literarischer Vorbilder kann also nicht<br />
festgestellt werden. Das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur schlägt von<br />
Beginn an einen eigenständigen Weg ein, wie auch die folgenden Besonderheiten<br />
zeigen.<br />
Definitiv handelt es sich in keinem Fall um herkömmliche Heimkehrergeschichten.<br />
Dazu müssten die Zeit vor dem Weggehen und die Zeit in der Fremde ausführlicher<br />
dargestellt werden. Zwar hat das Heimkehrmotiv eine Schaltfunktion<br />
zwischen Vergangenheit und Gegenwart inne, durch die nur bruchstückhafte<br />
Darstellung der Vergangenheit wirft die Rückkehr jedoch Fragen auf. Denn nur<br />
eine Kenntnis der Zeit in der Fremde kann zum Verstehen der Beweggründe <strong>für</strong><br />
die Heimkehr führen. Gerade diese Beweggründe sind es, die, mit einer Ausnahme,<br />
nur unzureichend erklärt werden.<br />
Gemeinsam ist allen vier Heimkehrern, dass sie sich in einer mehr oder weniger<br />
stark ausgeprägten psychischen Krisensituation befinden. Felix Golub steht als<br />
mittelloser, entlassener Kriegsgefangener vor dem Nichts, Lambrecht wird geplagt<br />
von Selbstmordgedanken, Roman Gilanian leidet unter Alpträumen und<br />
einer unglücklichen Beziehung und den Dandy quält die erfolglose Suche nach<br />
der Stille, die ihn ruhelos umherwandern lässt. Diese Krisen verlangen nach ei-<br />
289 Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />
91
ner Lösung, es ist jedoch nur in einem Fall annehmbar, dass eine Heimkehr<br />
Besserung verschaffen könnte. Lambrechts Rückkehr ist schlüssig begründet,<br />
er erhofft sich von einer Rückkehr in die Arbeitswelt eine Bewältigung seiner<br />
Krise, er akzeptiert sein Scheitern in der Stadt. Lambrecht erscheint die Welt<br />
der körperlichen Arbeit als eine Möglichkeit zur Identitätsfindung und er kann<br />
das auch aus seiner Biographie begründen, da er schon einmal Arbeiter war.<br />
Was Felix Golub betrifft, so gestaltet sich seine Situation etwas anders. Wohl<br />
mag die Aussicht auf eine selbständige Existenz als Fotograf hoffnungsvoll erscheinen,<br />
objektiv betrachtet aber kann sein Unternehmen angesichts seiner<br />
Vergangenheit und der Struktur der ingroup nur scheitern. Felix jedoch ignoriert<br />
die negativen Vorzeichen und bezahlt da<strong>für</strong> mit seinem Leben. Ebenso wenig<br />
nachvollziehbar ist die Heimkehr bei Roman Gilanian, der bis zur Abreise eine<br />
starke Abneigung <strong>für</strong> die Provinz empfindet und trotzdem, ohne zu überlegen,<br />
fluchtartig aus Brasilien abreist. Der Dandy kehrt aufgrund einer Erbschaft zurück,<br />
ohne einen längeren Aufenthalt geplant zu haben, das Ziel der Suche erscheint<br />
zudem bis zum Schluss rätselhaft, da es ein sehr abstraktes ist.<br />
Aus der mangelnden Begründung <strong>für</strong> die Heimkehr ergibt sich ein besonderes<br />
Spannungsmoment. Sofern es sich nicht um eine Heimkehr im Triumph handelt,<br />
birgt das Motiv in sich bereits genug Konfliktpotential. Auch herkömmliche<br />
Heimkehrergeschichten, die eine nachvollziehbare Begründung <strong>für</strong> die Heimkehr<br />
liefern, beinhalten Spannung. In den konkreten drei Fällen, die auf eine<br />
derartige Begründung verzichten, bewirkt dies eine Steigerung der Spannung.<br />
Der Rezipient wird durch eine unschlüssige Begründung zu Widerspruch und<br />
durch unklare Absichten zum Reflektieren über die weiteren möglichen Verlaufsformen<br />
angeregt. Am deutlichsten zeigt sich dies in „Fasching“.<br />
Doch nicht nur unklare Ausgangssituationen bedingen Spannung. In weiterer<br />
Folge tragen die Verläufe der Heimkehr zur Erhöhung dieser bei. Es sind die<br />
unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten, die einem Motiv Spannung verleihen.<br />
Je unklarer die Ausgangssituation beziehungsweise die Absichten, desto höher<br />
die Spannung. Die Verläufe der vier Werke zeigen in drei Fällen starke eskalatorische<br />
Tendenzen. Anstelle einer Annäherung an die ingroup beziehungsweise<br />
einer Verbesserung der Situation kommt es zu einer sukzessiven Verschärfung<br />
der Problematik.<br />
92
Der Leser sieht bei Fritsch eine Hauptfigur, die mit jedem Kontakt mit der Bevölkerung<br />
eine Stufe höher als zuvor angefeindet wird, und bei Zimmermann<br />
eine Figur, die sich in einem zur Festung umgebauten Haus gegen die Angriffe<br />
der Dorfbevölkerung, die zudem seinen Begleiter auf dem Gewissen hat, schützen<br />
muss. In beiden Fällen führt die Heimkehr in den Tod. Eine Steigerung in<br />
ein anderes Extrem sieht der Leser bei Roman Gilanian. Sein psychischer Verfall<br />
schreitet stetig voran, die Lösung liegt im abermaligen Verlassen der Heimat.<br />
Dieselbe Lösungsstrategie wendet Lambrecht an, der seiner Heimat ebenfalls<br />
den Rücken kehrt. Der eskalatorische Verlauf in „Der Emporkömmling“<br />
zeigt sich abgeschwächt, denn vorübergehend kann sich Lambrecht sogar über<br />
eine Verbesserung seiner Situation freuen.<br />
Heimkehr in die Anti-Heimat führt zu einer Eskalation anstelle einer Annäherung,<br />
mit den Optionen Tod oder Flucht als Endpunkte. Heimatliteratur nimmt<br />
die Spannung aus dem Konflikt zwischen Heimkehrer und ingroup, der Verlauf<br />
ist jedoch klar vorgezeichnet, der Ausgang vorhersehbar. Der typische Heimkehrer<br />
ist ein gescheitertes Individuum, das sich seinen Platz in der Heimat<br />
wieder erkämpfen muss. Dies ist nur möglich, indem die Werte der ingroup angenommen<br />
werden. Das Scheitern wird als Beweis <strong>für</strong> die Negativität der<br />
Fremde geführt. Wenn einer heimkehrt, läuft „sofort alles zusammen und verbreitet[e]<br />
die Nachricht, daß die oder der gescheitert sei.“ 290 Je fremder der<br />
Heimkehrer, desto größer die Feindseligkeit. Dies wird jedoch in der Heimatliteratur<br />
zugunsten der ingroup ausgelegt, da diese die allgemeingültigen Werte<br />
verkörpert. Ein mehr (Lambrecht) oder weniger (Gilanian) offensichtliches<br />
Scheitern (auch Golub ist gescheitert, er ist nicht in der Lage sich aus eigener<br />
Kraft eine Existenz aufzubauen) verbindet auch die Figuren der Anti-Heimat-<br />
Literatur. Im Gegensatz dazu wird jedoch nicht damit einhergehend die Fremde<br />
da<strong>für</strong> verantwortlich gemacht (wieder muss Lambrecht hier etwas anders bewertet<br />
werden, denn er schiebt die Schuld an seiner Misere dezidiert auf die<br />
Stadt, die Universität und die Wissenschaft und idyllisiert in weiterer Folge die<br />
Heimat). In der Anti-Heimat-Literatur werden die klaren Grenzen aufgeweicht.<br />
Während die ingroup negativ dargestellt wird, werden die Heimkehrer sehr ambivalent<br />
beschreiben, was eine Identifikation erschwert. Die Bewertung Felix<br />
290 Innerhofer 1994, S. 53.<br />
93
Golubs beschäftigt die Literaturwissenschaft bis in die heutige Zeit, Roman<br />
Gilanian evoziert maximal Mitleid, besondere positive Eigenschaften lassen sich<br />
nicht erkennen. Auch die Person des Dandys wirft Fragen auf. Er verhält sich<br />
arrogant und provokativ und lässt sich von einem Schwarzen, den er als Neger<br />
tituliert, bedienen. Nur in Innerhofers Erzählung lädt die Hauptfigur durchwegs<br />
zur Identifikation ein, im Gegenzug wird die ingroup jedoch ebenfalls stellenweise<br />
sehr positiv dargestellt. Neben der widersprüchlichen Charakterisierung der<br />
Heimkehrer ist deren Passivität ein weiteres verbindendes Merkmal. In keinem<br />
der vier Fälle lässt sich eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt feststellen.<br />
Felix Golub, als einer, „der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt,“ 291<br />
liefert sich willenlos den Schikanen der ingroup aus, Lambrecht resigniert frühzeitig<br />
angesichts der sich zeigenden Verhältnisse, Roman versinkt in seiner<br />
Depression, aktiv ist nur seine Kamera, und der Dandy legt von Beginn an keinen<br />
Wert auf konstruktive Interaktionen. Diese Passivität kann als Ursache der<br />
