20.11.2012 Aufrufe

Diplomarbeit - Institut für Germanistik

Diplomarbeit - Institut für Germanistik

Diplomarbeit - Institut für Germanistik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung ...................................................................................................... 3<br />

2 Heimatbegriff außerliterarisch ....................................................................... 5<br />

2.1 Heimat im Wörterbuch .......................................................................... 5<br />

2.2 Räumliche und soziale Bedingungen .................................................... 6<br />

2.3 Heimat als Utopie.................................................................................. 8<br />

3 Heimatliteratur..............................................................................................13<br />

3.1 Heimatkunstbewegung.........................................................................14<br />

3.2 Blut-und-Boden-Literatur......................................................................17<br />

3.3 Heimatroman........................................................................................18<br />

3.4 Gattungsproblematik ............................................................................19<br />

4 Anti-Heimat-Literatur ....................................................................................20<br />

4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945.......................................20<br />

4.2 1960er & 1970er Jahre ........................................................................22<br />

4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur....................................................25<br />

4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur ................................26<br />

4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence..............................................28<br />

5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv ..............................................................34<br />

5.1 Exkurs: Funktion von Motiven <strong>für</strong> die Literatur .....................................34<br />

5.2 Heimkehrmotiv .....................................................................................37<br />

6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fasching“ von Gerhard Fritsch ....42<br />

6.1 Späte Anerkennung .............................................................................42<br />

6.2 Heimkehr eines Deserteurs..................................................................44<br />

6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs...........51<br />

7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein.“ –<br />

„Der Emporkömmling“ von Franz Innerhofer................................................54<br />

7.1 Teil vier einer Trilogie?.........................................................................54<br />

7.2 Heimkehr als letzter Ausweg................................................................58<br />

8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von Robert Menasse.....................66<br />

8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman................................................66<br />

8.2 Heimkehr als Regression .....................................................................68<br />

1


9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von Peter Zimmermann...........77<br />

9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans.......................................................77<br />

9.2 Suche nach der Stille ...........................................................................78<br />

10 Funktionen des Heimkehrmotivs ..................................................................87<br />

10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs.................................89<br />

10.2 Heimat – eine Utopie?..........................................................................96<br />

10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?...............................100<br />

10.4 Ausblick..............................................................................................102<br />

11 Bibliographie ..............................................................................................104<br />

11.1 Primärliteratur.....................................................................................104<br />

11.2 Sekundärliteratur................................................................................104<br />

11.2.1 Rezensionen ...........................................................................112<br />

11.2.2 Internet ....................................................................................114<br />

Anhang............................................................................................................115<br />

Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007..............................................115<br />

Abstract......................................................................................................120<br />

Lebenslauf .................................................................................................122<br />

2


1 Einleitung<br />

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Werken eines Genres, das mittlerweile<br />

beinahe vollständig von der Bühne der österreichischen Literatur verschwunden<br />

ist. Die Anti-Heimatliteratur beziehungsweise Anti-Heimat-Literatur<br />

durfte sich in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts über ihre größten<br />

Erfolge freuen. Mittlerweile ist der Begriff mit einer Aura des Antiquierten und<br />

Unzeitgemäßen behaftet und wird meist nur in abwertender Absicht verwendet.<br />

Dabei nimmt die Anti-Heimat-Literatur eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste<br />

Position in der österreichischen Gegenwartsliteratur ein. Anti-Heimat-<br />

Literatur hat in hohem Ausmaß auf historische und aktuelle politische und gesellschaftliche<br />

Entwicklungen in Österreich Bezug genommen und diese kritisch<br />

beleuchtet. Diese Arbeit soll auch ein Beitrag dazu sein, dass dieses Genre<br />

nicht völlig in Vergessenheit gerät.<br />

Im Zentrum der Arbeit steht das Heimkehrmotiv, das sich auf den ersten Blick<br />

nicht unbedingt in Verbindung zur Anti-Heimat-Literatur bringen lässt. Denn tatsächlich<br />

ist es das Fluchtmotiv, welches weitaus häufiger zur Verwendung herangezogen<br />

wird. Von dieser Beobachtung ausgehend soll untersucht werden,<br />

ob und wie das Heimkehrmotiv kompatibel zur Anti-Heimat-Literatur ist. Dabei<br />

ist es wichtig, auf die inhaltlichen und auf die formalen Besonderheiten des Motivs<br />

einzugehen. Motive haben generell eine Funktion als Inhalts- und auch als<br />

strukturierte und strukturgebende Einheiten, sie entfalten ihre Wirkung auf zwei<br />

verschiedenen Ebenen.<br />

Das Heimkehrmotiv findet sich in der Literaturgeschichte immer wieder in den<br />

unterschiedlichsten Kontexten. Als eine der ältesten und bekanntesten Heimkehrergeschichten<br />

sei die Odyssee von Homer erwähnt. Darin und auch in vielen<br />

anderen Werken steht die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat im<br />

Vordergrund. Umgelegt auf das Genre der Anti-Heimat-Literatur stellt sich die<br />

Frage, wie sich diese Sehnsucht mit einer Gattung, die tendenziell eine kritische<br />

Haltung zur Heimat einnimmt, vereinbaren lässt. Eine Heimkehr in die Anti-<br />

Heimat kann nur schwer entsprechend den herkömmlichen Verläufen der klassischen<br />

Heimkehrergeschichten entsprechen. Deshalb soll in dieser Arbeit untersucht<br />

werden, ob sich <strong>für</strong> die Verwendung des Motivs in der Anti-Heimat-<br />

3


Literatur ein eigenes Schema definieren lässt. Eine rein textimmanente Interpretation<br />

würde jedoch zu kurz greifen. Deshalb steht zu Beginn der Arbeit ein theoretischer<br />

Teil, der dazu beitragen soll, möglichst viele relevante Aspekte in die<br />

Analyse einzubringen. Zuallererst ist es notwendig, auf die Aspekte Heimat und<br />

Identität einzugehen, da diese in enger Verbindung zum Heimkehrmotiv stehen<br />

und auch wichtige Themen in der Anti-Heimat-Literatur sind. Zu diesem Zweck<br />

werden in Kapitel zwei verschiedene Konzepte zum Thema Heimat präsentiert<br />

und zueinander in Beziehung gesetzt.<br />

Der Heimatbegriff unterzog sich im Laufe der Zeit einem vielfachen Wandel und<br />

wurde leider sehr oft auch zu ideologischen Zwecken missbraucht. Ein Wandel<br />

des Heimatbegriffes auf gesellschaftlicher Ebene findet immer auch eine Entsprechung<br />

in der Literatur, da diese wesentlich von aktuellen Entwicklungen<br />

beeinflusst wird und diese auch widerspiegelt. Diese Verbindung wird versucht<br />

in Kapitel drei, welches sich mit der Heimatkunstbewegung, der Blut-und-<br />

Boden-Literatur und dem Heimatroman der Nachkriegszeit beschäftigt, nachzuzeichnen.<br />

Erst aus dem Verständnis der problematischen und auch missbräuchlichen<br />

Verwendung des Begriffes in der Literatur kann sich das Verständnis<br />

<strong>für</strong> die Entstehung der Anti-Heimat-Literatur als spezifisch österreichisches<br />

Genre herausbilden. Kapitel vier schließlich widmet sich der Anti-Heimat-<br />

Literatur, skizziert deren Entwicklung und stellt ein umfassendes Konzept dazu<br />

vor. Den letzten Abschnitt des Theorieteils bildet Kapitel fünf, das sich mit Überlegungen<br />

zur Motivforschung und zum Heimkehrmotiv beschäftigt. Dieses Kapitel<br />

ist eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> eine fundierte Interpretation, welche in<br />

den darauf folgenden vier Abschnitten stattfindet. Es wird jeweils ein Werk pro<br />

Kapitel unter Einbeziehung von Forschungs- und Rezeptionsgeschichte genauer<br />

analysiert. Die ausgewählten Werke spannen einen zeitlichen Bogen von den<br />

1960er Jahren bis in die Gegenwart und repräsentieren jeweils verschiedene<br />

Phasen der Anti-Heimat-Literatur. Im abschließenden Kapitel zehn werden die<br />

Erkenntnisse der Einzelanalysen zusammengefasst, anhand konkreter Leitfragen<br />

zueinander in Beziehung gebracht und zu Grundaussagen über das Heimkehrmotiv<br />

in der Anti-Heimat-Literatur formuliert.<br />

4


2 Heimatbegriff außerliterarisch<br />

Betrachtet man den Begriff „Heimat“ aus diachroner Sicht, so lässt sich unschwer<br />

erkennen, dass dieser Terminus im Laufe der Zeit einem vielfältigen<br />

Wandel unterzogen wurde. Rüdiger Görner etwa bezeichnet in diesem Zusammenhang<br />

Heimat als „chamäleonhaftes Gebilde“ 1 . Im Rahmen der Arbeit wird<br />

der Wandel des Heimatbegriffs ab dem Aufkommen der Heimatkunstbewegung<br />

untersucht. Mit dieser Strömung lässt sich eine zunehmende ideologische Aufladung<br />

des Begriffes feststellen, die wesentliche Auswirkungen bis in die Gegenwart<br />

zeigt und Voraussetzung <strong>für</strong> das Verständnis der Entwicklung, die in<br />

Österreich gegen Ende der 1960er Jahre einsetzt, ist. Abseits der Literatur war<br />

das Thema Heimat ab den 1970er Jahren wieder sehr gefragt. Zahlreiche Publikationen<br />

beleuchteten die Thematik aus psychologischer, irrationaler, territorialer,<br />

historischer, sozialer, kultureller, biologischer, anthropologischer, ideologischer<br />

oder nostalgischer Sicht und trugen zur Renaissance eines Begriffes, der<br />

Ende des 18. Jahrhunderts bereits als veraltet galt, bei. 2 Einen Überblick über<br />

einige wichtige Theorien soll dieses Kapitel geben. 3<br />

2.1 Heimat im Wörterbuch<br />

Das Wort „Heimat“ existiert nur im deutschen Sprachraum und lässt sich<br />

schwer in andere Sprachen übersetzen. 4 „Heimat“ leitet sich von den mittelhochdeutschen<br />

Wörtern „heimuot(e)“, „heimōt(e)“, „heimōde“ und „heimüete“<br />

ab. Die althochdeutschen Entsprechungen lauten „heimōti“, „heimuoti“,<br />

„eimōdi“. Die damalige Bedeutung war ungefähr „Stammsitz“. Das Wort war ur-<br />

1<br />

Görner, Rüdiger: Einführendes. Oder: Verständigung über Heimat. In: Ders. (Hg.): Heimat im<br />

Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992, S.<br />

11 – 14, S. 14.<br />

2<br />

Vgl. Polheim, Karl Konrad: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />

Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 15 – 21, S. 15 –<br />

16.<br />

3<br />

Eine ausführliche, wenn auch mittlerweile etwas veraltete, Zitatensammlung zum außerliterarischen<br />

Heimatbegriff gibt Müller. Vgl. Müller, Carola: Der Heimatbegriff. Versuch einer Anthologie.<br />

In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />

Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 207 – 256.<br />

4<br />

Vgl. Bienek, Horst: Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch? In: Ders. (Hg.):<br />

Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München: Hanser 1985, S. 7- 8, S. 7.<br />

5


sprünglich ein Neutrum. 5 Jakob und Wilhelm Grimm definieren Heimat als „das<br />

land oder auch nur der landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden aufenthalt<br />

hat“ 6 , sie merken ferner an, dass „selbst das elterliche haus und besitzthum“<br />

7 so heißen können.<br />

2.2 Räumliche und soziale Bedingungen<br />

Heimat umschrieb also zuerst einen konkreten Raum, welchem der Mensch zugeordnet<br />

ist. Dieses Territorium ist Identifikations-, aber auch Schutz- und Aktionsraum:<br />

„Das Territorium als ein konkreter und selbst geschaffener Raumausschnitt<br />

mit fließenden Grenzen ist also gewissermaßen die conditio sine qua<br />

non zum Ablauf der Territorialität, die die Bedürfnisse Sicherheit, stimulierende<br />

Aktivität und Identifikation befriedigt.“ 8 Heimat darf aber keineswegs als ein rein<br />

geographisches Phänomen definiert werden, denn die Befriedigung der oben<br />

genannten Bedürfnisse ist Teil des menschlichen Sozialisationsprozesses, der<br />

unter spezifischen kulturellen Bedingungen stattfindet. Das räumliche Element<br />

ist dabei eine Voraussetzung. 9<br />

Andrea Bastian nähert sich in ihrer umfassenden Untersuchung dem Heimatbegriff<br />

von unterschiedlichen Seiten. Dabei trifft sie eine wesentliche Unterscheidung<br />

zwischen räumlicher und sozialer Kategorie. Erstere wird definiert als<br />

Raum im Sinne von Wohnraum und/oder Landschaft, also als Territorium im<br />

Sinne von Greverus. Der Territoriumsbegriff erstreckt sich hier von kleinen Einheiten<br />

wie dem Haus, bis hin zu einer (regional-)geographischen Ebene und<br />

kann sich auch auf einen Staat beziehen. Es lässt sich nachweisen, dass das<br />

menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, als ein zentrales Element von<br />

Heimatgefühl, durch Raumgebundenheit befriedigt wird. Territorialität ist eine<br />

5<br />

Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar<br />

Seebold. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002, S. 402.<br />

6<br />

Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 10. München: dtv 1984, S. 866.<br />

7<br />

A. a. O.<br />

8<br />

Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen.<br />

Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 25.<br />

9<br />

Vgl. Prahl, Eckhart: Das Konzept „Heimat“. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen der<br />

70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke Martin Walsers. Frankfurt/Main: Peter<br />

Lang 1993, S. 16.<br />

6


anthropologische Konstante. 10 Dies bestätigt auch Greverus, die es als absolut<br />

notwendig erachtet, dass sich der Mensch aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet<br />

und dadurch zur Heimat macht. Dieses Territorium wird in weiterer Folge<br />

zum soziokulturellen Bezugsraum, in dem Identität erfahrbar wird. Der Raum ist<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> materielle Existenzsicherung und gesellschaftliche Integri-<br />

tät. 11<br />

Die soziale Kategorie benennt Bastian mit dem Terminus „Gemeinschaft“ und<br />

subsumiert darunter auch gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Aspekte wie<br />

etwa Traditionen und Rituale. 12<br />

Eine Reduzierung des Heimatbegriffs auf die territoriale Komponente greift also<br />

zu kurz. Unwidersprochen benötigt der Mensch einen konkreten Raum, der Sicherheit,<br />