eskalatorischen Verläufe gesehen werden. Wer sich nicht wehrt, lässt den Entwicklungen<br />
freien Lauf.<br />
Die bis hierher definierten erzähltechnischen Funktionen ermöglichen es, <strong>für</strong><br />
das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur einen schematischen Verlauf<br />
festzulegen: Herkömmliche Heimkehrschemata sind nicht auf die Texte anwendbar,<br />
was den Erwartungshorizont der Rezipienten erweitert, die Heimkehr<br />
erfolgt aus nicht vollständig nachvollziehbaren Gründen, eine Behebung der<br />
Krise scheitert am Widerstand der ingroup und an der eigenen Passivität, das<br />
durch die Rückkehr ausgelöste Handlungsgefüge zeichnet sich durch eine sukzessive<br />
Eskalation der Ereignisse aus, was die schon zu Beginn manifeste Krise<br />
der Protagonisten weiter verschlimmert. Eine Lösung der Probleme kann nur<br />
durch ein abermaliges Weggehen erfolgen, ansonsten führt die Heimkehr in<br />
den Tod.<br />
Welche Grundtendenz zeigt das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur?<br />
Anlass zu Optimismus und Hoffnung auf Lösung der Probleme oder Kritik an<br />
291 Berger, in: Alker/Brandtner (Hg.) 2005, S. 74.<br />
94
eziehungsweise Abrechnung mit der Heimat? Felix Golub und Hans-Peter<br />
Lambrecht verfolgen mit ihrer Heimkehr ersteres Ziel. Felix sieht in der Übernahme<br />
von Raimunds Geschäft die Möglichkeit endlich zur Ruhe zu kommen<br />
und ein unspektakuläres Leben als Fotograf und Kleinbürger zu führen. Für<br />
Lambrecht ist klar, dass er nur über die Arbeit wieder zu sich selbst finden<br />
kann. Die Erwartungen an die Heimkehr werden nach kurzer Zeit enttäuscht.<br />
Beide Figuren beharren jedoch auf ihren Illusionen und versuchen, über die<br />
Realität hinwegzusehen. Für Felix bedeutet dies, im grausamen Spiel, das die<br />
Stadtbevölkerung mit ihm spielt, mitzumachen, Lambrecht schafft sich eine Sozialutopie<br />
der Arbeitswelt, die nicht auf realen Gegebenheiten basiert. Trotz<br />
dieser Strategien wird offensichtlich, dass durch die Heimkehr (gezwungenermaßen)<br />
eine kritische Betrachtung der Heimat erfolgt, die ursprüngliche Tendenz<br />
kehrt sich ins Gegenteil um. In den Romanen von Menasse und Zimmermann<br />
findet von Beginn an eine Abrechnung mit der Heimat statt. Roman sieht<br />
seine Vorurteile gegenüber dem Landleben bestätigt, er kann sich mit der geänderten<br />
Lebenseinstellung seiner Mutter nicht identifizieren. Die Geschehnisse<br />
in Komprechts irritieren ihn, seine Wahrnehmung stößt mehr und mehr an ihre<br />
Grenzen. Am deutlichsten zeigt sich die Tendenz bei Zimmermann. Der Ort der<br />
traumatischen Kindheit präsentiert sich unverändert, der Dandy kann nicht einen<br />
positiven Aspekt an der alten Heimat entdecken und begibt sich bereitwillig<br />
in eine provokative Angriffshaltung. Bei Fritsch und Innerhofer sind die Absichten<br />
der Protagonisten deutlicher herausgearbeitet, ebenso die Grundtendenz.<br />
Menasse und Zimmermann verweigern eine Darstellung der Ziele ihrer Figuren,<br />
die Tendenz des Motivs zeigt sich dementsprechend erst später, da<strong>für</strong> aber<br />
umso deutlicher. Somit lässt sich <strong>für</strong> alle vier Werke eine Verwendung des Motivs<br />
entsprechend der zweiten Variante nach Daemmrich/Daemmrich konstatieren,<br />
eine ursprünglich anders intendierte Darstellung erweist sich spätestens<br />
nach der Ankunft in der Heimat als unhaltbar. Dies entspricht auch dem oben<br />
dargestellten Verlauf, der ein Happy End nicht vorsieht.<br />
Abschließend sei noch auf eine letzte interessante Eigenschaft des Heimkehrmotivs<br />
in den konkreten Fällen hingewiesen. Motive als relativ ungebundene<br />
Textelemente stehen stets in Verbindung mit anderen Themen oder Motiven.<br />
95
Aus diesen Beziehungen ergeben sich Vereinfachungen oder Spannungsverstärkungen<br />
<strong>für</strong> die Rezeption. Unbestritten steht das Heimkehrmotiv in der Anti-<br />
Heimat-Literatur in Verbindung mit dem Thema der Suche nach Heimat respektive<br />
Identität. Die Identitätskrisen und die Heimatlosigkeit der Protagonisten (ersichtlich<br />
anhand deren „Irrfahrten“) sind offensichtlich. Es lässt sich daher sagen,<br />
dass auch in der Anti-Heimat-Literatur das Motiv in seiner ureigensten<br />
Verwendungsform zur Anwendung kommt.<br />
Es gäbe durchaus noch andere Möglichkeiten, die Heimkehrer könnten als<br />
starke Persönlichkeiten zurückkehren, um ihren Lebensabend geruhsam ausklingen<br />
zu lassen, oder aus familiären Gründen etc. Die Verbindung mit den<br />
Themen Identitäts- und Heimatsuche ist eine durchaus konventionelle, die im<br />
Gegensatz zu den darauf folgenden untypischen Verläufen steht. Erzähltechnisch<br />
bewirkt diese Verbindung mit den klassischen an die Heimkehr gekoppelten<br />
Themen einen, jedoch nur vordergründigen, erleichterten Zugang zum Text.<br />
Durch die Koppelung an die Themen Identität und Heimatsuche wird der Rezipient<br />
dazu verleitet, Prognosen über das weitere Verhalten der Figuren abzugeben.<br />
Diese erweisen sich jedoch im weiteren Verlauf als unhaltbar, da sich<br />
das Motiv nicht den erwarteten Verläufen entsprechend gestaltet.<br />
96<br />
10.2 Heimat – eine Utopie?<br />
In Kapitel zwei wurden verschiedene Heimatkonzepte mit soziologischem, psychologischem<br />
oder philosophischem Hintergrund angeführt. Als gemeinsame<br />
Konstante in diesen Konzepten wurde die wichtige Rolle der Kindheit definiert.<br />
Die Grundlage der späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Von größter<br />
Wichtigkeit ist dabei die Bindung an die Mutter, die Primärsozialisation. Es überrascht,<br />
wie ähnlich sich die vier Heimkehrer in Bezug auf ihre Kindheit sind. Allen<br />
gemeinsam sind traumatische Erfahrungen, denen in den Romanen ein unterschiedlich<br />
ausführlicher Exkurs gewidmet ist. Über Felix Golubs Kindheit<br />
lässt sich nicht viel sagen, die Fakten lassen jedoch Rückschlüsse auf die Problematiken<br />
seiner Kindheit zu. Felix ist ein uneheliches Kind eines „Schlawi-
ners“ 292 , die Mutter hat sich kurz nach der Geburt das Leben genommen und so<br />
wuchs er bei einer autoritären und fanatisch nationalsozialistischen Tante auf.<br />
Lambrecht hat sich Jahre vor seiner Rückkehr von seiner Familie losgesagt.<br />
Seine Unehelichkeit und die frühe Trennung von der Mutter, die ihn an den Hof<br />
seines Vaters verfrachtete, sind Fakten, die sich aus der Lektüre der Holl-<br />
Trilogie ergeben. Auf Romans schwierige Mutterbeziehung wurde bereits ausführlich<br />
eingegangen, ebenso auf die traumatische Kindheit des Dandys. Die<br />
Tatsache, dass er seine Eltern getötet hat, unterstreicht die Tragik seiner Kindheit<br />
und kann als verzweifelter Akt zur Befreiung aus den quälenden Verhältnissen<br />
gewertet werden. Offensichtlich konnten die Figuren keine Kindheit genießen,<br />
die ihnen Sicherheit <strong>für</strong> die weitere Entwicklung vermittelt hätte. Nicht vorhandene<br />
oder problematische Mutterbeziehungen können gravierende Folgen<br />
<strong>für</strong> die Kinder haben. Burger meint dazu: „Heimat ist eine Verlustanzeige. Ein<br />
Gang zu den Müttern.“ 293 Diese Aussage betont den Zusammenhang zwischen<br />
Heimat und Kindheit beziehungsweise Identität und Mutterbindung. Wer die<br />
Heimat sein Leben lang sucht, sehnt sich insgeheim nach seiner nicht vorhanden<br />
gewesenen Mutter. Auf die prägende Rolle früher Kindheitserfahrungen<br />
weist auch Peter Zimmermann hin, wenn er feststellt, „dass man in grundlegenden<br />
Dingen immer das Kind ist, [...] auch wenn sich die Lebensumstände vollkommen<br />
ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug,<br />
Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“ 294<br />
Heimat benötigt als „conditio sine qua non“ 295 ein fixes Territorium. Ein territorialer<br />
Heimatbegriff findet vor allem in der traditionellen Heimatliteratur seine Anwendung.<br />
Dort erfolgt eine strikte Differenzierung zwischen Gut und Böse aufgrund<br />
räumlicher Determinanten. Ein territorialer Heimatbegriff lässt keine Integration<br />
von Fremden zu, sondern bewirkt rassistische Verhaltensmuster. Territorialität<br />
alleine ist jedoch zuwenig <strong>für</strong> ein gelungenes Entstehen von Heimatgefühlen.<br />
Von großer Bedeutung sind die funktionierenden sozialen Beziehungen<br />
zur Umwelt. Denn erst durch diese erhält der geographische Raum die nö-<br />
292 FA, S. 189.<br />
293 Burger, Rudolf, zit. n. Hoffmann-Ostenhoff, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 169.<br />
294 Interview Peter Zimmermann, S. 116.<br />
295 Greverus 1972, S. 25.<br />
97
tigen emotionalen Bindungen. 296 Von der Kindheit deshalb nun zur Gegenwart<br />
der Heimkehrer. Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht setzen große Hoffnungen<br />
in ihre Rückkehr, wobei sie von einem primär territoriumsbezogenen Heimatkonzept<br />
ausgehen. Beide glauben, mit der Ankunft in der Stadt beziehungsweise<br />
in Dorf und Fabrik ihre Probleme gelöst zu haben. Die Wichtigkeit<br />
von sozialer Interaktion wird nicht bedacht. In weiterer Folge verschließt sich<br />
Felix der Realität und gesteht sich die Unmöglichkeit einer funktionierenden Interaktion<br />
nicht ein. Auch Lambrecht scheitert schon sehr bald am Aufbau von<br />
Beziehungen, was ihn zu einer frühen Resignation veranlasst, in der Arbeitswelt<br />
kann er sich durch Selbsttäuschung noch einige Zeit über Wasser halten.<br />
Roman und der Dandy verweigern von Beginn weg jegliche Kommunikation mit<br />
ihrem sozialen Umfeld. Ersterer spielt die Rolle des distanzierten Beobachters<br />
im Dorf beziehungsweise des mürrischen Gastes in der Interaktion mit der Mutter,<br />
letzterer verbarrikadiert sich von Anfang an in seinem festungsähnlichen<br />
Haus. Betrachtet man das Verhalten der Figuren, so kann daraus nur geschlossen<br />
werden, dass der Aufbau von Sicherheit und Geborgenheit nicht gelingen<br />
kann. Ohne Interaktion kann ein Ausbrechen aus der Außenseiterposition nicht<br />
gelingen. Die Frage, warum die Kommunikation misslingt, ob aus eigenem Versagen<br />
oder aufgrund der festgefahrenen Strukturen der ingroup, ist dabei nur<br />
zweitrangig. Tatsache ist, dass aufgrund fehlender funktionierender Beziehungen<br />
die Suche nach Heimat zu keinem Erfolg führen kann. Es besteht maximal<br />
die Möglichkeit ein Außenseiterdasein á la Raimund Wazurak zu führen. In diesem<br />
Fall wäre zwar immerhin ein Territorium vorhanden, das als Heimat gelten<br />
kann, der Preis da<strong>für</strong> besteht jedoch in einer permanenten Abhängigkeit von<br />
der Willkür der ingroup und einer lebenslangen Isolation. Die Protagonisten erfahren<br />
die alte Heimat als Enge und Zwang, Felix muss dies am Ende sogar<br />
physisch erfahren, der Dandy begibt sich freiwillig in die Einzelhaft, aus der kein<br />
Entkommen möglich ist. Somit wiederholen sich die Erfahrungen der Kindheit<br />
und Jugend, die zum Verlassen der Heimat beigetragen haben.<br />
Speziell im Fall von Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht trifft zu, was Jean<br />
Améry festgestellt hat, nämlich, dass erst der Mangel die Sehnsucht nach Heimat<br />
hervorruft. Aus der Distanz sind es vor allem Erinnerungen und Sehnsüch-<br />
296 Vgl. Bastian 1995, S. 25.<br />
98
te, die das Heimatbild gestalten. Diese Erinnerungen werden gerne geschönt<br />
und verklärt und somit erfolgt die Rückkehr mit falschen, zu optimistischen Erwartungen.<br />
Aus der Exilerfahrung heraus kann die Sehnsucht nach der Heimat dermaßen<br />
überhand nehmen, dass jegliche Vernunft ausgeschaltet wird: „Was zu hassen<br />
unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor<br />
uns und wollte ersehnt werden...“ 297 Lambrecht und Golub verkörpern eine derartige<br />
Einstellung und begeben sich vorbehaltlos in ein Milieu zurück, das ihnen<br />
in der Vergangenheit ausschließlich Schaden zugefügt hat. Auch im Falle Romans<br />
lässt sich diese Sehnsucht aus der Ferne feststellen. Trotz einer starken<br />
Abneigung gegen die Heimat muss er „Heimweh, aussichtsloses Heimweh:<br />
Entwurzelung“ 298 in sich bemerken. Durch Erinnerungen und Projektionen gespeiste<br />
Sehnsüchte nach Heimat, ausgelöst durch die Einsamkeit des Exils,<br />
können niemals ein objektives Bild der Heimat zeichnen. In diesem Sinne vertritt<br />
Améry, ebenso wie Schlink, die Ansicht, dass es sich bei dem Begriff Heimat<br />
um einen längst vergangenen Zustand handelt und insofern nur die Welt<br />
der Kindheit und Jugend als Heimat bezeichnet werden können. Heimat beinhaltet<br />
nicht nur die Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch die<br />
Träume und Wünsche des gesamten Lebens. Nur die Orte der Kindheit und Jugend<br />
„werden die Orte bleiben, in denen sich Heimatgefühl, Heimaterinnerung<br />
und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“ 299 Bezogen auf die Exilanten der<br />
Anti-Heimat-Romane bedeutet dies, dass selbst die Orte der Kindheit und<br />
Jugend als letzte Möglichkeiten zur Heimatfindung ausscheiden, da die Biographien<br />
der Figuren von negativen Kindheits- und Jugenderlebnissen geprägt waren.<br />
Selbst der verklärende Blick aus der Distanz kann die Situation nicht<br />
verbessern. Dem Dandy ist dies bewusst, er strebt nach einer mehr transzendentalen,<br />
denn realen Heimat, Roman wird die Tatsache der Heimatlosigkeit<br />
noch einmal schmerzhaft vor Augen geführt, indem er eine seelische Reise in<br />
die Kindheit unternimmt, Lambrecht und Golub träumen von der Versöhnung<br />
mit der Vergangenheit und scheitern.<br />
297<br />
Améry, in: Heidelberger-Leonhard (Hg.) 2002, S. 102.<br />
298<br />
SU, S. 43.<br />
299<br />
Schlink 2000, S. 49 – 50.<br />
99
Anti-Heimat-Literatur vermittelt die Botschaft von Heimat als einer Unmöglichkeit.<br />
Von der Geburt an scheitern die Protagonisten an der Heimat, es gelingt<br />
ihnen nicht, ihre Identität positiv zu entwickeln, die Zeit des Exils wird zur Belastung<br />
und die Rückkehr zur Desillusionierung. Für die Anti-Heimat-Literatur gibt<br />
es Heimat jedenfalls nicht auf dieser Erde. Vielleicht nach dem Tod, ansonsten<br />
wird die Suche durch die Heimkehr nur prolongiert.<br />
Nicht zufällig sieht der Leser am Ende von „Der Emporkömmling“ und „Schubumkehr“<br />
zwei Menschen, die an zwei passageren Räumen, am Bahnhof beziehungsweise<br />
Flughafen, auf die Fortsetzung ihrer Suche warten. Interessant in<br />
diesem Zusammenhang ist auch der diachrone Verlauf des Heimatbildes. Während<br />
in den beiden ältesten Werken noch Spuren eines ansatzweise vorhandenen<br />
Optimismus zu finden sind (Lambrecht gelingt sogar ein kurzfristiger Aufbau<br />
von Heimatgefühlen), zeigt sich in den beiden jüngeren Werken, und hier<br />
am Stärksten im jüngsten Roman von Zimmermann, a priori eine Negation jeglicher<br />
Möglichkeit Heimat zu finden. Heimat in der Anti-Heimat-Literatur erweist<br />
sich als utopische Vorstellung, wobei dies ausgerechnet mit Hilfe des Heimkehrmotivs<br />
dargestellt wird.<br />
100<br />
10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?<br />
Welche Funktion das Heimkehrmotiv in Bezug auf das Genre der Anti-Heimat-<br />
Literatur erfüllt, soll in diesem Abschnitt dargestellt werden. Auf den ersten Blick<br />
mag es verwunderlich erscheinen, eine Sichtweise, die sich durch einen kritischen<br />
bis negativen Zugang zur Heimat definiert, mit Hilfe von Heimkehrerfiguren<br />
zu verstärken.<br />
Es handelt sich bei den diskutierten Werken keineswegs um Heimkehrergeschichten,<br />
zwar stehen die Heimkehrerschicksale (mit Ausnahme Romans) im<br />
Mittelpunkt der Romanhandlungen, sie dienen aber vor allem auch dazu, den<br />
Blick auf die Heimat zu öffnen. Das primäre Ziel der Anti-Heimat-Literatur ist die<br />
Destruktion von beschönigenden Heimatbildern, wie sie in anderen Genres, vor<br />
allem im Heimatroman vermittelt werden.