Identität, aber auch Stimulation bereitstellt, ohne die soziale Komponente<br />

ist der Heimatbegriff jedoch zu kurz gefasst. Erst durch soziale Beziehungen<br />

und Interaktionen erhält der geographische Raum die nötigen emotionalen<br />

Bindungen. 13 Eine gelungene Primärsozialisation bedeutet stabile, positive<br />

emotionale Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen, die Grundlage der<br />

späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Doch nicht nur die Primärsozialisation<br />

ist ausschlaggebend <strong>für</strong> das Entstehen eines Heimatgefühls, auch nachfolgende<br />

Sozialisationsinstanzen, von der Schule über den Freundeskreis bis<br />

hin zum Berufsleben sind von konstitutiver Bedeutung. Räumliches und soziales<br />

Element dürfen also nicht als voneinander getrennt betrachtet werden:<br />

Das Territorium dient gleichzeitig der sozialen Bindung wie der sozialen<br />

Distanzierung. [...] Ein gesichertes Territorium, auf das man immer<br />

wieder zurückkehren kann, mit seinen verschiedenen Funktionsorten<br />

und Ruhepunkten [...] dient der Kanalisierung des eigenen<br />

Verhaltens. [...] Soziologisch gesehen ist jedes Territorium sozusagen<br />

Interaktionsraum. Es erweist sich als soziokultureller Bezugsraum,<br />

in dem Identität [...] erfahrbar wird. 14<br />

Greverus betont die Wechselwirkung zwischen der Gruppe und den einzelnen<br />

Individuen: „Identität ist ein reziprokes Verhältnis zwischen den Menschen eines<br />

10 Vgl. Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen<br />

Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Max Niemeyer 1995, S. 49<br />

– 55.<br />

11 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979, S. 28 – 32.<br />

12 Vgl. Bastian 1995, S. 25.<br />

13 A. a. O., S. 37 – 40.<br />

14 Bastian 1995, S. 71.<br />

7


Raumes: die Gruppe gibt dem Einzelnen Identität und die Einzelnen bestätigen<br />

die Identität der Gruppen.“ 15 Das Zusammenwirken von räumlicher und sozialer<br />

Kategorie evoziert im Menschen jene Emotionen, die man als Heimatgefühle<br />

oder Heimatverbundenheit bezeichnen kann: Geborgenheit, Sicherheit, Zugehörigkeit,<br />

Vertrautheit und Anerkennung. 16 Defizite können durch Bindung an<br />

die Heimat kompensiert werden, wie Parin anmerkt. Für ihn hat „Heimat die Bedeutung<br />

einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche<br />

Traumen aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken…“ 17 Neben diesen<br />

positiven Emotionen kann die Bindung an den Lebensraum Heimat jedoch<br />

auch negative Auswirkungen auf das Individuum haben. In diesem Fall wird<br />

Heimat als Enge, Zwang und Gefangensein erlebt. 18 In der Anti-Heimat-<br />

Literatur etwa lässt sich tendenziell eine derartige negative Beschreibung der<br />

Heimat feststellen.<br />

2.3 Heimat als Utopie<br />

Heimat sei „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand<br />

war“ 19 , schreibt Ernst Bloch und kaum ein wissenschaftliches Werk oder ein Artikel<br />

zum Thema Heimat verzichten auf dieses Zitat. Meist steht es am Schluss<br />

der Ausführungen, ein Verweis auf die Schwierigkeit des Unterfangens, Heimat<br />

zu definieren. Nähert man sich dem Heimatbegriff von einer mehr philosophischen,<br />

denn kulturanthropologischen Seite, so muss man in der Romantik beginnen:<br />

„Wohin gehen wir?“ – „Immer nachhause!“, fragten und antworteten die<br />

Romantiker. In dieser Aussage manifestiert sich der Lauf des Lebens als ständige<br />

Suche nach Heimat.<br />

15 Greverus 1979, S. 57.<br />

16 Diese emotionalen Elemente sind anthropologische Grundbedürfnisse, die in jedem Menschen<br />

vorhanden sind. Vgl. Bastian 1995, S. 43 und S. 72.<br />

17 Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposium der<br />

Internationalen Erich Fried Gesellschaft <strong>für</strong> Literatur und Sprache in Wien zum Thema „Wieviel<br />

Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er.“ Mit einem Essay von Peter-Paul<br />

Zahl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1996, S. 18.<br />

18 Vgl. Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüche oder komplementäre<br />

Motivkonstellationen menschlichen Handelns? In: Geographie heute 100 (1992), S. 30<br />

– 44, S. 30 – 32.<br />

19 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Band 5. Kapitel 43 – 55. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp 1985, S. 1628.<br />

8


In einem Essay greift Bernhard Schlink eine Thematik auf, die Jean Améry bereits<br />

in den 1960er Jahren behandelt hat: „Wieviel Heimat braucht der<br />

Mensch?“, lautete der Titel von Amérys Essay. 20 Beide nähern sich dem Heimatbegriff<br />

von der Erfahrung des Exils, dem Gegenbegriff zur Heimat.<br />

Exil bedeutete ursprünglich eine räumliche Trennung von der Heimat durch Vertreibung<br />

oder andere Notsituationen, meist unfreiwillig. Améry war selbst ein<br />

Opfer der Judenvertreibung des Nationalsozialismus. Das Verlassen der Heimat<br />

geht immer einher mit der Erfahrung der Entfremdung, im Exil gelten andere<br />

Gesetze, denen sich der Exilant unterordnen muss. Schlink erweitert den<br />

Begriff des Exils zu einem metaphorischen. Für ihn ist das Exil eine Metapher<br />

<strong>für</strong> die Erfahrung der Entfremdung, die jedoch nicht an eine räumliche Komponente<br />

gebunden ist. 21 Die Erfahrung des Exils kann auch ohne räumliche Veränderung<br />

gemacht werden. Schlink nennt als Beispiele etwa die Angehörigen<br />

von Minderheiten oder auch Frauen, die sich in einer männerdominierten Gesellschaft<br />

wie im Exil fühlen. 22 Es gab eine Zeit, in der die Erfahrung des Exils<br />

<strong>für</strong> viele Intellektuelle durchaus prägend war. Nach dem Zweiten Weltkrieg war<br />

Heimat ein belasteter Begriff, Exilanten des Krieges wurden von den Daheimgebliebenen<br />

oftmals als Vaterlandsverräter betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt war<br />

der Exilbegriff in intellektuellen Kreisen positiver besetzt als der Heimatbegriff,<br />

er signalisierte Weltoffenheit und Universalität. 23 Auch Améry weiß die Exilerfahrung<br />

durchaus zu schätzen, er betont die Bereicherungen und Chancen, die<br />

Öffnung der Welt, welche die Heimatlosigkeit bieten kann. 24<br />

Eine deutsche Umfrage ergab, dass Heimat <strong>für</strong> 31 Prozent der Befragten der<br />

Wohnort, <strong>für</strong> 25 Prozent die Familie, aber nur <strong>für</strong> elf Prozent das Land selbst ist.<br />

Aus diesem Ergebnis folgert Schlink, dass „das Land als Nation nach wie vor<br />

historisch diskreditiert ist, um den Platz der Heimat unverfänglicheren und au-<br />

20<br />

Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.):<br />

Jean Améry. Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Scheit. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S.<br />

86 – 117.<br />

21<br />

Vgl. Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 8 – 11.<br />

22<br />

A. a. O., S. 7.<br />

23<br />

A. a. O., S. 13 – 15.<br />

24<br />

Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 94.<br />

9


ßerdem näheren, überschaubareren, ausfüllbareren Orten zu überlassen.“ 25<br />

Durch die Kriegsschuld war die Nation als Heimat kein Thema mehr, wenn<br />

man an Heimat dachte, orientierte man sich an kleineren oder abstrakteren<br />

Begriffen. Diese Erfahrungen von Orten der Heimat werden jedoch erst aus der<br />

Distanz gemacht. Erst der Mangel macht die Bedeutung von bis dahin Selbstverständlichem<br />

klar: „Die Heimaterfahrungen werden gemacht, wenn das, was<br />

Heimat jeweils ist, fehlt oder <strong>für</strong> etwas steht, das fehlt.“ 26 Aus der Distanz sind<br />

es vor allem Erinnerungen und Sehnsüchte, die das Heimatbild ausmachen.<br />

Améry setzt Heimat mit Sicherheit gleich, das Exil evoziert ihn ihm das Gefühl<br />

des Torkelns über schwankenden Boden. 27 Ähnliches meint auch Schlink, wenn<br />

er vom Recht auf Heimat als elementarem Menschenrecht spricht, und sich dabei<br />

auf einen Ort bezieht, an dem der Mensch rechtlich anerkannt und geschützt<br />

leben und arbeiten, sowie Familie, Freunde, Erinnerungen und Sehnsüchte<br />

haben kann. 28 Für Schlink ist das Heimweh das eigentliche Heimatgefühl.<br />

Heimat manifestiert sich also nicht im Konkreten und ist folglich ein Nicht-<br />

Ort, eine Utopie: „Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerungen<br />

an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach dem, was<br />

vergangen und verloren ist [...] Heimat ist ein Ort nicht als der, der er ist, sondern<br />

als der, der er nicht ist.“ 29<br />

Auch Améry beschäftigt sich mit der Heimwehproblematik, in seinem Fall der<br />

Sehnsucht nach einer eigentlich verachtenswerten, nationalsozialistischen<br />

Heimat: „Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht<br />

war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher,<br />

neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen<br />

ist.“ 30<br />

Doch nicht nur <strong>für</strong> räumlich von ihrer Heimat getrennte Menschen ist Heimat eine<br />

Utopie. Auch wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang am selben Ort gelebt<br />

hat, ist dieser Ort als Heimat <strong>für</strong> ihn Utopie, denn dieser Ort beinhaltet nicht<br />

nur die Erinnerungen an konkrete vergangene Geschehnisse sondern dazu<br />

25<br />

Schlink 2000, S. 23.<br />

26<br />

A. a. O., S. 24.<br />

27<br />

Vgl. Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 95 – 96.<br />

28<br />

Vgl. Schlink 2000, S. 47.<br />

29<br />

Schlink 2000, S. 33.<br />

30<br />

Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 102.<br />

10


noch alle vergangenen Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte und trägt somit<br />

die Utopien des gesamten Lebens. 31 Die Heimat der Vergangenheit, egal ob<br />

real oder von Träumen und Sehnsüchten dominiert, ist unwiederbringlich, „weil<br />

niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen<br />

Zeit ist.“ 32<br />

Somit erhält der Heimatbegriff auch <strong>für</strong> Améry einen utopischen Charakter: „Es<br />

gibt keine ´neue Heimat`. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer<br />

sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der<br />

Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit<br />

den Fuß auf den Boden zu setzen.“ 33 Auch <strong>für</strong> Schlink gibt es nur zwei<br />

Orte, denen er das Potential, Heimat zu vermitteln, zugesteht: „de[r] Ort der<br />

Geburt und de[r] Ort der Kindheit. Sie werden die Orte bleiben, an denen sich<br />

Heimatgefühl, Heimaterinnerung und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“ 34<br />

Améry und Schlink entwickeln ihre Thesen von ähnlichen Standpunkten aus:<br />

Améry aufbauend auf seinen eigenen Exilerfahrungen und Schlink auf einem<br />

metaphorischen Exilbegriff. Auch die Schlussfolgerungen der über drei Jahrzehnte<br />

auseinander liegenden Essays weisen starke Ähnlichkeiten auf: Heimat<br />

konstituiert sich durch Vergangenes, Erinnerungen, Projektionen und durch<br />

Mangel. Somit wird Heimat zu einer Utopie. Der Blick aus der Ferne in die Heimat,<br />

aus der Gegenwart in die Vergangenheit, wirkt oft verklärend. Einig sind<br />

sich beide Verfasser darin, dass ein geographisch definierter, überschaubarer<br />

Raum als Voraussetzung <strong>für</strong> das Entstehen von Heimatgefühl notwendig ist.<br />

Darin bestätigt sich einmal mehr die These von Greverus über Territorialität als<br />

anthropologische Konstante.<br />

Die Kindheit spielt in allen vorgestellten Konzepten eine wichtige Rolle. Besonders<br />

aus der Ferne betrachtet, erscheint die Welt der Kindheit oft als verklärte<br />

Idylle, deren Rückeroberung ein lohnenswertes Ziel darstellt. Selbst wenn die<br />

Kindheit nur ein Mindestmaß an Geborgenheit und Heimat geboten hat, aus<br />

31<br />

Vgl. Schlink 2000, S. 34.<br />

32<br />

Améry, in: Heidelberger-Leonard (Hg.) 2002, S. 87.<br />

33<br />

A. a. O., S. 97 – 98.<br />

34<br />

Schlink 2000, S. 49 – 50.<br />

11


zeitlicher und räumlicher Distanz betrachtet, tendiert der Mensch zu einer positiveren<br />

Sicht der vergangenen Zeit. 35 Dass aber eine Rückkehr in die Welt der<br />

Kindheit nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Kindheit ist ein unwiederbringlicher<br />

Abschnitt im Leben des Menschen, durch die voranschreitende Zeit und<br />

die damit einhergehenden Veränderungen, sowohl der Umgebung, als auch<br />

des Menschen selbst, endet eine Rückkehr oft in Enttäuschung. Wohl aber wird<br />

in der Heimat der Kindheit der Grundstein <strong>für</strong> die menschliche Identitätsentwicklung<br />

gelegt. Eine Heimat zu haben, irgendwo daheim zu sein, ist ein elementares<br />

menschliches Bedürfnis. Wie sich die Suche nach Heimat beim Einzelnen<br />

gestaltet und wovon der Erfolg letzten Endes abhängt, lässt sich nicht verallgemeinern:<br />

„Heimat ist demnach kein festschreibbarer kollektiver Wert, sondern<br />

ein offenes System, das vom einzelnen Individuum im fortschreitenden Prozess<br />

der Identitätsfindung erworben und modifiziert wird.“ 36<br />

Ob tatsächlich die Kindheit als einzige Heimat bezeichnet werden kann, darf<br />

hinterfragt werden. Wahrscheinlicher ist schon die These, dass die Fähigkeit,<br />

sich aufgrund der in der Kindheit erworbenen Konzepte neue Lebensräume als<br />

Heimat anzueignen, eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> jeden Menschen ist. Speziell<br />

in der heutigen Gegenwart, die ein Höchstmaß an Mobilität bietet und auch<br />

verlangt, und vor dem Hintergrund immenser Migrationsbewegungen werden an<br />

das Heimatkonzept des modernen Menschen völlig neue Anforderungen gestellt.<br />

Die obigen Erörterungen zu außerliterarischen Heimatkonzepten bilden<br />

den Hintergrund <strong>für</strong> den zweiten, analytischen Teil dieser Arbeit. Sie sind bei<br />

der Analyse stets im Auge zu behalten. Das nächste große Kapitel widmet sich<br />

nun dem Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur, wobei der Schwerpunkt<br />

auf Österreich gelegt wird. Da Literatur immer auch die gesellschaftlichen und<br />

politischen Verhältnisse widerspiegelt und thematisiert, werden diese selbstverständlich<br />

miteinbezogen werden.<br />

35 Vgl. Fetscher, Iring: Heimatliebe – Brauch und Missbrauch eines Begriffes. In: Görner, Rüdiger<br />

(Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert. München:<br />

Iudicium 1992, S. 15 – 35, S. 15 – 16.<br />

36 Prahl 1993, S. 37.<br />

12


3 Heimatliteratur<br />

Der Heimatbegriff ist quer durch alle Epochen der Literaturgeschichte vertreten.<br />

Man könnte etwa mit der Romantik beginnen, denn sie „bringt das Thema Heimat<br />

in seiner gängigsten literarischen Bedeutung hervor: Heimat als emotional<br />

aufgeladener Begriff, der mit Natur und ländlichem Leben zusammenhängt und<br />

Stimmungen wie Vertrautheit, Überschaubarkeit, Verwurzelung, Ruhe und Abgesichertheit<br />

assoziieren läßt.“ 37<br />

Im folgenden Abschnitt erfolgt eine Konzentration auf die jüngere Vergangenheit,<br />

konkret mit Beginn der Heimatkunstbewegung als erste den Heimatbegriff<br />

in der Literatur ideologisierende Strömung 38 , da hier die Grundsteine <strong>für</strong> das<br />

problematische Heimatverständnis der Anti-Heimat-Literatur gelegt wurden.<br />

Von der Heimatkunstbewegung war es nur ein kleiner Schritt zur nationalsozialistischen<br />

Blut-und-Boden-Literatur, und in weiterer Folge zum Heimatroman<br />

der Nachkriegszeit, der als Resultat einer Verweigerung der Aufarbeitung<br />

der Hitlerjahre gesehen werden kann. Nicht explizit eingegangen wird auf die<br />

Dorfgeschichte. Sie<br />

findet sich schon in den Formen der Idylle und setzt sich zu Beginn<br />

der 20. Jhs in der sogenannten ´Heimatkunst` und später in der<br />

´Blut-und-Boden`-Literatur des III. Reichs, unter anderen Vorzeichen<br />

in der sozialistischen Landliteratur, ja selbst im trivialen Heimat- und<br />

Bergroman der Romanheftserien fort. Sogar in den gegen die traditionelle<br />

Heimatdichtung gerichteten Ansätzen der Gegenwartsliteratur<br />

klingen Elemente der D[orf]G[eschichte] an. Eine exakte Begriffsbestimmung<br />

oder gar Abgrenzung gegen andere epische Formen der<br />

Dorfdichtung ist schwierig. 39<br />

Diese Gattung in ihren verschiedenen Spielarten hat zwar quer durch alle Genres<br />

Verbreitung gefunden, in Bezug auf die ideologische Aufladung des Hei-<br />

37<br />

Bastian 1995, S. 180.<br />

38<br />

Vgl. Charbon, Remy: Heimatliteratur. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />

Band 2. Berlin: de Gruyter 2000, S. 19 – 21, S. 20.<br />

39<br />

Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976, S. 20. Zur Ausprägung der Dorfgeschichte<br />

in der neueren österreichischen Literatur siehe auch Zeyringer, Klaus: Österreichische<br />

Literatur seit 1945. Überblicke – Einschnitte – Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001, S. 439 –<br />

448.<br />

13


matbegriffes aber keine wesentliche Rolle gespielt und ist somit <strong>für</strong> die vorliegende<br />

Arbeit von geringer Relevanz.<br />

14<br />

3.1 Heimatkunstbewegung<br />

Zeitlich verorten lässt sich die Heimatkunstbewegung in den beiden Jahrzehnten<br />

vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit einem Höhepunkt<br />

in den Jahren 1900 bis 1904. 40 Als einer der wichtigsten Vertreter dieser<br />

Strömung gilt, neben Friedrich Lienhard und Julius Langbehn, Adolf Bartels.<br />

Neben seinem Eintreten <strong>für</strong> die Heimatkunstbewegung (er war es auch der den<br />

Begriff Heimatkunst geprägt hat), kann er auch als Begründer einer völkischen,<br />

antisemitischen Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet werden. 41 Dieses<br />

Faktum sei deswegen gleich zu Beginn hervorgehoben, da es sehr schön darstellt,<br />

in welcher Ecke die Heimatkunstbewegung zu verorten ist. Als Antwort<br />

auf die Wirklichkeitsdarstellung des Naturalismus und Gegenbewegung zur<br />

Moderne gedacht, war die Heimatkunstbewegung darauf ausgerichtet, „die gesamte<br />

Kultur auf eine landschaftsbedingte und stammesorientierte Grundlage<br />

zu stellen.“ 42 Die Vertreter der Heimatkunstbewegung sahen die Einheit und<br />

Kultur des deutschen Volkes bedroht: „Wir verlangen [...] eine machtvolle<br />

Volkskunst <strong>für</strong> die Nation; voll Unerschrockenheit, Glut und Größe, mit würdigen<br />

Gegenständen, getragen von der Eigenart unserer Gaue, auf dem Boden unserer<br />

Landschaften, von der Kühnheit echten Deutschtums durchlodert…“ 43<br />

In der Heimatkunstbewegung manifestiert sich zum ersten Mal ein Denken und<br />

Agieren in Gegensatzpaaren, eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die gesellschaftliche<br />

Realität. Die Heimatkunstbewegung unterteilt in gute und böse, in gesunde und<br />

kranke Elemente. Die Großstadt fungiert als Ort der Dekadenz, als sozialer<br />

40<br />

Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie<br />

der Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett 1975, S. 13. Von 1900 – 1904 erschien<br />

auch die Zeitschrift „Heimat“, herausgegeben von Friedrich Lienhard und Adolf Bartels.<br />

41<br />

A. a. O. 1975, S. 40.<br />

42<br />

Rossbacher 1975, S. 13.<br />

43<br />

Wachler, Ernst, zit. n. Rossbacher 1975, S. 28.


Sumpf und als abzulehnendes Sinnbild <strong>für</strong> Industrialisierung. 44 Opposition<br />

gegen den technischen Fortschritt, sowie gegen die Wissenschaft und Intellektuelle<br />

stellen weitere Punkte im Programm der Heimatkunstbewegung dar.<br />

Heimatkunst war eine konservative Antwort auf die zunehmende Industrialisierung<br />

und Verstädterung der Moderne und der damit einhergehenden Zunahme<br />

der Komplexität des Lebens: „In den Gegensätzen von einer durch Normeinheit<br />

geschlossenen Gemeinschaft gegenüber einem durch Normenvielfalt charakterisierten<br />

städtisch-internationalen Weltbürgertum wurde Heimat als natürlich<br />

und authentisch gewachsene Zugehörigkeit Deutscher zu ihrer Nation gefei-<br />

ert.“ 45<br />

Die österreichische Variante der Heimatkunst bezeichnet Rossbacher als „Provinzkunst“.<br />

Zu den erfolgreichsten Vertretern dieser Strömung zählen Karl Heinrich<br />

Waggerl, Paula Grogger oder Richard Billinger, auch Peter Rosegger<br />

schrieb, zumindest phasenweise, im Sinne der Heimatkunstbewegung. Die<br />

österreichische Variante der Heimatkunst trat zeitlich etwas später auf und ist<br />

gekennzeichnet durch einen starken katholischen Akzent. 46<br />

Ein zentrales Begriffspaar in der Heimatkunst stellt die Unterscheidung von<br />

gesund und krank dar, wobei krank oft in der Komplementärform entartet verwendet<br />

wird. Wenn auch die Dichotomie gesund – krank nicht von der Heimatkunstbewegung<br />

in die Literatur eingeführt wurde, so ist doch die biologisierende<br />

Verwendung der Termini deren zweifelhafter Verdienst. 47 Der Dichter erhält<br />

als geistiger Führer und erzieherische Persönlichkeit die Aufgabe,<br />

das Volk in gesunde Bahnen zu leiten; die Poetisierung der Wirklichkeit<br />

gründet in einem ethischen Prinzip, sie verklammert die Elemente<br />

Volk, Stamm, Rasse, Nation, Heimat und Natur zu einem Ganzen,<br />

das – vordergründig betrachtet – im Bauerntum bereits verwirklicht<br />

ist. 48<br />

44<br />

Paradoxerweise agierten wichtige Vertreter der Heimatkunstbewegung von der ihnen verhassten<br />

Stadt Berlin aus, da sie dort in den Genuss der besten Produktions- und Distributionsbedingungen<br />

kommen konnten.<br />

45<br />

Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation.<br />

München: Iudicium 1999, S. 23.<br />

46<br />

Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Die Literatur der Heimatkunstbewegung um 1900. In: Plener, Peter/Zalan,<br />

Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der<br />

Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997, S. 109 – 120, S. 109 –<br />

111.<br />

47<br />

Vgl. Rossbacher 1975, S. 53.<br />

48<br />

Hein 1976, S. 112.<br />

15


Der gesunde Bauer steht in der Heimatkunst dem kranken Städter, Intellektuellen<br />

oder Fremden gegenüber. Wie eine Gesundung des deutschen Volkes zu<br />

geschehen habe, erklärt folgende Aussage des Heimatkunsttheoretikers Ernst<br />

Wachler: „Die Mittel, die die Gesundheit, Schönheit und Kraft der Deutschen<br />

aufs höchste steigern, können nur bestehen in der Reinigung des Volkstums,<br />

der Ausscheidung oder der Aufsaugung des Fremden, Vernichtung des Entarteten.“<br />

49 Entsprechend dieser Philosophie lässt sich als beliebtes Motiv in vielen<br />

Werken die Gesundung kranker Menschen beobachten. Hauptfigur ist dabei oft<br />

ein kranker, reicher, eventuell adeliger Mann, der von der Großstadt aufs Land<br />

zieht, in der Hoffnung dort gesund zu werden. Die Landschaft, die Kräfte des<br />

Volkstums und vielleicht noch ein hübsches, natürliches Mädchen bewirken die<br />

Genesung. 50 Sehr oft ist es auch ein Heimkehrer, der das Lob des Dorfes ausspricht<br />

und die Gegensätze zwischen Stadt und Land hervorhebt:<br />

16<br />

Die Konnotationen spielen in den Bereich des Wiedergewinnens, der<br />

schrittweisen Wiederaneignung von ehemals Gehabtem und Unverändertem.<br />

Längere Abwesenheit bringt zudem häufig die Jugendperspektive<br />

ins Bild. Wesentliche Komponenten eines so gesehenen<br />

Heimatdorfes sind: die Suggestion von Einheit und Geschlossenheit,<br />

aber ohne Enge; […] weiters Rauch, Herd, Nestwärme, Nahrung:<br />

das alles sind Attribute eines Ortes, an dem gut sein ist. 51<br />

In Anlehnung an die Unterscheidung, die Bastian getroffen hat, kann man den<br />

Heimatbegriff der Heimatkunst als primär räumlichen definieren. Der „Aspekt<br />

von Schollenverhaftetheit“ 52 steht im Vordergrund, der Bereich der Gesellschaft<br />

ist ausgeklammert, das Regionale und Dörfliche ist dem Sozialen vorgelagert:<br />

„Eine wahre Heimat hat der Mensch erst, wenn er Grundbesitz und insbesondere<br />

Landbesitz hat.“ 53<br />

Diese Verbindung von Heimatgefühl mit einer primär räumlichen Fixierung impliziert<br />

natürlich eine Ablehnung weniger stark verwurzelter Individuen. Fremden<br />

und Wandernden wird mit Misstrauen und Ablehnung begegnet. Wer von außerhalb<br />

kommt, also der „outgroup“ angehört, hat es schwer, sich in das festge-<br />

49 Wachler, zit. n. Rossbacher 1975, S. 54.<br />

50 Vgl. Rossbacher 1975, S. 54.<br />

51 Rossbacher 1975, S. 141.<br />

52 A. a. O. 1975, S. 106.<br />

53 Langbehn, Julius, zit. n. Rossbacher 1975, S. 108.


fahrene Gefüge der ländlichen „ingroup“ einzufügen. Territoriumsfremde müssen<br />

sich doppelt anstrengen, um Zugang zur alteingesessenen Dorfgemeinschaft<br />

zu erlangen. 54<br />

Im Gegensatz zur Ideologie der nationalsozialistischen Literatur legt die Heimatkunstbewegung<br />

ihren Schwerpunkt auf regionale Besonderheiten. Jede Region<br />

beziehungsweise jeder „Stamm“ soll mit seinen spezifischen Merkmalen in<br />

einem gesamtdeutschen Gebilde vertreten sein. Ziel ist es, „jedem Stamm seine<br />

Stufe im Akkord des deutschen Geisteslebens zuzuweisen“ 55 , die jeweiligen<br />

Regionen sollen in ihrer Gesamtheit die Zimmer des autarken „ganzen Hauses“<br />

Deutschland sein. 56 Die Verbundenheit aller Deutschen sollte durch die bewusste<br />

Einbeziehung auch der an den Rändern gelegenen Region gefördert<br />

werden. 57<br />

3.2 Blut-und-Boden-Literatur<br />

Die obige Einführung in das Programm der Heimatkunst lässt unschwer erkennen,<br />

dass hier die Grundlage <strong>für</strong> die Literatur der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie<br />

gelegt wurde. Schon die Verwendung von Wörtern, wie etwa<br />

„Entartung“, „Gau“, „Scholle“, etc. verweist auf die Nähe zum nationalsozialistischen<br />

Sprachgebrauch. Dementsprechend ist der Übergang von der<br />

einen in die andere Strömung ein fließender. Nach 1918, im Zuge einer allgemeinen,<br />

kriegsbedingten völkisch-patriotischen Haltung radikalisiert sich auch<br />

die Heimatkunstbewegung, anstelle von idyllisierten Außenseitern oder Dorforiginalen<br />

steht der Bauer in einer heroisierten Form im Mittelpunkt der Romane.<br />

Damit wurde die Heimatkunstbewegung endgültig zum Wegbereiter <strong>für</strong> die Blutund-Boden-Literatur<br />

der Nationalsozialisten. 58 Der Heimatbegriff, der in der<br />

Heimatkunst noch im Regionalen verhaftet war, soll auf den gesamten Staat<br />

ausgedehnt werden. Für die Nationalsozialisten ist die heimatliche Basis der<br />