Die Thematisierung von unangenehmen Fakten und Vorgängen in der Heimat<br />
soll im Rezipienten die Fähigkeit zu einer kritischen Reflexion seiner Lebenswelt<br />
bewirken und Betrachtungen aus anderen Blickwinkeln hervorrufen, „striving<br />
for Sein [...] and not Schein [...], for naturalness and not façade“ 300 . Bedenkt<br />
man dies, so zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv im Genre durchaus seine<br />
Berechtigung hat und geeignet ist, diese Absichten zu realisieren. Denn erst<br />
durch die Heimkehrer beziehungsweise durch die Darstellung der Heimat aus<br />
deren Perspektive zeigen sich die Schattenseiten der Realität. Das Scheitern<br />
der Heimkehrer dient exemplarisch der Darstellung der Anti-Heimat. In der Gegenüberstellung<br />
von ingroup und outgroup zeigen sich die Abgründe eines engstirnigen,<br />
provinziellen und stellenweise faschistischen Systems. Das Heimkehrmotiv<br />
ist das Mittel zum Zweck der Darstellung der ingroup. Diese präsentiert<br />
sich in allen Werken in ähnlicher Form. Unbestritten sind die faschistischen<br />
Tendenzen der ingroup in „Fasching“ und auch in „Das tote Haus“. Dem Deserteur<br />
Felix hilft es nichts, die Stadtbevölkerung vor dem Tod bewahrt zu haben,<br />
er ist und bleibt ein Verräter, die Strategie seiner „ehrlichen Anbiederung“ 301 ist<br />
zum Scheitern verurteilt. Auch der Dandy, als sowohl durch sein Äußeres als<br />
auch durch sein Verhalten abweichende Figur, hat keinen Platz in der Gemeinschaft.<br />
Zudem baut er sein Haus nicht den über die Jahre unveränderten einheitlichen<br />
Normen entsprechend und provoziert damit die Masse. In Menasses<br />
Komprechts verdichtet sich die österreichische Realität zu einem Mikrokosmos<br />
aus politischen, touristischen und rassistischen Versatzstücken. Auch Lambrecht<br />
sieht eine Heimat, die sich auf Kosten der eigenen Identität an die Touristen<br />
verkauft hat, alte Gesinnungen sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen<br />
verankert, Zuflucht vor dieser Misere bietet nur die Flucht in den Alkohol.<br />
Das Heimkehrmotiv bewirkt, dass die Kulissen der Heimat gewendet werden,<br />
das Scheitern der Heimkehrer zeigt nicht deren eigenes Versagen, sondern<br />
lässt sich deutlich an den ungünstigen Verhältnissen festmachen. Die vier Werke<br />
thematisieren die gesamte Palette der populärsten Anti-Heimat-Themen.<br />
Von der hartnäckig fortbestehenden nationalsozialistischen Attitüde in „Fasching“<br />
ist es nur ein kleiner Weg zu den rassistisch motivierten Morden in<br />
300<br />
Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162.<br />
301<br />
FA, S. 221.<br />
101
„Schubumkehr“ und “Das tote Haus“. Der Ausverkauf an den Tourismus auf<br />
Kosten der Natur und der eigenen Lebensqualität wird ebenso dargestellt, wie<br />
der bis in den Familienkreis hineinreichende Alltagsfaschismus der Bevölkerung.<br />
Die Heimat präsentiert sich den Heimkehrern durchwegs als „´Schreckbild`<br />
Land“ 302 , als „unheimliche Gegend“ 303 oder als „Haus voller monströser Schrecken“<br />
304 . Obwohl durch bis zu vier Jahrzehnte voneinander getrennt, sind die<br />
Gemeinsamkeiten der Werke offensichtlich.<br />
Wenn Koppensteiner behauptet, dass Anti-Heimatliteratur sich nicht gegen<br />
Heimat richtet, sondern nur einen anderen Heimatbegriff voraussetzt, so genügt<br />
diese Definition in den konkreten Fällen nicht. „Fasching“, „Der Emporkömmling“,<br />
„Schubumkehr“ und „Das tote Haus“ richten sich sehr wohl gegen die<br />
Heimat, sie zeigen allesamt mehr oder weniger drastisch die Unmöglichkeit einer<br />
Bindung an und Integration in die hinter den Kulissen herrschenden Verhältnisse.<br />
In ihren Aussagen bestätigen die Werke Menasses These von Österreich<br />
als Anti-Heimat par excellence.<br />
102<br />
10.4 Ausblick<br />
In diesem Schlusskapitel wurden noch einmal die Besonderheiten des Heimkehrmotivs<br />
zusammengefasst. Die Motiven eigene Besonderheit als sowohl<br />
strukturelle, als auch inhaltliche Einheiten machte es notwendig beide Ebenen<br />
zu analysieren. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Motiv auf beiden<br />
Ebenen wichtige Funktionen einnimmt. Auf der ersten Ebene ist es handlungsund<br />
spannungsauslösend und fungiert als Schnittstelle zwischen den Zeitebenen.<br />
Im Kontext der Anti-Heimat-Literatur wird das Motiv um neue Verlaufsformen<br />
erweitert, auch die Figuren selbst erhalten neue Eigenschaften, die dem<br />
geläufigen Typus des Heimkehrers nicht entsprechen. Dadurch erweitert sich<br />
der Motivhorizont der Rezipienten um neue Varianten und Schemata. Auf inhaltlicher<br />
Ebene konnte gezeigt werden, dass das Motiv zum einen <strong>für</strong> den<br />