Heimatkunst zu schmal. Hermann Löns, dessen Werk „Der Wehrwolf“ (1910)<br />

54 Vgl. Rossbacher 1975, S. 188.<br />

55 Rossbacher 1975, S. 50.<br />

56 Vgl. Rossbacher 1975, S. 111.<br />

57 Vgl. Strzelczyk 1999, S. 22.<br />

58 Vgl. Rossbacher 1975, S. 14.<br />

17


das Ende der Heimatkunst und den Beginn der Blut-und-Boden-Literatur markiert<br />

formuliert dies so: „Die Kunst, die nur Heimatkunst ist, ist kleiner Art; hohe<br />

deutsche Kunst ist alldeutsch.“ 59<br />

In der Blut-und-Boden-Literatur erreicht die Ideologisierung von Heimat ihren<br />

Höhepunkt. Elemente wie Heroisierung des Bauerntums und Abwertung der<br />

städtischen Unkultur werden beinahe unverändert von der Heimatkunst übernommen.<br />

3.3 Heimatroman<br />

Sowohl in der Heimatkunst, als auch in der Blut-und-Boden-Literatur des Nationalsozialismus<br />

war der Roman die mit Abstand häufigste formale Gattung.<br />

Noch Jahrzehnte nach Kriegsende erfreuten sich Heimatromane großer Beliebtheit.<br />

Der Heimatroman bedient sich gewisser Schemata, die mehr oder weniger<br />

stark variiert werden. Wesentlichste strukturelle Merkmale sind unreflektiertes<br />

lineares Erzählen über längere Zeitspannen, die Darstellung des ländlichen<br />

Raumes/Dorfes/Bauernhofes als geschlossener, gesellschaftsautarker<br />

Raum, ein weitgehender Verzicht auf psychologische Analysen, Addition und<br />

Kumulation von Schicksal, sowie starre ingroup-outgroup-Konstellationen. 60 In<br />

einem falschen Heimatverständnis liegen auch die Wurzeln des Chauvinismus<br />

begründet. Eine Identifikation mit einer (angepassten) Mehrheit, die sich hauptsächlich<br />

über räumliche Kriterien von anderen Gemeinschaften abgrenzt, bei<br />

gleichzeitigem schwach ausgeprägtem Selbstbewusstsein des Einzelnen, führt<br />

zu einer Angst gegenüber Fremdem, als deren unmittelbarer Ausdruck die Xenophobie<br />

gesehen werden kann. 61<br />

Es ist genau dieses Verständnis von Heimat, das in der traditionellen Heimatliteratur<br />

propagiert wird. Die Heimatliteratur lobt das beschränkte Leben des Einzelnen,<br />

nicht den individualisierten und emanzipierten Menschen. Das Thema<br />

einer gescheiterten Individualisierung wird oft mit dem Motiv des Heimkehrers<br />

59<br />

Löns, Hermann, zit. n. Rossbacher 1975, S. 126.<br />

60<br />

Vgl. Rossbacher, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 117 – 120.<br />

61<br />

Vgl. Frisch, Max: Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises.<br />

In: Ders.: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben und mit einem Nachwort<br />

versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 365 – 373, S. 371.<br />

18


verknüpft. Warnungen vor der Annahme individualisierender Attitüden werden<br />

durch die Bekehrung des Heimkehrers bestätigt. Durch ihr offensichtliches<br />

Scheitern in der Fremde beweist die Figur des Heimkehrers, dass jeglicher Versuch<br />

einer Emanzipation ein Irrweg ist. Nur in der (entindividualisierten) Schicksalsgemeinschaft<br />

eines Volkes (wobei es nicht wichtig ist durch welche Charakteristiken<br />

sich diese Gemeinschaft definiert) lässt sich Heimat finden. Aufbauend<br />

auf diesen Überlegungen lässt sich auch die Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit<br />

der Heimatliteratur erklären, denn Technik und Fortschritt werden als<br />

Hilfsmittel <strong>für</strong> Individualisierungsprozesse angesehen. 62<br />

3.4 Gattungsproblematik<br />

Als literaturwissenschaftlicher Terminus wird die Bezeichnung Heimatliteratur<br />

erst ab den 1970er Jahren verwendet. 63 Üblicherweise werden die Strömungen<br />

der Heimatkunstbewegung, der Blut-und-Boden-Literatur, sowie der Dorfgeschichte<br />

unter dem Sammelbegriff Heimatliteratur subsumiert. Charbon etwa<br />

definiert Heimatliteratur als „Sammelbegriff <strong>für</strong> Texte, in denen eine herkunftsbezogene<br />

Perspektive vorherrscht und eine zumeist ländliche Welt durch vorwiegend<br />

realistische Darstellungsweisen thematisiert wird.“ 64<br />

Von Wilpert sieht die Heimatliteratur als einen wertungsfreien Oberbegriff <strong>für</strong><br />

alles literarische Schaffen aus dem Erlebnis der Heimat, einer bestimmten<br />

Landschaft, ihrer Menschen, sowie des ländlichen Gemeinschaftslebens. 65 Sowohl<br />

Charbon, als auch von Wilpert zählen die kritische beziehungsweise Anti-<br />

Heimatliteratur ebenfalls zur Gattung der Heimatliteratur.<br />

Donnenberg unterscheidet zwischen Heimatliteratur im weitläufigen, engeren<br />

und engsten Sinn. Heimatliteratur im weitläufigen Sinn bezeichnet jene Werke,<br />

die das Land oder den Ort, in/an dem man geboren ist, und deren identitätsbildende<br />

Faktoren zum Thema haben. Im engeren Sinn lässt sich von Werken<br />

62<br />

Vgl. Kiss, Endre: Der grosse Konflikt in der Modernisation. Die Quelle der neuen Probleme<br />

der Heimat. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig<br />

geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997,<br />

S. 31 – 51, S. 39 – 51.<br />

63<br />

Vgl. Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19.<br />

64<br />

Charbon, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 19.<br />

65<br />

Vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 1989, S. 363.<br />

19


sprechen, die vom Erlebnis einer bäuerlich-ländlichen beziehungsweise kleinstädtisch-provinziellen<br />

Welt geprägt sind und diese als überragenden Wert darstellen.<br />

Als Heimatliteratur im engsten Sinn wird die Heimatkunst bezeichnet. 66<br />

Die oben genannten Kategorien sind also als Strömungen innerhalb der Heimatliteratur<br />

zu bezeichnen, wobei das Risiko, dass der Begriff der Heimatliteratur<br />

durch diese Erweiterungen unscharf wird, bedacht werden muss. Andererseits<br />

trägt diese Tatsache den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

Rechnung. Etwa ab den 1960er Jahren setzt eine neuere, kritische Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema Heimat in der Literatur ein. Die Heimatliteratur erweitert<br />

thematisch und strukturell ihren Spielraum, die Grenzen zu anderen Gattungen,<br />

etwa zur Arbeiter- oder Frauenliteratur werden durchlässiger. Weiters<br />

lässt sich ein Verschwinden der Polarität Stadt-Land beobachten, auch Stadtromane<br />

können Heimatliteratur sein. 67<br />

20<br />

4 Anti-Heimat-Literatur<br />

4.1 Vorbedingungen - Heimatliteratur nach 1945<br />

In diesem Abschnitt soll die Verwendung des Heimatbegriffs in der österreichischen<br />

Literatur in ihren unterschiedlichen Stadien skizziert werden. Die Situation<br />

im Nachkriegsösterreich ist dabei genauso von Bedeutung, wie die Entwicklung<br />

in späteren Jahrzehnten. In der vorliegenden Arbeit werden exemplarisch<br />

Texte aus vier Jahrzehnten behandelt werden, deshalb ist es wichtig, einen diachronen<br />

Überblick zu geben.<br />

Was Strzelczyk in ihrer Untersuchung <strong>für</strong> die Bundesrepublik Deutschland<br />

konstatiert, kann ohneweiters <strong>für</strong> auf die Situation im Nachkriegsösterreich umgelegt<br />

werden:<br />

66 Vgl. Donnenberg, Josef: Heimatliteratur in Österreich nach 1945 – rehabilitiert oder antiquiert?<br />

In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der<br />

österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989, S. 39 – 68, S. 41 – 42.<br />

67 A. a. O., S. 51.


Nach 1945 war es die heimatliche, private Idylle, aus der die Spuren<br />

des durch Deutsche [beziehungsweise Österreicher, Anm. d. Verf.]<br />

geschehenen ´Un-Heimlichen` weitgehend getilgt waren und in der<br />

die Kriegsaufbaugeneration Zuflucht suchte und fand. Die Betriebsamkeit<br />

des wirtschaftlichen Wiederaufbaus richtete sich gegen die<br />

psychisch belastende Aufarbeitung des Dritten Reichs. Große Teile<br />

der Nachkriegsgeneration flüchteten sich in die [...] Heimatfilme [...]<br />

in denen Heimat als von sozialen, historischen und ideologischpolitischen<br />

Konflikten unberührt bewahrt wurde. 68<br />

In den Nachkriegsjahren wurden etliche Werke ehemals nationalsozialistischer<br />

Schriftsteller neu aufgelegt, Beispiele <strong>für</strong> diese „Holzwegliteratur“ 69 wären etwa<br />

Karl-Heinrich Waggerl, Josef Weinheber oder Georg Oberkofler. Waggerl,<br />

schon 1934 erster Preisträger des Staatspreises <strong>für</strong> Literatur, avancierte zu einem<br />

der erfolgreichsten und populärsten Schriftsteller der Nachkriegszeit. Seine<br />

singuläre Stellung im österreichschen Literaturbetrieb skizziert Zier sehr treffend:<br />

[E]in Mann, [...] der heute längst als Säulenheiliger der Verklärungsindustrie<br />

etabliert ist, der in Kitsch-Großveranstaltungen zur Vorweihnachtszeit<br />

das Harmoniebedürfnis braver Mittelstandsalphabeten<br />

in Heile-Welt-Inszenierungen auszubeuten verstand, mit schmalen<br />

Büchern mehreren Lehrergenerationen als Weiser aus der Westentasche<br />

diente, von betulichen Tanten reflexartig beim ersten<br />

Schneefall <strong>für</strong> gefährdete Neffen und Nichten erstandene Erbauungsliteratur<br />

produzierte, und der einer der wenigen wirklichen Longseller-Autoren<br />

der österreichischen Literatur geworden ist. 70<br />

Die Belastetheit der Heimatdichter tat deren Beliebtheit keinen Abbruch, seitens<br />

der konservativen Kulturpolitik wurde unter dem Motto der Kontinuität versucht,<br />

diese Schriftsteller als Beispiele <strong>für</strong> innere Emigration zu legitimieren und zu re-<br />

habilitieren. 71<br />

68<br />

Strzelczyk 1999, S. 26.<br />

69<br />

Sebald, W. G.: Einleitung. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur.<br />

Salzburg: Residenz 1991, S. 11 – 16, S. 14.<br />

70<br />

Zier, O. P.: Region und Heimat, Widerstand und Widerstände. Literatur der „Europa-Sport-<br />

Region“. In: Literatur und Kritik 307/308 (1996), S. 37 – 43, S. 38.<br />

71<br />

Vgl. Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in<br />

der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991, S. 1 – 2.<br />

21


4.2 1960er & 1970er Jahre<br />

Bedingt durch die nationalsozialistische Vereinnahmung war der Heimatbegriff<br />

nach 1945 zwar ein belasteter, an einer Aufarbeitung war jedoch vorerst niemand<br />

interessiert, ganz im Gegenteil herrschte noch lange Zeit ein idyllisches,<br />

verklärendes Österreichbild in Literatur und Film vor. Der Heimatroman wurde<br />

von der literarischen Szene entkanonisiert und in die Schublade der Trivialliteratur<br />

abgeschoben, eine kritische Aufarbeitung der ideologischen Implikationen<br />

fand trotzdem oder gerade deswegen über einen längeren Zeitraum nicht statt.<br />

Die ersten Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung traten erst circa<br />

zwanzig Jahre nach Kriegsende zutage. Nachdem die Gattung der Heimatliteratur<br />

in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten in progressiven literarischen<br />

Kreisen nahezu keine Rolle gespielt hatte, konnte man nun langsam unter einer<br />

neuen Generation von Nachkriegsschriftstellern Tendenzen zur kreativen und<br />

kritischen Auseinandersetzung mit den Themen und Motiven der traditionellen<br />

Heimatliteratur bemerken. 72 Bis zum Aufkommen dieser Welle waren kritische<br />

Reflexionen über die Provinz und/oder die nationalsozialistische Vergangenheit<br />

äußerst dünn gesät. Als erster Anti-Heimatroman gilt Hans Leberts „Die Wolfshaut“<br />

aus dem Jahr 1960. In diesem Roman verdrehen sich zum ersten Mal die<br />

typischen Elemente des Heimatromans ins Negative, werden „die Kulissen gewendet“<br />

73 , der Blick auf das österreichische Heimatbild als „potemkinsche[n]<br />

Veranstaltung“ 74 frei. Das Dorf – im Heimatroman noch ein Hort der Geborgenheit<br />

– wird zu einem Ort des Unbehagens und des Verbrechens. An die Stelle<br />

der idyllischen Gegenwart treten die Schatten der Vergangenheit. Die Natur erweist<br />

sich als feindselig den Menschen gegenüber. Neben Lebert sind noch<br />

Thomas Bernhards „Frost“ (1963), Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) und<br />

Gerd Jonkes „Geometrischer Heimatroman“ (1969) als Anti-Heimatromane der<br />

sechziger Jahre zu nennen.<br />

72<br />

A. a. O., S. 4.<br />

73<br />

Zeyringer 2001, S. 167.<br />

74<br />

Sebald, W. G.: Damals vor Graz – Randbemerkungen zum Thema Literatur & Heimat. In:<br />

Görner, Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert.<br />

München: Iudicium 1992, S. 131 – 139, S. 132.<br />

22


Sieht man also von den oben erwähnten Werken ab, so dauert es bis zum Ende<br />

der 1960er Jahre, bis sich eine neue Herangehensweise an das Thema Heimat<br />

konstituiert. Für W. G. Sebald setzt eine Gruppe von Schriftstellern, die sich in<br />

Graz (Forum Stadtpark, gegründet 1959) formierte, eine wichtige Zäsur. Stilistisch<br />

äußerst heterogen, von experimentellen bis hin zu realistischen Erzähltechniken,<br />

geformt, war den Schriftstellern gemeinsam, dass sie der Nachkriegsgeneration<br />

angehörten und vorwiegend aus ländlichen Gebieten stammten.<br />

Diese Gruppe, als deren Vertreter Sebald unter anderem Peter Handke,<br />

Helmut Eisendle, Gert Jonke, Wolfgang Bauer oder Alfred Kolleritsch, den Begründer<br />

der 1960 gegründeten Zeitschrift „manuskripte“, nennt, erarbeitete „ein<br />

ästhetisches Programm, das den Österreich-Mythos desavouierte und die Heimat<br />

als eher unheimliche Gegend erscheinen ließ.“ 75<br />

Was davor an Heimat in der Literatur beschrieben wurde, entstammte einer<br />

Schreibtradition, welche die österreichische Heimat abseits jeder Kritik und<br />

Realität darstellte. Die Grazer Autoren betrieben die Durchbrechung des falschen<br />

Mythos vom österreichischen Vater- und Heimatland: „Der faschistische<br />

Terror war von Anfang an mit Familie und Heimat verbunden gewesen und dort,<br />

im sogenannten Schoß der Familie und in der heimatlichen Enge hielt er sich<br />

auch weit über seine Zeit hinaus.“ 76 Es ging den Autoren um eine Literatur, die<br />

den ländlichen Raum nicht mehr als Idylle darstellen wollte und alle Klischees<br />

der traditionellen Dorf- und Ländlichkeitsromantik drastisch demontierte. 77 Das<br />

Land als locus amoenus, als „Wunschbild“ wird vom „Schreckbild“ Land abgelöst.<br />

78 Österreich präsentierte sich diesen Autoren als eine Antiheimat, nur<br />

durch Schreiben schien ein Loskommen davon möglich. Wenn Sebald anmerkt,<br />

dass der alte Geist keineswegs ausgestorben ist „vielmehr ein ungeheuer zähes<br />

Nachleben noch führt in diesem harmlosen Land, das von denen, die es<br />

heute beschreiben, nicht umsonst immer wieder empfunden wird als ein Haus<br />

75<br />

Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132.<br />

76<br />

A. a. O., S. 135.<br />

77<br />

Vgl. Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur in Österreich. Zur literarischen Heimatwelle<br />

der siebziger Jahre. In: Modern Austrian Literature 15/2 (1982), S. 1 – 11, S. 1 – 2.<br />

78<br />

Vgl. Heydemann, Klaus: Jugend auf dem Lande. Zur Tradition des Heimatromans in Österreich.<br />

In: Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Traditionen in der neueren österreichischen Literatur.<br />

Zehn Vorträge. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1980, S. 83 – 97, S. 94.<br />

23


voller monströser Schrecken“ 79 , so bezieht er sich in erster Linie auf die Waldheim-Affäre<br />

im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes von 1986. Aber auch<br />

heute noch trifft diese Aussage zu, wenn man die politische Entwicklung Österreichs<br />

in den letzten Jahren betrachtet. Am rechten Rand der politischen Landschaft<br />

angesiedelte Parteien spielen nach wie vor eine nicht unwesentliche Rolle<br />

in der Politik, und nicht zuletzt zeigen die Reaktionen anlässlich des Todes<br />

von Kurt Waldheim im Juni 2006, wie gespalten das Verhältnis der Österreicherinnen<br />

und Österreicher zu ihrer Vergangenheit noch immer ist. Die ersten Anti-<br />

Heimatschriftsteller ebneten den Weg <strong>für</strong> eine nachfolgende intensive literarische<br />

Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit und Realität:<br />

„Erst durch das gnadenlose Aufdecken des unrealistischen Heimatbildes in der<br />

Literatur der Vergangenheit wurde es möglich, daß in den 80er Jahren jene literarische<br />

Welle einsetzen konnte, die sich auf eines der dunkelsten Kapitel der<br />

österreichischen Geschichte, den Nationalsozialismus, konzentrierte.“ 80 Die Liste<br />

der österreichischen Anti-Heimat-Dichter ist lang, als prominentestes Mitglied<br />

der Grazer Gruppe sei Peter Handke erwähnt. Nachdem er in den 1960er Jahren<br />

mit sprachkritischen Werken, wie etwa Kaspar (1968), erfolgreich <strong>für</strong> Aufsehen<br />

gesorgt hatte, war es sein Roman „Wunschloses Unglück“ (1972), der <strong>für</strong><br />

die Entwicklung der Anti-Heimatliteratur von großer Bedeutung wurde. Oft auch<br />

unter der Bezeichnung „Neue Innerlichkeit“ oder „Neue Subjektivität“ kategorisiert,<br />

ebnete er den Weg <strong>für</strong> Schriftsteller wie Franz Innerhofer oder Gernot<br />

Wolfgruber, welche zugleich als die wichtigsten Vertreter der Anti-<br />

Heimatliteratur gelten. Speziell auf Innerhofer übte „Wunschloses Unglück“ großen<br />

Einfluss aus. 81<br />

79<br />

A. a. O., S. 134.<br />

80<br />

Ziegler, Wanda: Heimat in der Krise. Der Versuch einer interdisziplinären Annäherung an den<br />

"Heimat"-Begriff mit dem Schwerpunkt: "Salzburger Heimatliteratur". Salzburg: phil. Dipl. 1995,<br />

S. 193.<br />

81<br />

Vgl. Frank, Peter R.: Heimatromane von unten – einige Gedanken zum Werk Franz Innerhofers.<br />

In: Modern Austrian Literature 13/1 (1980), S. 163 – 175, S. 165.<br />

24


4.3 Definitionen von Anti-Heimatliteratur<br />

Heimat wurde wieder zu einem aktuellen Thema in der deutschsprachigen Literatur,<br />

auch in Österreich, wo von Anfang an eine klare Abgrenzung von herkömmlichen<br />

Zugängen vorhanden war. Eine der gängigsten Definitionen von<br />

Anti-Heimatliteratur stammt von Jürgen Koppensteiner:<br />

Als Anti-Heimatliteratur ist jene Heimatliteratur zu verstehen, in der<br />

man zwar wohl die Gestalten und Requisiten der traditionellen, oft<br />

sentimental-kitschigen Heimatliteratur findet, also Bauern, Knechte<br />

und Mägde, den Bauernhof, das abgelegene Tal, Berge, Bäche, den<br />

Wald usw., die aber keine Heimatbezüge im traditionellen Sinn aufweist.<br />

Es geht also nicht um die Liebe zur Heimat, um die Harmonie<br />

des ländlichen Lebens, um Brauchtum oder um Abwehr einer feindlichen,<br />

meist städtischen Gegenwelt. Anti-Heimatliteratur will vielmehr<br />

negative Zustände in der Heimat, im ländlich-bäuerlichen Milieu aufdecken.<br />

Sie richtet sich dabei keineswegs gegen Heimat; sie setzt<br />

nur einen anderen Heimatbegriff voraus. 82<br />

Diese Definition geht von einem sehr engen Gestaltungsspielraum aus. Streng<br />

genommen dürfte beispielsweise nicht einmal Franz Innerhofers zweiter Roman<br />

„Schattseite“ als Anti-Heimatroman bezeichnet werden, ganz zu schweigen vom<br />

Werk Gernot Wolfgrubers, das durchwegs im kleinstädtischen Milieu angesiedelt<br />

ist. Koppensteiners Definition wird von Andrea Kunne grundsätzlich akzeptiert,<br />

da sie in ihrem Konzept ebenfalls eine sehr rigide Auffassung von Anti-<br />

Heimatliteratur vertritt. Sie spricht in ihrer Darstellung des transformierten Heimatromans<br />

von der dritten Phase der Heimatliteratur. Durch die innovierende<br />

Funktion der Verfremdung des Tradierten, Umfunktionierung bekannter Formen<br />

und Hinzufügung neuer Elemente wird eine Erneuerung des Genres bewirkt.<br />

Kunne unterscheidet dabei zwischen zwei unterschiedlichen Ansätzen: eine gesellschaftskritische,<br />

realistische Darstellungsweise auf der einen, sowie eine<br />

experimentell-postmodernistische und antinarrativ ausgerichtete Variante auf<br />

der anderen Seite. 83<br />

82<br />

Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers<br />

Roman „Schöne Tage“. In: Die Unterrichtspraxis 14 (1981), S. 9 – 19, S. 10.<br />

83<br />

Vgl. Kunne 1991, S. 12 – 16.<br />

25


Problematisch an Kunnes Ansatz sind die sehr eng gefassten Auswahlkriterien<br />

und die teilweise willkürlich erscheinende Selektion der Werke, die sie als <strong>für</strong> ihr<br />

Konzept kompatibel erachtet. Das Konzept des transformierten Heimatromans<br />

exkludiert einen Großteil der gemeinhin unter der Bezeichnung Anti-Heimat-<br />

Literatur bezeichneten Werke. 84<br />

26<br />

4.4 Von Anti-Heimatliteratur zu Anti-Heimat-Literatur<br />

Franz Innerhofer und die nachfolgenden Autoren präsentierten ihre Werke auch<br />

zum richtigen Zeitpunkt. Wesentliche Veränderungen im Bereich des Agrarsektors<br />

(Motorisierung, Infrastrukturausbau, etc.) und damit einhergehende soziale<br />

Umschichtung beziehungsweise ein Aufbrechen althergebrachter Strukturen,<br />

sowie ein verstärktes Interesse des Kulturmarktes am Landleben waren ausschlaggebend<br />

<strong>für</strong> eine intensivere Beschäftigung mit dem Leben in ländlichen<br />

Gebieten: „In einem nunmehr ungefährlich scheinenden Rückblick konnte man<br />

sich im Entsetzen über das Gewesene mit dem ruhigen Gewissen der kritischen<br />

Ansicht ausbreiten und in der anheimelnden Gewißheit zurücklehnen, daß in<br />

den jetzigen ´modernen Zeiten` ja alles besser sei...“ 85<br />

In den 1970er Jahren feierte die Anti-Heimatliteratur ihre größten Erfolge und<br />

wurde auch außerhalb Österreichs begeistert rezipiert. Wie jede literarische<br />

Strömung nach einiger Zeit in Frage gestellt wird, musste sich auch die Anti-<br />

Heimatliteratur Kritik gefallen lassen. 1982 spricht Koppensteiner vom Tod des<br />

Genres:<br />

Vom Thema her – das läßt sich schon jetzt sagen – hat sich die Anti-<br />

Heimatliteratur totgelaufen. [...] Letzten Endes sind die Autoren denselben<br />

Fehlern verfallen, die sie der traditionellen Heimatliteratur<br />

vorwerfen. Sie operieren nämlich im Grunde genauso mit Klischees,<br />

wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. 86<br />

84 Zur Kritik an Kunnes Modell vgl. Aspetsberger, Friedbert: Unmaßgebliche Anmerkungen zur<br />

Einschränkung des literaturwissenschaftlichen „Heimat“-Begriffs. In: Plener, Peter/Zalan, Peter<br />

(Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität.<br />

Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997, S. 53 – 85, S. 55 – 57.<br />

85 Zeyringer 2001, S. 165.<br />

86 Koppensteiner, in: Modern Austrian Literature 15/2 (1982), S. 8.


Ein ähnliches Urteil fällt Karl-Markus Gauß:<br />

Die ´Antiheimatliteratur`, der die neue österreichische Prosa von<br />

Hans Lebert bis Franz Innerhofer einige ihrer besten Werke verdankt,<br />

hat die heile Welt als würgende Enge, als Zwangsordnung<br />

kenntlich gemacht. Mittlerweile aber ist die Antiheimatliteratur längst<br />

selbst zur literarischen Lüge verkommen, ein anspruchslos ins Leere<br />

surrender Mechanismus, der dem alten Kitsch der Verklärung nur mit<br />

dem schwarzen Kitsch der Denunziation zu begegnen weiß. 87<br />

Diese Aussagen sollten nicht unwidersprochen stehen gelassen werden. Definiert<br />

man Anti-Heimatliteratur so, wie es Koppensteiner getan hat, dann mag<br />

seine Behauptung zutreffen, da eine derart eng gefasste Klassifizierung zum<br />

einen keinen Spielraum <strong>für</strong> Variationen lässt und zum anderen den geänderten<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen nicht Rechnung trägt. Die Anti-Heimatliteratur<br />

erweiterte ihren Spielraum. Anti-Heimatromane der letzten beiden Jahrzehnte<br />

des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart thematisieren Fragen wie Umwelt,<br />

Tourismus, Ausverkauf der Heimat oder Rassismus und haben sich dementsprechend<br />

hinsichtlich ihrer Vielfalt weiterentwickelt. Sowohl Koppensteiner als<br />

auch Gauß gehen von einer veralteten Begriffsbestimmung beziehungsweise<br />

unterschiedlichen Definitionen, aus. Anti-Heimat-Literatur wie sie etwa Robert<br />

Menasse versteht, behandelt mehr als Bauern und deren Gesinde. An dieser<br />

Stelle scheint es an der Zeit, auf das Definitionsproblem der Anti-Heimatliteratur<br />

einzugehen.<br />

Mit dem Erscheinen von Franz Innerhofers „Schöne Tage“ (1974) beginnt der<br />

Hype um die Anti-Heimatliteratur. Andere Bezeichnungen <strong>für</strong> dieses Genre gibt<br />

es etliche, so manche Literaturwissenschafter und -kritiker haben eigene Termini<br />

entwickelt. Walter Weiss etwa spricht vom „problematisierte[n] Heimatroman“<br />

88 , Schmidt-Dengler von der „Anti-Idylle“ 89 , Mecklenburg unterscheidet,<br />

nicht ganz nachvollziehbar, „Anti-Heimatliteratur“ und „radikale Anti-<br />

87<br />

Gauß, Karl-Markus: Der Rand in der Mitte: Die Chronik einer Heimat. In: Die Zeit (Sonderbeilage<br />

Literatur) 4.10.1996, S. 12.<br />

88<br />

Weiss, Walter: Zwischenbilanz. In: Schmid, Sigrid/Weiss, Walter (Hg.): Zwischenbilanz. Eine<br />

Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Salzburg: Residenz 1976, S. 11 – 32, S. 24.<br />

89<br />

Schmidt-Dengler, Wendelin: Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der<br />

neueren österreichischen Prosa. In: Literatur und Kritik 40 (1969), S. 577 – 585, S. 577.<br />

27


Heimatliteratur“. 90 Solms verweist auf die mögliche unterschiedliche Schreibweise<br />

mit einem oder zwei Bindestrichen:<br />

´Anti Bindestrich Heimat Bindestrich Literatur`: das wäre nach meinem<br />

Wortverständnis eine Literatur, die gegen das Heimatgefühl<br />

oder die Sehnsucht nach Heimat gerichtet ist. [...] ´Anti Bindestrich<br />

Heimatliteratur in einem Wort`: das wäre eine Literatur, die sich nicht<br />

gegen Heimat, sondern gegen die traditionelle Heimatliteratur wendet<br />

und die damit womöglich zu einem neuen Verhältnis zur<br />

Heimat beiträgt. 91<br />

Anti-Heimatliteratur knüpft in ihren Stoffen an die traditionelle Heimatliteratur an,<br />

die Tendenz ist jedoch entgegengesetzt. Im Gegensatz zur Heimatliteratur, die<br />

sich bis zu heutigen Zeit nur wenig bis gar nicht weiterentwickelt hat, lässt sich<br />

im Bereich der Anti-Heimatliteratur eine kontinuierliche Themenexpansion feststellen.<br />