302<br />
Heydemann, in: Aspetsberger (Hg.) 1980, S. 94.<br />
303<br />
Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132.<br />
304<br />
A. a. O., S. 134.
Handlungsverlauf von Bedeutung ist, da die Heimkehrer eine wichtige Position<br />
im Handlungsgeschehen einnehmen. Aber auch die über die Handlung hinausgehenden<br />
Grundaussagen werden zu einem wesentlichen Teil vom Heimkehrmotiv<br />
geprägt. Durch das Motiv erst können die Grundaussagen des Genres<br />
entwickelt und herausgearbeitet werden. Das Heimkehrmotiv ist wesentlich<br />
daran beteiligt, dass sich die ausgewählten Werke erst als Anti-Heimat-Literatur<br />
definieren können.<br />
Die Anti-Heimat-Literatur hat ihre beste Zeit hinter sich. Zu Unrecht wurde ihr<br />
vorgeworfen, genauso wie die Heimatliteratur mit Klischees zu operieren und<br />
„dem alten Kitsch der Verklärung nur mit dem schwarzen Kitsch der Denunziation“<br />
305 begegnen zu können. Zweifelsohne bedient sich die Anti-Heimat-<br />
Literatur bisweilen der Satire oder der Übertreibung, um ihre Grundaussagen zu<br />
verstärken. Dies ist jedoch angesichts der kritisierten Strukturen ein legitimes<br />
Mittel. Die wichtigsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur sind tot (Innerhofer),<br />
verstummt (Wolfgruber), oder haben sich anderen Themen zugewandt (Handke).<br />
Selbstverständlich muss sich auch das Genre der Anti-Heimat-Literatur den<br />
Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollziehen, stellen. Es benötigt neue<br />
Themen, neue Probleme und Fragestellungen, die aufgegriffen und thematisiert<br />
werden. Dann ergibt sich vielleicht der Eintritt in eine vierte Phase in Anschluss<br />
an Menasses Dreiteilung. Obwohl im Moment nur wenig Neues auf dem Sektor<br />
der Anti-Heimat-Literatur zu beobachten ist, soll doch auf zwei Neuerscheinungen<br />
hingewiesen werden, die, neben Zimmermanns Roman, womöglich einen<br />
Weg zur Fortsetzung der Tradition aufzeigen. Josef Winklers neues Werk<br />
„Roppongi. Requiem <strong>für</strong> einen Vater“ (2007) etwa verbindet Elemente der Anti-<br />
Heimat-Literatur mit Erzählungen aus Indien, wechselt zwischen globalen und<br />
regionalen Perspektiven. O.P. Ziers neuer Roman „Tote Saison“ („2007“), eine<br />
Mischung aus Kriminalroman und Satire, erweist als scharfe Abrechnung mit<br />
der Salzburger Tourismus- und Politwelt.<br />
An Themen sollte es nicht unbedingt mangeln in Österreich, auch deshalb wäre<br />
es wünschenswert, würde Anti-Heimat-Literatur wieder in verstärktem Ausmaß<br />
produziert und auch rezipiert werden.<br />
305 Gauß, in: Die Zeit 4.10.1996, S. 12.<br />
103
104<br />
11 Bibliographie<br />
11.1 Primärliteratur<br />
Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995.<br />
Innerhofer, Franz:<br />
- Der Emporkömmling. Salzburg: Residenz 1982.<br />
- Die großen Wörter. München: dtv 1994.<br />
Menasse, Robert: Schubumkehr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997.<br />
Zimmermann, Peter: Das tote Haus. Berlin: Kato 2006.<br />
11.2 Sekundärliteratur<br />
Alker, Stefan: Das Andere nicht zu kurz kommen lassen. Werk und Wirken von<br />
Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007.<br />
Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Heidelberger-Leonard,<br />
Irene (Hg.): Jean Améry. Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Scheit.<br />
Stuttgart: Klett-Cotta 2002. S. 86 – 117.<br />
Aspetsberger, Friedbert:<br />
- Schnitzler – Bernhard – Menasse. Der Umstandsmeier – Der Angeber – Der<br />
Entgeisterer. Wien: Sonderzahl 2003.<br />
- Unmaßgebliche Anmerkungen zur Einschränkung des literaturwissenschaftlichen<br />
„Heimat“-Begriffs. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die
Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest:<br />
ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S. 53 – 85.<br />
Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung<br />
in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Max<br />
Niemeyer 1995.<br />
Baumann, Ingo: Über Tendenzen antifaschistischer Literatur in Österreich. Analysen<br />
zur Kulturzeitschrift „Plan“ und zu Romanen von Ilse Aichinger, Hermann<br />
Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko und Hans Weigel. Wien:<br />
phil. Diss. 1982.<br />
Beller, Manfred: Stoff, Motiv, Thema. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörg (Hg.):<br />
Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2004. S. 30 – 39.<br />
Berger, Albert: Überschmäh und Lost in Hypertext. Eine vergleichende Re-<br />
Lektüre von Gerhard Fritschs Romanen „Moos auf den Steinen“ und „Fasching“.<br />
In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller<br />
in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005. S. 57 – 77.<br />
Bienek, Horst: Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch? In:<br />
Ders. (Hg.): Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München: Hanser<br />
1985. S. 7 – 8.<br />
Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik.<br />
Mit einer Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt/Main:<br />
Peter Lang 2002.<br />
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Band 5. Kapitel 43 – 55.<br />
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985.<br />
Charbon, Remy: Heimatliteratur. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen<br />
Literaturwissenschaft. Band 2. Berlin: de Gruyter 2000. S. 19 – 21.<br />
105
Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid: Themen und Motive in der Literatur.<br />
Ein Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke<br />
1995.<br />
Donnenberg, Josef: Heimatliteratur in Österreich nach 1945 – rehabilitiert oder<br />
antiquiert? In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />
Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang<br />
1989. S. 39 – 68.<br />
Drux, Rudolf: Motiv. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />
Band 3. Berlin: de Gruyter 2000. S. 638 – 641.<br />
Fetscher, Iring: Heimatliebe – Brauch und Missbrauch eines Begriffes. In: Görner,<br />
Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und<br />
20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992. S. 15 – 35.<br />
Frank, Peter R.: Heimatromane von unten – einige Gedanken zum Werk Franz<br />
Innerhofers. In: Modern Austrian Literature 13/1 (1980). S. 163 – 175.<br />
Frisch, Max: Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises.<br />
In: Ders.: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben<br />
und mit einem Nachwort versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp 1990. S. 365 – 373.<br />
Garscha, Beatrix: Obdachlose Helden: Defizite der österreichischen Identität.<br />
Faschismus im österreichischen Roman nach 1945. Wien: phil. Diss. 1997.<br />
Gauß, Karl-Markus: Der Rand in der Mitte: Die Chronik einer Heimat. In: Die<br />
Zeit (Sonderbeilage Literatur) 4.10.1996. S. 12.<br />
Gerk, Andrea: Eine Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses<br />
„Trilogie der Entgeisterung“. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich.<br />
Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhr-<br />
kamp 1997. S. 37 – 49.<br />
106
Görner, Rüdiger: Einführendes. Oder: Verständigung über Heimat. In: Ders.<br />
(Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert.<br />
München: Iudicium 1992. S. 11 – 14.<br />
Greiner, Ulrich: Ein Alleingang, der Größe hat: „Schöne Tage“, „Schattseite“<br />
und „Die großen Wörter“. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits,<br />
Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979.<br />
S. 108 – 121.<br />
Greverus, Ina-Maria:<br />
- Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979.<br />
- Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen.<br />
Frankfurt/Main: Athenäum 1972.<br />
Grimm Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 10. München: dtv<br />
1984.<br />
Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976.<br />
Heydemann, Klaus: Jugend auf dem Lande. Zur Tradition des Heimatromans in<br />
Österreich. In: Aspetsberger, Friedrich (Hg.): Traditionen in der neueren österreichischen<br />
Literatur. Zehn Vorträge. Wien: Österreichischer Bundesverlag<br />
1980. S. 83 – 97.<br />
Hoffmann-Ostenhoff, Georg: Heimkehr und Zerfall. In: Bartsch, Kurt<br />
(Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004. S. 166 – 169.<br />
Holler, Verena: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur „Trilogie<br />
der Entgeisterung“. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl<br />
2004. S. 27 – 58.<br />
107
Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft.<br />
In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München:<br />
Wilhelm Fink 1975. S. 126 – 162.<br />
Kiss, Endre: Der grosse Konflikt in der Modernisation. Die Quelle der neuen<br />
Probleme der Heimat. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde<br />
die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest:<br />
ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S. 31 – 51.<br />
Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet<br />
von Elmar Seebold. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002.<br />
Koppensteiner, Jürgen:<br />
- Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman<br />