Dies macht die Definition á la Koppensteiner obsolet. Robert Menasse<br />

hat sich intensiv mit der österreichischen Anti-Heimatliteratur beziehungsweise<br />

Anti-Heimat-Literatur auseinandergesetzt und dazu ein neues Konzept entwickelt.<br />

4.5 Österreich – Anti-Heimat par excellence<br />

„Österreich ist eine Nation, aber keine Heimat.“ 92 Diese These untermauert Robert<br />

Menasse mit der Erwähnung einer empirischen Studie, die den Österreicherinnen<br />

und Österreichern zwar ein sehr großes Nationalgefühl, im Gegensatz<br />

dazu aber überraschenderweise sehr geringes kollektives Identitätsgefühl<br />

bescheinigt. Zwar haben die Österreicherinnen und Österreicher ein durchwegs<br />

starkes Nationenbewusstsein entwickelt, allerdings<br />

90<br />

Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München:<br />

Iudicium 1986, S. 66 – 67.<br />

91<br />

Solms, Wilhelm: Zum Wandel der „Anti-Heimatliteratur“. In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen<br />

und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern:<br />

Peter Lang 1989, S. 173 – 189, S. 173.<br />

92<br />

Menasse, Robert: Das Land ohne Eigenschaften. Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ihrem<br />

Verschwinden. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.<br />

Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 29 – 120, S.<br />

94.<br />

28


ohne all die realen Konsequenzen, die ein entwickeltes, positiv besetztes<br />

Nationalgefühl gemeinhin hat: Es ist offenbar historisch zu<br />

jung, inhaltlich zu dürftig, insgesamt zu abstrakt, als daß es Identität,<br />

Geborgenheit, Heimatgefühl vermitteln und verwurzeln hätte können.<br />

Die Meinungsumfragen zeigen daher auch, daß, außer der abstrakten<br />

Angabe der eigenen Nationalität, keiner verbindlich zu sagen<br />

weiß, was Heimat ist. 93<br />

Menasse sieht diese Besonderheit in der wechselvollen Geschichte des Landes,<br />

das als Großmacht unter der Herrschaft des Kaisers, als Bestandteil des<br />

Deutschen Reiches und als kleine, unbedeutende, am Verhandlungstisch entstandene<br />

Republik innerhalb kurzer Zeit mehrmals seine Identität wechseln<br />

musste, begründet:<br />

Diese Widersprüche haben sicherlich damit zu tun, daß das österreichische<br />

Nationalgefühl kein über längere Zeit historisch gewachsenes<br />

ist, sondern, wie wir bereits gesehen haben, erst sehr spät und<br />

dann sehr forciert durchgesetzt wurde. Es ist daher extrem arm an<br />

konkreten und eindeutig bewußten inhaltlichen Bestimmungen: die<br />

beiden einzigen sind wesentlich der Staatsvertrags- und der Neutralitätsmythos,<br />

die ja die einzigen integrativen und identitätsstiftenden<br />

Erfolgserlebnisse von vier Generationen von Österreichern sind. 94<br />

Nun wäre einzuwenden, dass die Entwicklung von regionaler Identität und positivem<br />

Heimatgefühl nicht notwendigerweise mit von institutioneller oder staatlicher<br />

Seite propagierten Ideologien zusammenhängt. Gerade <strong>für</strong> Österreich<br />

konstatiert Menasse jedoch eine Entwicklung, die „eine genuine, selbstverständliche,<br />

gewissermaßen ´automatische` Entfaltung von Heimatgefühlen<br />

zerstörte.“ 95<br />

Heimat war problematisch geworden nach 1945, denn das neue, wieder aufgebaute<br />

Österreich hatte mit dem alten nur wenig gemeinsam, der einsetzende<br />

Wirtschaftsaufschwung in Zuge des Marshall-Plans und die damit verbundene<br />

Transformation von einer Agrar- in eine Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft,<br />

ließen keinen Platz <strong>für</strong> eine Identifikation mit der Heimat. Hinzu kam die<br />

drückende Kriegsschuld, denn auch wenn sich Österreich gern als Opfer Hitler-<br />

93 A. a. O., S. 95 – 96.<br />

94 A. a. O., S. 95.<br />

95 A. a. O., S. 96.<br />

29


deutschlands sieht, so steht doch längst außer Frage, dass die österreichische<br />

Bevölkerung in nicht unbeträchtlichem Ausmaß an den Verbrechen des Zweiten<br />

Weltkrieges beteiligt war. Verdrängung der Vergangenheit, der eigenen wie der<br />

kollektiven, war also angesagt. Die Schatten des Nationalsozialismus reichten<br />

tief in die ländlichen Gebiete hinein. Man war zu sehr damit beschäftigt die eigenen<br />

Identitäten zu verschleiern oder zu wechseln, als dass man sich mit dem<br />

Aufbau von Heimatgefühlen beschäftigen konnte. Österreich war ein Staat auf<br />

der Landkarte, zustande gekommen am Verhandlungstisch, aber als Heimat tabuisiert.<br />

Anschließend daran setzte die, schon nach dem Anschluss 1938 begonnene,<br />

Vermarktung des Landes als Tourismusregion voll ein, Heimat wurde<br />

zu einer „Event-Landschaft“ 96 . Zwar brachte der Tourismus Wohlstand in bis dato<br />

rückständige Regionen, zerstörte aber vollends die Identität der dort lebenden<br />

Menschen. 97<br />

In literarischer Hinsicht fehlten der österreichischen Generation von Nachkriegsschriftstellern<br />

die Vorbilder. Viele von Österreichs renommiertesten Namen<br />

waren im Exil verstorben (Robert Musil, Franz Werfel) oder kehrten nach<br />

Kriegsende nicht mehr nach Österreich zurück (Hermann Broch, Elias Canetti).<br />

<strong>Institut</strong>ionen und Autoren wie die Gruppe 47 oder Wolfgang Borchert in<br />

Deutschland gab es im Nachkriegsösterreich nicht. 98 Angesichts dieser Entwicklungen<br />

scheint es <strong>für</strong> Menasse nur logisch, dass „in Österreich mit der sogenannten<br />

´Anti-Heimat-Literatur` eine im internationalen Vergleich völlig eigenständige,<br />

neue literarische Gattung entstanden ist: Österreich ist die Anti-<br />

Heimat par excellence.“ 99<br />

Menasse ist der erste, welcher der österreichischen Anti-Heimat-Literatur den<br />

höchsten Stellenwert einräumt: „Aber die Anti-Heimat-Literatur ist nicht nur eine<br />

eigenständige österreichische Gattung, sie ist vor allem auch die wichtigste, die<br />

dominanteste Form der Literatur in der Zweiten Republik.“ 100<br />

96<br />

Aspetsberger, in: Plener/Zalan (Hg.) 1997, S. 65.<br />

97<br />

Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 94 – 101.<br />

98<br />

Vgl. Olson, Michael P.: Robert Menasse`s Concept of Anti-Heimat Literature. In: Daviau,<br />

Donald G. (Hg.): Austria in Literature. Riverside: Ariadne Press 2000, S. 153 – 165, S. 155 –<br />

156.<br />

99<br />

Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />

100<br />

A. a. O.<br />

30


Schon W. G. Sebald stellte fest, dass „die Beschäftigung mit der Heimat über<br />

alle historischen Einbrüche hinweg geradezu eine der charakteristischen Konstanten<br />

der ansonsten schwer definierbaren österreichischen Literatur ausmacht.“<br />

101 Menasse konkretisiert diese These, indem er die negative Beschreibung<br />

der Heimat als Merkmal der wichtigsten österreichischen Gattung hervorhebt.<br />

Auch Meyer-Sickendiek äußert sich ähnlich:<br />

...so dürfte es in der Tat schwer fallen, eine vergleichbare Akkumulierung<br />

düsterer, schrecklicher und grausamer Phantasien in anderen<br />

´Nationalliteraturen` auszumachen. [...] Die Identifikation der österreichischen<br />

Heimat als einer beklemmenden Atmosphäre latenter<br />

Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß<br />

und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische<br />

Gesinnung [...] ist [...] das relativ konstant bleibende Thema<br />

dieser Anti-Heimatromane. 102<br />

Die Darstellung des Ländlichen und Dörflichen steht im Zentrum der österreichischen<br />

Literatur nach 1945. Den Unterschied zu anderen Nationalliteraturen<br />

ortet Menasse in der Tendenz der Darstellung:<br />

Realistische Beschreibungen des dörflichen und ländlichen Lebens<br />

in bestimmten Regionen, abseits trivialer Klischees und verlogener<br />

Idyllen, gibt es natürlich auch in der Weltliteratur – allerdings mit dem<br />

Unterschied, daß diese Literatur ein nicht nur realistisches, sondern<br />

am Ende auch wesentlich ein positives Bild der beschriebenen Heimat<br />

evoziert. 103<br />

Er nennt auch die wichtigsten Österreicher, die seiner Ansicht nach die Gattung<br />

herausgebildet und weiterentwickelt haben: Hans Lebert, Gerhard Fritsch, Peter<br />

Handke, Thomas Bernhard, Gert Jonke, Alfred Kolleritsch, Alois Brandstetter,<br />

Gernot Wolfgruber, Max Maetz, Peter Turrini, Elfriede Jelinek, Marie-Thérèse<br />

Kerschbaumer, Wilhelm Pevny, Michael Scharang, Franz Innerhofer, Norbert<br />

Gstrein, Klaus Hoffer, Josef Winkler und Marianne Gruber. 104 Diesen 19 Namen<br />

wären natürlich noch etliche andere hinzuzufügen, darunter auch Menasse<br />

selbst, wie noch zu sehen sein wird.<br />

101 Sebald, in: Ders. 1991, S. 11.<br />

102 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen eines<br />

Phantasmas der 80er. In: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31.7.2007.<br />

103 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />

104 Vgl. Menasse, in: Ders. 2005, S. 101.<br />

31


Menasse unterscheidet drei Phasen der Anti-Heimat-Literatur: als erste Phase<br />

benennt er jene der Konstituierung der Gattung, wobei vor allem der Bezug auf<br />

die nationalsozialistische Vergangenheit im Vordergrund steht. Hans Lebert und<br />

Gerhard Fritsch werden hier genannt. Danach schreiben jüngere Autoren, meist<br />

ohne eigene Kriegserfahrungen, über den Alltagsfaschismus in der Provinz.<br />

Wenn auch dabei nicht direkt auf die nationalsozialistische Vergangenheit rekurriert<br />

wird, so schildern Autoren wie Franz Innerhofer oder Gernot Wolfgruber<br />

doch auch die Kontinuität althergebrachter Strukturen. Als letzte Phase<br />

sieht Menasse die Thematisierung des touristischen Ausverkaufs und die groteske<br />

Verlogenheit der Fremdenverkehrswelt, wie sie etwa von Elfriede Jelinek<br />

(„Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr“, 1985) oder Norbert Gstrein („Einer“, 1988) beschrieben<br />

wird. 105<br />

Ein letztes Mal sei noch Menasse zitiert, der noch einmal erklärt, warum Österreich<br />

die mustergültige Anti-Heimat ist und welchen Beitrag die Literatur dabei<br />

leistet:<br />

32<br />

In der österreichischen Literatur ist es aber so, daß jede Destruktion<br />

von Klischees und Idyllen sofort zur völligen Destruktion jeglichen<br />

positiv besetzten Heimatgefühls führt: Werden die Kulissen der Heimat,<br />

weil man in ihnen nicht zu Hause sein kann, zerstört, dann ist<br />

überhaupt nichts mehr da, worin man sich heimisch fühlen könnte.<br />

[…] Das Beste, was die Literatur der Zweiten Republik hervorgebracht<br />

hat, beschäftigt sich mit dem Desaster der Provinz, auf eine<br />

Weise, daß wir über den Entwicklungsbogen von der Nazi-Zeit bis<br />

zum zerstörerischen Massentourismus der heutigen Tage von dieser<br />

Literatur anschaulicher informiert werden, als es der dürren Abstraktheit<br />

soziologischer Untersuchungen möglich ist. 106<br />

Robert Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur ist wesentlich weiter gefasst<br />

als ältere Beiträge zu diesem Thema, etwa von Koppensteiner oder Kunne.<br />

Menasse entwickelt aufbauend auf historischen und gegenwärtigen Besonderheiten<br />

das Bild einer Nation ohne Heimat. Als Nationalliteratur definiert er<br />

eben jene Werke die sich mit dieser nicht vorhandenen Heimat, der Anti-<br />

Heimat, auseinandersetzen. Diese Anti-Heimat ist <strong>für</strong> Menasse nicht auf den<br />

105 A. a. O., S. 102 – 103.<br />

106 Menasse, in: Ders. 2005, S. 101 – 102.


ländlich-dörflichen Raum beschränkt, sondern umfasst im Wesentlichen das<br />

gesamte Staatsgebiet mit Ausnahme Wiens als einziger echter Großstadt. Dieses<br />

„flache Land“ – Menasse übernimmt dabei eine abwertende Bezeichnung<br />

der Großstädter <strong>für</strong> die Provinz – ist der Schauplatz <strong>für</strong> die bedeutendsten österreichischen<br />

Anti-Heimat-Romane. 107<br />

So wie sich die österreichische politische und gesellschaftliche Landschaft über<br />

die Jahrzehnte verändert hat, so veränderte sich auch die inhaltliche Form der<br />

Anti-Heimat-Romane. Trotzdem überwiegen die Gemeinsamkeiten, die Schilderung<br />

einer Existenz als Leibeigener auf Hof 48 wie bei Franz Innerhofer unterscheidet<br />

sich bei näherer Betrachtung nicht so sehr von der Beschreibung einer<br />

gescheiterten Existenz in einem Tiroler Fremdenverkehrsort etwa bei Norbert<br />

Gstrein. Die Strukturen, die den jeweiligen Sozialsystemen zugrunde liegen,<br />

sind dieselben. Gemeinsam haben die österreichischen Anti-Heimat-Romane<br />

die Kritik an Österreich, den Versuch die festgefahrenen Strukturen offen zu legen<br />

und den Blick hinter die Kulissen freizumachen. Wenn man mit Menasse<br />

von Österreich als einer Anti-Heimat sprechen kann, dann muss die Anti-<br />

Heimat-Literatur in gewisser Weise als die österreichische Nationalliteratur bezeichnet<br />

werden. Im Gegensatz zu Stimmen, die den Tod der Anti-Heimat-<br />

Literatur verkündet und diese als eine Ansammlung von Klischees charakterisiert<br />

haben, erkennt Menasse, dass es nicht um eine bloße Darstellung von negativen<br />

Tatsachen geht, ohne Alternativen aufzuzeigen:<br />

Austria`s problem, Menasse summarizes, is ultimately the complete<br />

destruction of its authenticity. The project of Menasse and likeminded<br />

Austrians is to render and reflect these realities, all the while<br />

striving for Sein […] and not Schein […] for naturalness and not façade<br />

– in short to bring Austria back into Austrian Literature and in so<br />

doing, to depict the protagonists and experiences with which readers<br />

everywhere can empathize. 108<br />

Die Leistung Menasses besteht darin, ein äußerst umfassendes Konzept der<br />

österreichischen Anti-Heimat-Literatur unter Einbeziehung geschichtlicher, politischer<br />

und gesellschaftlicher Gegeben- und Besonderheiten vorgelegt zu haben.<br />

Durch seine Thesen erhält die österreichische Anti-Heimat-Literatur jenen<br />

107 Vgl. Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 158.<br />

108 Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162.<br />

33


Stellenwert zurück, der ihr schon aberkannt wurde – „to render and reflect these<br />

realities […] to bring Austria back into Austrian Literature“, und somit Österreich<br />

mit Hilfe der Literatur wieder zu einer Heimat zu machen, diesen Anspruch stellt<br />

Menasse an die Literatur.<br />

Die Bezeichnung „Anti-Heimat-Literatur“ wird ab nun durchgehend verwendet.<br />

Dies bedarf einer Begründung: natürlich kann Koppensteiner Recht gegeben<br />

werden, wenn er feststellt, dass die Anti-Heimatliteratur als Antithese zur konventionellen<br />

Heimatliteratur gesehen werden muss. Menasses Anti-Heimat-<br />

Begriff umfasst selbstverständlich auch den in älteren Beiträgen verwendeten<br />

Terminus. Darüber hinaus inkludiert Menasses Definition jedoch auch jene<br />

Werke neueren Datums, die von engen und veralteten Definitionen nicht erfasst<br />

werden. Während eine Definition wie jene von Koppensteiner, hauptsächlich auf<br />

literarischen Vergleichen, nämlich der Gegenüberstellung zur traditionellen<br />

Heimatliteratur, beruht, erweist sich Menasses Konzept durch Analyse gesellschaftlicher,<br />

politischer und geschichtlicher Faktoren als wesentlich fundierter.<br />

Anti-Heimatliteratur umfasst nicht das gesamte Gebiet der österreichischen Anti-Heimat-Literatur.<br />

Als Abschluss des theoretischen Teils soll nun noch auf das Heimkehrmotiv,<br />

dessen Analyse im Zentrum der Arbeit stehen wird, eingegangen werden.<br />

5 Überlegungen zum Heimkehrmotiv<br />

5.1 Exkurs: Funktion von Motiven <strong>für</strong> die Literatur<br />

Gleich zu Beginn erscheint es notwendig, ein paar Worte über die Verwendung<br />

von Motiven in der Literatur zu verlieren.<br />

Schon die etymologische Herleitung vom lateinischen „movere“ verweist auf die<br />

Funktion, zu begründen, zu bewegen und Relationen herzustellen. 109 Ein Motiv<br />

109<br />

Vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Ein<br />

Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke 1995, S. XVI.<br />

34


kann definiert werden als „[k]leinste selbständige Inhalts-Einheit oder tradierbares<br />

intertextuelles Element eines literarischen Werks.“ 110 Beller bezeichnet das<br />

Motiv kurz und prägnant als „eine die epische oder dramatische Handlung auslösende<br />

Situation.“ 111 Motive können auf inhaltlicher Ebene unterteilt werden in<br />

Situations-, Typus-, sowie Raum- und Zeitmotive. Formal lässt sich eine Unterteilung<br />

in Kernmotive, die einem Text den Zusammenhalt geben, Rahmenmotive,<br />

die die Textstruktur erweitern und Füllmotive, die nicht fest mit dem Stoff<br />

verbunden sind, vornehmen. 112 Tritt ein Motiv mehrfach in einem Text in gliedernder<br />

und akzentuierender Weise auf, so spricht man von einem Leitmotiv,<br />

dieses muss aber nicht notwendigerweise identisch mit dem vorherrschenden<br />

Motiv im Text sein. 113 Das Motiv ist ein inhaltsbezogenes Schema, das nicht an<br />

einen historischen Kontext gebunden ist. Dadurch ist es <strong>für</strong> die Gestaltung von<br />

Ort, Zeit und Figuren frei verfügbar. Durch diese Ungebundenheit grenzt sich<br />

das Motiv von anderen Kategorien des Inhalts, wie etwa dem Stoff oder dem<br />

Thema ab. Der Stoff definiert sich dadurch, dass er aus einem komplexeren<br />

Sinnzusammenhang besteht, der durch zeitliche, räumliche und personale Faktoren<br />

festgelegt ist. Vom Thema grenzt sich das Motiv durch einen höheren<br />

Grad an Konkretheit ab. Ein und dasselbe Motiv kann verschiedenen Stoffen<br />

angehören und auch mehrfach beziehungsweise in Verbindung mit anderen<br />

Motiven in einem Werk auftreten. 114<br />

Es ist daher angebracht, Motive nicht nur als Inhalte und Bedeutungen zu verstehen,<br />

sondern auch als strukturierte und strukturgebende Einheiten, die in<br />

vielfältigen kulturgeschichtlichen Verflechtungen stehen und den Kunstcharakter<br />

der Literatur wesentlich mitbestimmen. 115 Besondere Bedeutung kommt Motiven<br />

zu, wenn man die historische Komponente berücksichtigt. Das Motiv kann,<br />

auch wenn es aus dem konkreten Textzusammenhang herausgelöst ist, in der<br />

110<br />

Drux, Rudolf: Motiv. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />

Band 3. Berlin: de Gruyter 2000, S. 638 – 641, S. 638.<br />

111<br />

Beller, Manfred: Stoff, Motiv, Thema. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörg (Hg.): Literaturwissenschaft.<br />

Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2004, S. 30 – 39, S. 32.<br />

112<br />

Vgl. Weidhase, Helmut: Motiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon.<br />

Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990,<br />

S. 312.<br />

113<br />

Vgl. Schönhaar, Rainer: Leitmotiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle Irmgard (Hg.): Metzler<br />

Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung<br />

1990, S. 264.<br />

114<br />

Vgl. Drux, in: Fricke (Hg.) 2000, S. 638.<br />

115<br />

Vgl. Beller, in: Brackert/Stückrath (Hg.) 2004, S. 36.<br />

35


Tradition weiter bestehen. Das Motiv besteht nicht nur als Einzelelement, sondern<br />

auch als in sich schlüssiges Relationsfeld, in der Überlieferung fort. Motive<br />

werden im kollektiven Gedächtnis der Rezipienten aufbewahrt und können dadurch<br />

zu jeder Zeit neu belebt werden. Dieses, die Zeiten überdauernde, Fortbestehen<br />

von Motiven im Gedächtnis der Menschen begründet sich auch dadurch,<br />

dass Motive auf sehr anschauliche und präzise Weise typische menschliche<br />

Verhaltensmuster oder Situationen darstellen. Bei Motiven handelt es sich<br />

also um schematische Muster von (arche)typischen Eigenschaften und wiederkehrenden<br />

Situationen im menschlichen Leben. Ein Motiv weckt im Rezipienten<br />

die Erinnerung an eine bekannte Situation oder Verhaltensweise, im Zuge des<br />

Rezeptionsprozesses erfolgt eine Neubewertung, die gespeichert und auf diese<br />

Weise weitergegeben wird. 116 Jedes Motiv besitzt also im kollektiven Gedächtnis<br />

der Menschheit eine schematische Repräsentation, die durch fortlaufende<br />

Verwendung im Laufe der Zeit neu bewertet, modifiziert und abgespeichert<br />

wird. Motive können charakteristisch <strong>für</strong> das Werk einzelner Autoren oder Epochen<br />

sein, dieselben Motive kommen aber auch in unterschiedlichen Sprachräumen<br />

parallel vor. Deshalb ist die Motivforschung auch zu einem wichtigen<br />

Arbeitsfeld komparatistischer Studien avanciert. Diese, die Kulturen übergreifende,<br />

Präsenz von Motiven ist ein weiterer Beweis <strong>für</strong> die Repräsentation existentieller,<br />

kollektiver Vorstellungen und Verhaltensweisen. 117<br />

Darüber hinaus lassen sich in Anlehnung an die Typologie von Daemmrich/<br />

Daemmrich 118 folgende wichtige erzähltechnische Funktionen von Motiven feststellen:<br />

36<br />

o Schaltfunktion: im chronologischen Aufbau eines Textes treten Motive an<br />

Gelenksstellen auf und steuern die Informationsverarbeitung im Wahrnehmungsvorgang.<br />

Sie gewährleisten die Übertragung der Information<br />

von einer Schicht beziehungsweise von einer Bedeutungsebene zur<br />

nächsten. Somit sind Motive linear im Text geordnet und auch als Schalter<br />

auf der Achse der Sinngehalte verteilt.<br />

116<br />

Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. XV – XVI.<br />

117<br />

A. a. O., S. XI – XII.<br />

118<br />

A. a. O., S. XVIII – XX.


o Spannungsfunktion: Motive sind leicht fassbar und beleuchten in konzentrierter<br />

Funktion komplizierte Situationen und Verhaltensweisen. In<br />

Verknüpfung mit anderen Figuren, Situationen oder Themen beziehungsweise<br />

gegensätzlichen Motiven sind sie jedoch auch verantwortlich<br />

<strong>für</strong> den Aufbau eines Spannungsbogens. Es entstehen Erwartungen, die<br />

eine intensivere geistige Auseinandersetzung mit dem Werk bewirken.<br />

o Schemafunktion: da Motive als Muster im kollektiven Gedächtnis repräsentiert<br />

sind, erleichtert ihre Verwendung den Zugang zum Text. Motive<br />

bieten Orientierung und die Möglichkeit, das Verhalten der Figuren vorauszusagen.<br />

o Verflechtungsfunktion: indem sie ein Netz von Beziehungen, das die Aufnahme<br />

und Verarbeitung abstrakter Informationen erleichtert, herstellen,<br />

leisten Motive einen wichtigen Beitrag zur thematischen Organisation des<br />

Textes.<br />

o Gliederungsfunktion: in ihrer Rolle als Bedeutungs- und Strukturträger lösen<br />

Motive Handlungen aus, verweisen auf Ereignisse oder verknüpfen<br />

Erzählstränge. Zusätzlich helfen sie, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften<br />

zu verdeutlichen. Dies alles führt dazu, dass die Struktur<br />

des Textes verfestigt wird.<br />

o Deutungsfunktion: Motive kennzeichnen existentielle Grundsituationen.<br />

Diese können an eine konkrete Figur (z. B.: Odysseus) oder auch nur an<br />

einen bestimmten Typus (z. B.: der Heimkehrer) geknüpft sein. Ferner<br />

verdichten sie soziale Anliegen oder entschlüsseln kollektive Vorstellungen<br />

oder Wünsche.<br />

5.2 Heimkehrmotiv<br />

Die Untersuchung des Heimkehrmotivs scheint sich bis dato nur geringer literaturwissenschaftlicher<br />

Beachtung erfreut zu haben.<br />

Dabei stellt die Heimkehr ein Ereignis dar, das im Bewusstsein der Menschheit<br />

seit jeher repräsentiert ist. Heimkehr ist ein präsentes Thema in der Weltliteratur,<br />

man denke nur an Odysseus, als den wohl berühmtesten Heimkehrer der<br />

37


Literaturgeschichte, oder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium.<br />

Besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in Deutschland<br />

das Entstehen einer eigenen Heimkehrerliteratur beobachten, die sich mit den<br />

Bemühungen der heimgekehrten Soldaten um eine Rückkehr ins zivile Leben<br />

beschäftigt.<br />

Grundsätzlich lassen sich in Bezug auf die Verwendung des Heimkehrmotivs<br />

zwei einander entgegen gesetzte Tendenzen erkennen. Zum einen kann eine<br />

bevorstehende oder beabsichtigte Heimkehr einen festen Orientierungspunkt<br />

bieten, der zur Selbstbesinnung anregt. Die Aussicht auf eine Rückkehr sichert<br />

die Identität des Heimkehrers, verleiht Zuversicht und sorgt <strong>für</strong> Ruhe und Zuflucht<br />

vor der bedrohlichen Welt. Die zweite Variante des Heimkehrmotivs<br />

nimmt die Rückkehr (beispielsweise aus Studium, Verbannung oder Emigration)<br />

zum Anlass, Umwelt und Gesellschaft kritisch zu beleuchten beziehungsweise<br />

mit den in der Heimat Verbliebenen abzurechnen. 119 Im Spannungsfeld zwischen<br />

diesen beiden Ansätzen bewegen sich auch die Protagonisten der <strong>für</strong><br />

diese Arbeit ausgewählten Werke.<br />

Wenn auch die historische Präsenz des Motivs außer Frage steht und Motive<br />

weder an bestimmte Stoffe oder Genres gebunden sind, so erscheint dessen<br />

Verwendung im Genre der Anti-Heimat-Literatur doch etwas verwunderlich,<br />

wenn nicht paradox. Die Heimkehr des Protagonisten widerspricht der Grundtendenz<br />

der Anti-Heimat-Literatur, ist diese doch vorrangig durch eine Fluchttendenz<br />

gekennzeichnet. Heimat wird gesehen als „Maske eines sozialen Ortes,<br />

aus dem es wegzugehen gilt.“ 120 Dazu sei verwiesen auf das Schicksal<br />

Holls bei Franz Innerhofer oder jenes der Protagonisten in den Romanen Gernot<br />

Wolfgrubers, deren Bestrebungen darauf abzielen, der einengenden und totalitären<br />

ländlich-provinziellen Lebenswelt zu entfliehen. Die Werke Gernot<br />

Wolfgrubers, eines der bedeutendsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur, können<br />

als beispielhaft <strong>für</strong> diese Tendenz gesehen werden. Bei Wolfgruber steht<br />

der Wunsch nach Veränderung im Zentrum der Romane. Die Hoffnungen, die<br />

an ein Entkommen aus der gegenwärtigen Lebenssituation gekoppelt sind, ba-<br />

119 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 188 – 189.<br />

120 Zeyringer 2001, S. 166.<br />

38


sieren oftmals auf Illusionen und unrealistischen Träumereien. Die Realität sieht<br />

anders aus und so scheitert das Vorhaben des Verlassens der Heimat. Innerhofers<br />