„Schöne Tage“. In: Die Unterrichtspraxis 14 (1981). S. 9 – 19.<br />
- Anti-Heimatliteratur in Österreich. Zur literarischen Heimatwelle der siebziger<br />
Jahre. In: Modern Austrian Literature 15/2 (1982). S. 1 – 11.<br />
Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines<br />
Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991.<br />
Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wissen. Die Roman Gilanian-Trilogie.<br />
In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses<br />
„Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. S. 264 – 284.<br />
Louis, Raffaele: Das ausgesetzte Urteil. Eine poetologische Lektüre von Gerhard<br />
Fritschs Roman „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.):<br />
Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005. S. 111 –<br />
131.<br />
Lüdke, Martin W.: Franz Innerhofer. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen<br />
Gegenwartsliteratur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München:<br />
Edition Text und Kritik 1987ff. 45. Nachlieferung 1993. S. 1 – 9.<br />
108
Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes.<br />
München: Iudicium 1986.<br />
Menasse, Robert:<br />
- Auf diesem Fasching tanzen wir noch immer. In: Fritsch, Gerhard: Fasching.<br />
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. S. 241 – 249.<br />
- Das Land ohne Eigenschaften. Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ihrem<br />
Verschwinden. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land<br />
ohne Eigenschaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.:<br />
Suhrkamp 2005. S. 29 – 120.<br />
- Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von Gerhard<br />
Fritsch. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land<br />
ohne Eigenschaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp 2005. S. 209 – 224.<br />
- Wir machen die Musik. In: Fritsch, Gerhard: Katzenmusik. Frankfurt/Main:<br />
Suhrkamp 2006. S. 109 – 126.<br />
Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren.<br />
Geschichte(n) in „Schubumkehr“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal<br />
wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007. S. 213 –<br />
225.<br />
Müller, Carola: Der Heimatbegriff. Versuch einer Anthologie. In: Polheim, Karl<br />
Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />
Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989. S. 207 – 256.<br />
Olson, Michael P.: Robert Menasse`s Concept of Anti-Heimat Literature. In:<br />
Daviau, Donald G. (Hg.): Austria in Literature. Riverside: Ariadne Press 2000.<br />
S. 153 – 165.<br />
109
Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposium<br />
der Internationalen Erich Fried Gesellschaft <strong>für</strong> Literatur und Sprache in<br />
Wien zum Thema „Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt<br />
er.“ Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt<br />
1996.<br />
Polheim, Karl Konrad: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />
Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter<br />
Lang 1989. S. 15 – 21.<br />
Prahl, Eckhart: Das Konzept „Heimat“. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen<br />
der 70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke Martin<br />
Walsers. Frankfurt/Main: Peter Lang 1993.<br />
Rossbacher, Karlheinz:<br />
- Die Literatur der Heimatkunstbewegung um 1900. In: Plener, Peter/Zalan,<br />
Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi<br />
der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S.<br />
109 – 120.<br />
- Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der<br />
Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett 1975.<br />
Schimpl, Karl: Weiterführung und Problematisierung. Untersuchungen zur<br />
künstlerischen Entwicklung von Gerhard Fritsch. Stuttgart: Heinz 1982.<br />
Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.<br />
Schmidt-Dengler, Wendelin:<br />
- Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der neueren österreichischen<br />
Prosa. In: Literatur und Kritik 40 (1969). S. 577 – 585.<br />
110
- „Modo Austriaco“ – Gerhard Fritsch und die Literatur in Österreich. In: Alker,<br />
Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich.<br />
Wien: Sonderzahl 2005. S. 25 – 33.<br />
Schönhaar, Rainer: Leitmotiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle Irmgard (Hg.):<br />
Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche<br />
Verlagsbuchhandlung 1990. S. 264.<br />
Schrott, Regine: Auf der Suche nach Heimat. Die Funktion der Schauplätze bei<br />
Franz Innerhofer. Wien: phil. Dipl. 1995.<br />
Schwarz, Waltraut: Franz Innerhofer – Das Ende einer Anklage. In: Zeman,<br />
Herbert (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende<br />
bis zur Gegenwart (1880 – 1980). Teil 2. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt<br />
1989. S. 1167 – 1183.<br />
Sebald, W. G.:<br />
- Damals vor Graz – Randbemerkungen zum Thema Literatur & Heimat. In:<br />
Görner, Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im<br />
19. und 20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992. S. 131 – 139.<br />
- Einleitung. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur.<br />
Salzburg: Residenz 1991. S. 11 – 16.<br />
Solms, Wilhelm: Zum Wandel der „Anti-Heimatliteratur“. In: Polheim, Karl Konrad<br />
(Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />
Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989. S. 173 – 189.<br />
Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur<br />
und Nation. München: Iudicium 1999.<br />
Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüche oder<br />
komplementäre Motivkonstellationen menschlichen Handelns? In: Geographie<br />
heute 100 (1992). S. 30 - 44.<br />
111
Weidhase, Helmut: Motiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hg.):<br />
Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche<br />
Verlagsbuchhandlung 1990. S. 312.<br />
Weiss, Walter: Zwischenbilanz. In: Schmid, Sigrid/Weiss, Walter (Hg.): Zwischenbilanz.<br />
Eine Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Salzburg:<br />
Residenz 1976. S. 11 – 32.<br />
Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 1989.<br />
Wolfschütz, Hans: Von der Verklärung zur Aufklärung. Zur Entwicklung Gerhard<br />
Fritschs. In: Literatur und Kritik 12 (1977). S. 10 – 19.<br />
Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke – Einschnitte –<br />
Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001.<br />
Ziegler, Wanda: Heimat in der Krise. Der Versuch einer interdisziplinären Annäherung<br />
an den "Heimat"-Begriff mit dem Schwerpunkt: "Salzburger Heimatliteratur".<br />
Salzburg: phil. Dipl. 1995.<br />
Zier, O. P.: Region und Heimat, Widerstand und Widerstände. Literatur der „Europa-Sport-Region“.<br />
In: Literatur und Kritik 307/308 (1996). S. 37 – 43.<br />
112<br />
11.2.1 Rezensionen<br />
Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer<br />
Wenderoman „Schubumkehr“. In: Neue Zürcher Zeitung 24.2.1995. S. 36.<br />
Fetzer, Günther: Die Herrschaft über die Sprache verloren. In: Mannheimer<br />
Morgen 26.11.1982. O. S.<br />
Freund, Jutta: Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. In: Wespennest 53<br />
(1983). S. 43 – 44.
Gollner, Helmut: Österreich-Molekül. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995). S.<br />
98 – 99.<br />
Görtz, Franz Josef: Odyssee oder Holzweg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
5.10.1982. S. 26.<br />
Heyl, Tobias: Camcorder und Tiefsinn. In: Der Falter (Beilage) 31.3.1995. S. 16.<br />
Janetschek, Albert: Franz Innerhofer. Der Emporkömmling. In: Literatur und Kritik<br />
181/182 (1984). S. 81 – 82.<br />
Liessmann, Konrad Paul: Da muss es ja alles zerlegen. In: Der Standard (Beilage)<br />
24.5.1995. S. 5.<br />
Matt, Beatrice von: Rückkehr zu den Arbeitern. Franz Innerhofers neuer Roman.<br />
In: Neue Zürcher Zeitung 8.12.1982. S. 39.<br />
Pfabigan, Alfred: Flucht im Zwischendeck. „Das tote Haus“: Peter Zimmermanns<br />
Variante des Anti-Heimat-Romans. In: Wiener Zeitung (Beilage)<br />
10.6.2006. S. 11.<br />
Schobel, Eva: Stille, Qual und Phantomschmerz. Peter Zimmermanns schnörkellose,<br />
grausame Antiidylle „Das tote Haus“ lässt keine Fluchtbewegung zu. In:<br />
Der Standard (Album) 30.6.2007. S. A 6.<br />
Schwens-Harrant, Brigitte: Die Träume auf den Müll geworfen. Peter Zimmermanns<br />
recht düsterer Antiheimatroman. In: Die Presse (Spectrum) 17.6.2007.<br />
S. VII.<br />
Skasa, Michael: Nachrichten von Stirn und Faust. Franz Innerhofers Rückkehr<br />
zu den Arbeitern. In: Süddeutsche Zeitung 285 (1982). O. S.<br />
Strigl, Daniela: Beton im Bayou. In: Der Falter 15.6.2007. S. 56.<br />
113
Thuswaldner, Werner: Leben Arbeiter das wahre Leben? Franz Innerhofers Erzählung<br />
„Der Emporkömmling“ erschienen im Residenz Verlag, Salzburg. In:<br />
Salzburger Nachrichten 11.12.1982. S. 27.<br />
114<br />
11.2.2 Internet<br />
Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen<br />
eines Phantasmas der 80er. In: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/.<br />
31.7.2007.<br />
Zier, O.P.: Im Kampf mit dem Wort um das Wort. Frank Tichys Innerhofer-<br />
Biografie. In: http://www.biblio.at/rezensionen/details.php 3?mednr%5B0%5D=<br />
luk2004606&anzahl=1. 31.7.2007.
Anhang<br />
Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007<br />
o Sehen sie sich mit dem Roman „Das tote Haus“ in der Tradition der so genannten<br />
„Anti-Heimat-Literatur?<br />
Nein, das war nicht mein Anspruch. Anti-Heimat-Literatur ist ein einigermaßen<br />
umgrenzter Begriff, der einen bestimmten Umgang von österreichischen Autoren<br />
mit ihrer Herkunft meint. In den siebziger Jahren war diese Art der Literatur<br />
die Antwort der in der Nachkriegszeit geborenen oder aufgewachsenen Generation<br />
auf den geschichtsverfälschenden Heimatkitsch der fünfziger und sechziger<br />
Jahre. Es war eine realistische und mitunter überrealistische Literatur, die<br />
das zum Thema machte, was die Kunst größtenteils aussparte: autoritäre Gesellschaftsstrukturen,<br />
den Katholizismus, die fehlende Anbindung ländlicher<br />
Regionen an ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein, die mangelnde Bildung,<br />
die Sprachlosigkeit.<br />
Mir scheint die Anti-Heimat-Literatur als Genre längst Teil der Literaturgeschichte<br />
geworden zu sein. Aber wenn ich mich mit dem Begriff Heimat auseinandersetze<br />
und an mein Kärnten in den sechziger Jahren denke, dann komme ich<br />
nicht umhin über ein Land und eine Zeit zu schreiben, die mir heute befremdlich<br />
und abweisend anmuten. Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, dann<br />
kommt mir vieles von dem, das mir damals normal schien, sehr roh vor. Man<br />
lebte viel abgeschlossener als heute.<br />
o In einem Interview bezeichnen Sie den Roman als autobiographisch und die<br />
Geschehnisse als verdichtetes Panorama selbst erlebter Erfahrungen. War<br />
es ihnen wichtig, auch Kritik an der ländlichen Realität, beziehungsweise an<br />
Österreich allgemein, zu üben?<br />
115
Kritik an Österreich wollte ich nicht üben. Und die ländliche Realität ist, wie sie<br />
ist. Nicht, dass sie nicht verändert werden könnte, aber, ehrlich gesagt, halte ich<br />
die städtische Bevölkerung auch nicht <strong>für</strong> aufgeschlossener. Der Roman ist in<br />
der Tat stark autobiografisch, auch wenn meine Morde immer nur in der Phantasie<br />
stattgefunden haben. Aber wenn man darüber nachdenkt, warum man als<br />
erwachsener Mensch so und so funktioniert, dann wird man merken (bei mir<br />
war das jedenfalls so), dass man in grundlegenden Dingen immer das Kind ist,<br />
das bestimmte Emotionen im Zusammenhang mit ersten Erfahrungen macht.<br />
Diese Prägungen schleppt man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich<br />
die Lebensumstände vollkommen ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit,<br />
Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.<br />
Man merkt das, wenn man einer Situation ausgesetzt ist, die man unbewusst<br />
vergleicht mit einer Kindheitssituation. Manchmal ist es auch nur ein diffuses<br />
Deja-Vu, die plötzliche Ahnung, Vergleichbares schon erlebt zu haben.<br />
Insofern über ich keine Kritik an der Umwelt, in der ich aufgewachsen bin, denn<br />
diese bestand ja ihrerseits aus Menschen, die rund um den Ersten Weltkrieg<br />
und in der wenig erbaulichen Zeit der Ersten Republik und des Ständestaats<br />
Kinder gewesen sind. Ich meine nur, dass schlechte Erfahrungen durch Generationen<br />
durchgereicht werden, während die guten Erfahrungen punktuelle Ereignisse<br />
bleiben.<br />
o Welche Absicht steckt hinter der politisch unkorrekten Bezeichnung „Neger“<br />
<strong>für</strong> den Begleiter des Protagonisten?<br />
Die Absicht war, einen Menschen zu beschreiben, der keinen Namen hat, den<br />
er auszusprechen imstande ist. Der sprachlose Südstaaten - „Nigger“ bleibt <strong>für</strong><br />
den Erzähler ohne Namen und auf seine Zuschreibung beschränkt. Auch wenn<br />
die beiden menschlich einiges verbindet, ist das Spiel mit der rassistischen Zuschreibung<br />
zur Gewohnheit geworden. In der Heimat des Erzählers spiegelt<br />
sich dann der Süden der USA. Die Abneigung gegen den Fremden wird zum<br />
Ausdruck gebracht. Zuerst ist da nur verbale Gewalt, dann aber, als die Unterwerfungsgesten<br />
ausbleiben, wird sie konkret. Neger ist ja nach wie vor eine<br />
gängige Bezeichnung <strong>für</strong> dunkelhäutige Menschen in unserem Land.<br />
116
o Welches sind die Hauptthemen des Romans?<br />
Die Kraft der Erinnerung, das Versagen der Liebe und der Einbruch des Fremden<br />
ins Vertraute. Und natürlich Gewalt. Die tägliche Gewalt und die Zuspitzung<br />
im Mord.<br />
o Welche Funktion hat das Motiv der Heimkehr <strong>für</strong> den Text? Welchen Einfluss<br />
hat es auf den Handlungsverlauf, auf die Textstruktur, zu welchen anderen<br />
Themen/Motiven steht es in Beziehung?<br />
Die Heimkehr ist, wie wir wissen, ein altes Motiv, anhand dessen sich zeigen<br />
lässt, dass in der Zeit der Abwesenheit, bei jenen, die man verlassen hat, entweder<br />
sehr viel oder gar nichts geschehen ist. In meinem Fall ist die Heimat als<br />
Kulisse im Bewusstsein des Erzählers fast verschwunden, als Gefühl war sie<br />
immer präsent. Bei der Rückkehr scheint vieles anders geworden zu sein, doch<br />
es stellt sich rasch heraus, dass die Menschen älter, kränker oder etwas wohlhabender<br />
geworden sind, sich mental aber nicht aus der Bunkermentalität des<br />
Wir-sind-Wir herausgewunden haben. Ohne die Odyssee bemühen zu wollen,<br />
aber auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu einem Gefühl der Geborgenheit,<br />
sondern unmittelbar in den Krieg. Der Heimkehrer stemmt sich – unter anderem<br />
durch den Umbau des Hauses, das alle gewohnten Maße sprengen soll – gegen<br />
die Unterwerfungsgelüste der Bevölkerung, was den offenen Konflikt zur<br />
Folge hat.<br />
Damit wird die Heimkehr zu einem Endspiel. Es gibt das Jetzt und das Damals.<br />
Eine Zukunft ist undenkbar. Der Erzähler zieht sich zurück in das Innere des<br />
Labyrinths – d.h. in den Keller, ins verbotene Zimmer, in den Mutterleib. Er<br />
wählt das Lebendig-Begraben-Werden an der Stelle, an der schon seine Familie<br />
aus dem Leben geschieden ist.<br />
o Es gibt mehrere Bilder/Motive, die sich wiederholt im Text wieder finden, etwa<br />
der Großvater mit den Porzellanpierrots, Verse von Lenau oder das Bild<br />
der Akrobatenfamilie. Gibt es so etwas wie ein Leitmotiv im Roman?<br />
117
Es gibt eigentlich nur ein durchgängiges Motiv, und das ist die Sehnsucht nach<br />
der Sekunde der absoluten Stille. Diese hat der Erzähler nach dem Mord an<br />
den Eltern erlebt und die will er immer wieder heraufbeschwören, ohne dass es<br />
ihm möglich ist. Lenau ist wohl auch präsent, aber eher als Reminiszenz an eine<br />
romantische Vorstellung vom Leben, die der Erzähler in seiner Jugend hatte<br />
und die er nie ganz missen will. Dazu ist Lenau in Amerika ähnlich gescheitert<br />
wie der Erzähler. Bei einer stümperhaften Bergbesteigung wollte er sich das<br />
Leben nehmen, was ihm nicht gelungen ist. Der Erzähler tut es ihm nach (in<br />
Ohio), ebenfalls ohne seinem Leben dadurch eine dramatische Wendung geben<br />
zu können.<br />
o Zum Protagonisten:<br />
- Einerseits Dandy, andererseits ein Vergleich mit H.D. Thoreau, lebt in<br />
Manhattan und dann in der Einsamkeit der Sümpfe. Wie charakterisieren<br />
Sie diese widersprüchliche Figur?<br />
Er ist jemand, der vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das<br />
nicht klappt. Das Dandyhafte ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu<br />
verpassen. Aber wenn man zugleich den frühen Teil seiner Biografie abschneiden<br />
möchte, kommt eben nichts Rechtes zustande. Er will wohl das Kunststück<br />
zuwege bringen, sich selbst im Lauf der Jahre zu erfinden. Er ist der berühmte<br />
Mann ohne Vergangenheit, der bloß das Pech hat, nicht das Gedächtnis verloren<br />
zu haben.<br />
- Was bewegt ihn, heimzukehren an den Ort einer traumatisierenden<br />
Kindheit, beziehungsweise zu bleiben, angesichts der Ablehnung, die<br />
ihm von allen Seiten entgegenschlägt?<br />
Zur Heimkehr entschließt er sich wohl deshalb, weil er in all den Jahren in den<br />
USA weder ein Amerikaner geworden ist, noch „in der Ferne“ sich von dem jungen<br />
Mann entfernt hat, der er bei seiner Flucht aus Europa gewesen ist. Er hat<br />
nichts zuwege gebracht, hat hauptsächlich vom Geld anderer gelebt und immer<br />
nur den Moment der Stille gesucht, diesen einmaligen, scheinbar unwiederhol-<br />
baren Moment, den er im Haus der Kindheit erlebt hat.<br />
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Die Heimkehr ist der Versuch, diese Stille am Ort des Verbrechens möglicherweise<br />
noch einmal „zu hören“.<br />
o Kann die Heimkehr als gescheitert betrachtet werden, woran ist sie gescheitert?<br />
Der Erzähler hat die Stille, die er gesucht hat, wieder gefunden, diese<br />
scheint aber zur Qual zu werden? Wie lässt sich das Romanende deuten?<br />
Das lässt sich wohl so deuten, dass, wenn man etwas gefunden hat, dem man<br />
ein halbes Leben lang fieberhaft nachläuft, man auch sein eigenes Ende gefunden<br />
hat. Also: man sucht entweder ewig und wird dabei alt, ohne glücklich zu<br />
werden. Oder man kann etwas scheinbar Unwiederholbares noch einmal erleben.<br />
Der Preis da<strong>für</strong> ist jedoch das Ende der eigenen Existenz. Der Erzähler<br />
verharrt im Innenraum der Stille wie in einem Grabmal. Die Welt wird ihn nicht<br />
mehr sehen. Und der Ort am Fuße des Abhangs, auf dem das Haus steht, wird<br />
auch weiterhin der Ort mit seinen beschädigten Menschen sein, die sich seltsame<br />
Geschichten über seltsame Rückkehrer/Eindringlinge erzählen.<br />
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120<br />
Abstract<br />
Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Verwendungs- und Erscheinungsformen<br />
des Heimkehrmotivs in der österreichischen Anti-Heimat-Literatur. Sie besteht<br />
aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Im theoretischen Teil werden<br />
zu Beginn verschiedene Heimatkonzepte dargestellt und zueinander in<br />
Verbindung gesetzt. Dabei zeigt sich, dass es einige Konstanten gibt, welche<br />
<strong>für</strong> die Entstehung von Heimatgefühl und damit auch <strong>für</strong> die Herausbildung von<br />
Identität und Selbstsicherheit verantwortlich sind. Als unabdingbare Voraussetzungen<br />
sind dabei vor allem eine gelungene Primärsozialisation und funktionierende<br />
soziale Beziehungen zu nennen. Anschließend daran folgt ein Kapitel<br />
zum Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur. Es wird gezeigt, dass Heimat<br />
in der Literatur ab dem Entstehen der Heimatkunstbewegung ideologisch aufgeladen<br />
und missbraucht wird. Aus dieser Entwicklung heraus ist die Entstehung<br />
der Anti-Heimat-Literatur zu betrachten, die sich als Gegenpol zur traditionellen<br />
Heimatliteratur verstand. Das entsprechende Kapitel dazu zeichnet den Weg<br />
des Genres von den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart,<br />
definiert die Merkmale und versucht anhand eines aktuellen Konzeptes,<br />
die Stellung der Anti-Heimat-Literatur in der österreichischen Gegenwartsliteratur<br />
zu definieren.<br />
Im Anschluss daran wird auf die Funktion von Motiven allgemein und des<br />
Heimkehrmotivs im Besonderen Bezug genommen. Dabei zeigt sich, dass das<br />
Heimkehrmotiv, als sowohl inhaltliches, wie auch strukturelles Element in der Literaturgeschichte<br />
in verschiedenen Ausprägungen vorhandenen ist, seine Verwendung<br />
in der Anti-Heimat-Literatur jedoch eher selten zu beobachten ist.<br />
Im analytischen Teil wird die Verwendung des Heimkehrmotivs in vier ausgewählten<br />
Werken untersucht. („Fasching“ von Gerhard Fritsch, „Der Emporkömmling“<br />
von Franz Innerhofer, „Schubumkehr“ von Robert Menasse und „Das<br />
tote Haus“ von Peter Zimmermann). Dabei wird sowohl auf die erzähltechnische,<br />
als auch die inhaltliche Ebene Bezug genommen. Der zeitliche Rahmen<br />
der Werke spannt sich über vier Jahrzehnte und zeigt dadurch auch exemplarisch<br />
die Entwicklung des Genres. Abschließend werden die Erkenntnisse der
Einzelanalysen zusammengefasst und Grundaussagen formuliert. Folgende<br />
Besonderheiten lassen sich beschreiben: Zwar ist die Heimkehr Ausdruck einer<br />
Suche nach Heimat und Identität, was der klassischen Motivverwendung entspricht,<br />
allerdings zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-<br />
Literatur von herkömmlichen, bekannten Verläufen abweicht. Weiters zeigt sich,<br />
dass das Motiv eine zentrale handlungs- und spannungsauslösende Funktion<br />
einnimmt. Das Motiv löst jedoch nicht nur Handlung aus, sondern auch einen<br />
Reflexionsprozess, der einen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />
ermöglicht. Weiters wird mit Hilfe des Heimkehrmotivs nicht, wie in den<br />
klassischen Heimkehrergeschichten, auf Veränderungen, sondern auf Kontinuitäten<br />
beziehungsweise Stillstände hingewiesen. Der Verlauf zeigt eskalatorische<br />
Tendenzen, die zur Verschärfung der Krisen der Heimkehrerer führen und<br />
bewirken, dass die Rückkehr nur von kurzer Dauer ist. Für die Heimkehrer erweist<br />
sich Heimat als Utopie. Bereits vorhandene, im Gedächtnis der Rezipienten<br />
gespeicherte Heimkehrschemata decken sich nicht mit dem Schema der<br />
Heimkehr in der Anti-Heimat-Literatur. Die Identitätskrisen der Protagonisten,<br />
die mitverantwortlich <strong>für</strong> die Entscheidung zur Rückkehr sind, können durch<br />
eine Heimkehr nicht bewältigt werden, in weiterer Folge führt die Heimkehr entweder<br />
in den Tod oder zu einem abermaligen Verlassen der Heimat. Das Heimkehrmotiv<br />
in der Anti-Heimat-Literatur dient in erster Linie dazu, anhand des<br />
Scheiterns der Heimkehrer die Heimat kritisch zu beleuchten. Durch die Heimkehr<br />
zeigt sich, dass es unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist,<br />
Heimat zu finden, da die Voraussetzungen, wie sie auch zu Beginn der Arbeit<br />
definiert wurden, nicht erfüllt sind. Weiters zeigt sich, dass erst durch das Heimkehrmotiv<br />
eine Verortung der Werke im Genre möglich ist, da es dazu beiträgt,<br />
dessen Grundaussagen zu vermitteln.<br />
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Lebenslauf<br />
Persönliche Daten<br />
Name Rene Peinbauer<br />
Geburtsdatum 18.08.1980<br />
Geburtsort Linz<br />
Staatsbürgerschaft Österreich<br />
Schulbildung<br />
1986 – 1990 Volksschule Oepping/OÖ<br />
1990 – 1998 BRG Rohrbach/OÖ<br />
Studium<br />
09/2000 – 03/2004 Studium der Sozialarbeit, Bundesakademie<br />
<strong>für</strong> Sozialarbeit, Wien<br />
seit 03/2001 Diplomstudium Psychologie, Universität<br />
Wien<br />
10/2004 – 12/2007 Diplomstudium <strong>Germanistik</strong>, Universität<br />
Wien<br />
Berufliche Tätigkeiten<br />
Seit 2000 Hauptsächlich beschäftigt im Sozialbereich,<br />
vor allem niedrigschwellige Drogen-<br />
und Obdachlosensozialarbeit