Werk durchzieht tendenziell eine Suche nach einer neuen Heimat fernab<br />

der ursprünglichen. Immerhin gelingt es Holl, sich von seinen Wurzeln loszusagen,<br />

in der Erzählung „Der Emporkömmling“ erfolgt eine temporäre Rückwendung<br />

zur Heimat, was einen Sonderfall in Innerhofers Werk darstellt. Die Heimkehr<br />

stellt somit ein interessantes Alternativmodell zur Fluchttendenz im Anti-<br />

Heimatroman dar und soll auf den folgenden Seiten genauer analysiert werden.<br />

Viel näher liegt die Verbindung des Heimkehrmotivs mit der traditionellen Heimatliteratur.<br />

Das Heimkehrmotiv kann, mit Donnenberg, als Teilaspekt der Heimatthematik<br />

beziehungsweise die Heimatthematik als Teilaspekt der Heimkehrerproblematik<br />

bezeichnet werden. 121 Innerhalb der Heimatliteratur spielt das<br />

Motiv der Heimkehr eine nicht unbedeutende Rolle. Heimat konstituiert sich dabei<br />

oft durch die Abgrenzung gegenüber Fremden. Als solche sind auch Heimkehrer<br />

zu bezeichnen. Des Weiteren werden Heimkehr und Heimkehrer in der<br />

Heimatliteratur dazu verwendet, das positiv besetzte Bild des Dorfes zu verstärken<br />

und die Fremde negativ darzustellen. Die Heimkehr fungiert als Schaltelement<br />

zwischen zwei Milieus, dem der Fremde und dem der Heimat. Dadurch<br />

wird es möglich, beide Welten zu vergleichen. Der Status als Heimkehrer stellt<br />

die Protagonisten den Daheimgebliebenen gegenüber. Diese Verschiedenheit<br />

birgt naturgemäß ein gewisses Konfliktpotential in sich.<br />

Die Heimkehr ist Ausdruck einer Suche und Sehnsucht nach Heimat. Eine<br />

Heimkehr lässt darauf schließen, dass der Heimkehrer seine Heimat noch nicht<br />

gefunden hat. Während im Heimatroman der Handlungsverlauf mehr oder weniger<br />

vorgezeichnet und mit einem guten Ausgang zu rechnen ist, stellt sich die<br />

Frage, wie es damit im Anti-Heimat-Roman bestellt ist. Den Charakteristiken<br />

des Genres entsprechend, dürfte ein positiver Abschluss des Heimkehrprozesses,<br />

eine gelungene Integration in die Gesellschaft, nicht stattfinden, da sich der<br />

Anti-Heimat-Roman dadurch ad absurdum führen würde.<br />

Im klassischen Heimkehrerroman werden die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit<br />

in der Fremde und die Zeit nach der Heimkehr ausführlich geschildert. Dement-<br />

121 Vgl. Donnenberg, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 43.<br />

39


sprechend erstreckt sich der Roman über eine längere Zeitspanne. Die Abschieds-<br />

und Wiedersehensszene sind wichtige Momente im Handlungsverlauf.<br />

Ebenso große Berücksichtigung erhält die Krise des Protagonisten, die zur<br />

Heimkehr führt, sowie die Schilderung der Veränderungen, die während der<br />

Abwesenheit stattgefunden haben. Die klassische Heimkehrergeschichte ist eine<br />

in sich geschlossene Erzählform, die mit der Lösung der Probleme des<br />

Heimkehrers und der Wiederaufnahme in die Gemeinschaft endet. 122<br />

Die Themen Identitätskrise und Suche nach Heimat sind eng mit dem Heimkehrmotiv<br />

verbunden. In der Anti-Heimat-Literatur steht jedoch primär eine andere<br />

Thematik im Vordergrund, welche Meyer-Sickendiek weit gefasst als<br />

„Identifikation der österreichischen Heimat als einer beklemmenden Atmosphäre<br />

latenter Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß<br />

und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische<br />

Gesinnung“ 123 festgelegt hat. Es stellt sich daher auch die Frage, in welchen<br />

Bezug das Heimkehrmotiv zu diesem Kontext gesetzt werden kann.<br />

Hier endet der erste Teil dieser Arbeit. Im Vordergrund stand zum einen ein<br />

Überblick über verschiedene Konzepte von Heimat. Dies ist kein leichtes Unterfangen,<br />

da das Konzept Heimat in erste Linie ein, wie Parin anmerkt, „obligat<br />

individuelles Phänomen“ 124 zu sein scheint, und somit <strong>für</strong> jeden Menschen andere<br />

Vorstellungen impliziert. Trotzdem konnten einige Grundbedingungen<br />

festgelegt werde, ohne die Heimat nicht möglich zu sein scheint, die aber noch<br />

lange keine Garantie da<strong>für</strong> sind.<br />

Zweiter wichtiger Punkt war die Darstellung des Wandels des Heimatbegriffes<br />

in der österreichischen Literatur, vor allem in der Literatur nach 1945. Ein durch<br />

die Geschichte äußerst belasteter Begriff wie Heimat und ein ebenso belastetes<br />

Genre wie die Heimatliteratur machten es notwendig etwas weiter auszuholen,<br />

um die Geschichte der Anti-Heimat-Literatur verstehen zu können. Mit Robert<br />

Menasses Konzept von Anti-Heimat-Literatur wurde gezeigt, dass diese nach<br />

wie vor einen wichtigen Stellenwert in der österreichischen Literaturlandschaft<br />

122 Vgl. Khan, Charlotte: Studien zum Motiv der Heimkehr: „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“<br />

von Miroslav Krleža und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke<br />

in einer vergleichenden Betrachtung. Innsbruck: phil. Dipl. 1992, S. 134 – 136.<br />

123 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007.<br />

124 Parin 1996, S. 17.<br />

40


einnimmt. Ebenso vonnöten war ein theoretischer Exkurs zur Motivforschung im<br />

Allgemeinen und zum Heimkehrmotiv im Besonderen, da die Heimkehr im Zentrum<br />

des nun folgenden Teiles stehen wird.<br />

Dieser beschäftigt sich mit ausgewählten Werken der Anti-Heimat-Literatur.<br />

Gemeinsam ist diesen Werken die Rolle des Protagonisten als Heimkehrer.<br />

Dieses verbindende Element soll auch als Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Suche nach<br />

Kontinuitäten und Unterschieden in der Anti-Heimat-Literatur zwischen 1967<br />

und 2006 dienen. Es stellt sich die Frage, welche erzähltechnischen Funktionen<br />

dem Motiv zuteil werden und welche spezifischen Eigenheiten sich aus der Motivverwendung<br />

<strong>für</strong> das Werk ergeben. Gemäß der Beschaffenheit von Motiven<br />

als sowohl strukturgebende, wie auch inhaltsbezogene Einheiten, werden diese<br />

beiden Ebenen bei der Interpretation berücksichtigt.<br />

Zur Werkauswahl: Mit Gerhard Fritschs „Fasching“ (1967) steht eines der zentralen<br />

Werke aus der Zeit des „problematisierten Heimatromans“ 125 beziehungsweise<br />

aus Phase eins nach Menasse am Beginn des Analyseteils. Es<br />

folgt mit „Der Emporkömmling“ (1982) von Franz Innerhofer eine Erzählung des<br />

bekanntesten Vertreters der Anti-Heimat-Literatur. „Der Emporkömmling“ wird in<br />

Beziehung zu den vorhergehenden Werken Innerhofers gesetzt und ist sowohl<br />

Phase zwei als auch Phase drei zuordenbar. Robert Menasses „Schubumkehr“<br />

(1995) beschäftigt sich unter anderem mit Tourismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

und fällt in Phase drei. Als jüngstes und vielleicht düsterstes Werk beschließt<br />

„Das tote Haus“ (2006) von Peter Zimmermann diese Arbeit.<br />

125 Weiss, in: Schmid/Weiss (Hg.) 1976, S. 24.<br />

41


6 „Da war er – noch immer gefangen...“ – „Fa-<br />

sching“ von Gerhard Fritsch<br />

6.1 Späte Anerkennung<br />

Gerhard Fritsch verfasste neben zahlreichen Gedichten, Hörspielen und kurzen<br />

beziehungsweise nicht abgeschlossenen Prosawerken zwei Romane und war<br />

als Herausgeber der Zeitschriften „Wort in der Zeit“ und später „Literatur und<br />

Kritik“ eine der zentralen Figuren des österreichischen Literaturbetriebes. Sein<br />

erster Roman „Moos auf den Steinen“ (1956) brachte ihm euphorische Kritiken<br />

und großen Erfolg bei der Leserschaft. Elf Jahre danach folgte mit „Fasching“<br />

sowohl inhaltlich, als auch formal, die „reine Negation“ 126 , von „Moos auf den<br />

Steinen“. 127 „Fasching“ war das Produkt intensiver, von zahlreichen unabgeschlossenen<br />

Vorarbeiten begleiteter, Bemühungen die allgemeine Krankheit der<br />

1950er Jahre mit den Symptomen Positivität, Verbindlichkeit und Romantisierung<br />

zu überwinden. 128<br />

Mit Verwunderung und Unverständnis begegneten Kritik und Publikum dem<br />

Roman. Man hatte sich eine Fortsetzung von „Moos auf den Steinen“ erhofft<br />

und wurde brutal vor den Kopf gestoßen. „Fasching“ wurde überwiegend negativ<br />

rezensiert und verkaufte sich äußerst schlecht. 129 Die Geschichte eines minderjährigen<br />

Deserteurs (und als solcher eines Verräters), der eine Stadt vor<br />

dem Untergang bewahrt, trotzdem oder gerade deswegen denunziert wird und<br />

mit seiner Heimkehr an den von ihm Geretteten zugrunde geht, widersprach der<br />

126<br />

Menasse, Robert: Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von<br />

Gerhard Fritsch. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.<br />

Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 209 – 224,<br />

S. 219.<br />

127<br />

Hierzu sei angemerkt, dass eine kritische Lektüre von „Moos auf den Steinen“ sehr wohl<br />

auch Passagen enthält, die sich als kompromisslose Kritik an Österreich und seinem Umgang<br />

mit der Vergangenheit deuten lassen. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin: „Modo Austriaco“ – Gerhard<br />

Fritsch und die Literatur in Österreich. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard<br />

Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 25 – 33, S. 32.<br />

128<br />

Vgl. Wolfschütz, Hans: Von der Verklärung zur Aufklärung. Zur Entwicklung Gerhard<br />

Fritschs. In: Literatur und Kritik 12 (1977), S. 10 – 19, S. 13.<br />

129<br />

Für einen Überblick über Rezensionen und Kritiken vgl. Alker, Stefan: Das Andere nicht zu<br />

kurz kommen lassen. Werk und Wirken von Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007, S. 169 –<br />

177.<br />

42


Strategie des Verdrängens, wie sie in weiten Teilen der Bevölkerung und auch<br />

im Literaturbetrieb praktiziert wurde. Die Kontinuitäten, die in „Fasching“ aufgezeigt<br />

wurden, waren nicht jene, von denen man nach dem Krieg träumte.<br />

Viele Jahre später setzte allmählich eine Relektüre des Romans ein und erst in<br />

den letzten Jahren wurde dem Gesamtwerk Fritschs und somit auch „Fasching“<br />

die Aufmerksamkeit zuteil, die es sich schon viel früher verdient hätte. Es ist<br />

den Ereignissen im Präsidentschaftswahlkampf 1986 zu verdanken, dass „Fasching“<br />

erstmals wieder verstärkt rezipiert wurde. Im Zuge der Waldheimaffäre<br />

gewann der Roman an Aktualität, das Thema der Pflichterfüllung in der Deutschen<br />

Wehrmacht wurde wieder in der Öffentlichkeit präsent. Wenn Kurt Waldheim<br />

im Fernsehen beteuerte, nur seine Pflicht getan zu haben, wie viele andere<br />

Österreicher auch, so war dies haargenau die Rhetorik eines Lois Lubits in<br />

„Fasching“: „Wir, die wir unsere Pflicht getan haben, sind und bleiben Kameraden,<br />

die wissen, wo<strong>für</strong> und warum es gilt, wachsam zu sein, auf Posten zu stehen,<br />

jeder wo er steht.“ 130<br />

Robert Menasse setzte sich intensiv mit Leben und Werk von Gerhard Fritsch<br />

auseinander und bemühte sich um eine Neuauflage von „Fasching“, die<br />

schließlich 1995 bei Suhrkamp erschien. Menasse verfasste das Nachwort dazu.<br />

Für Menasse ist der Transvestismus die durchgehende Metapher in „Fasching“.<br />

Felix, der Deserteur in Frauenkleidern, musste den Stadtbewohnern als<br />

Karikatur ihres eigenen Transvestismus, ihrer Wandlung von zumindest nationalsozialistischen<br />

Mitläufern zu vermeintlich vorbildhaften Demokraten erscheinen.<br />

Die Desertion und die Rettung der Stadt stellten einen Verrat an der Ideologie,<br />

der man insgeheim noch anhing, dar. 131<br />

Dass Fritsch damit einen wunden Punkt getroffen hatte, zeigen die Reaktionen<br />

die auf das Erscheinen des Romans folgten. Dieser geht jedoch über eine rein<br />

auf Österreich bezogene Lesart hinaus:<br />

Mit dem Transvestismus als durchgehendem Motiv in ´Fasching` hat<br />

Fritsch eine große Metapher nicht nur <strong>für</strong> das österreichische, son-<br />

130<br />

Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 99. Im Folgenden zitiert als<br />

FA.<br />

131<br />

Vgl. Menasse, Robert: Auf diesem Fasching tanzen wir noch immer. In: Fritsch, Gerhard:<br />

Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 241 – 249, S. 243.<br />

43


dern schlechthin <strong>für</strong> das menschliche Wesen in großen sozialen und<br />

politischen Umbruchzeiten geschaffen, das stimmige und leider bleibende<br />

Psychogramm <strong>für</strong> all jene, die, wenn in den Geschichtsbüchern<br />

von ´Untergang` die Rede ist, nicht untergehen, und das sind<br />

eben Menschen, die die Systeme überleben. 132<br />

Mit dem Ankauf des Nachlasses von Gerhard Fritsch durch die Wiener Stadtund<br />

Landesbibliothek im Jahr 2004 konnte eine intensive wissenschaftliche<br />

Auseinandersetzung mit dem Autor in Gang gesetzt werden. Aus der Aufarbeitung<br />

dieses Nachlasses resultiert Stefan Alkers Monographie „Das Andere nicht<br />

zu kurz kommen lassen“ (2007). Darin betont Alker unter anderem die sexuelle<br />

Komponente in „Fasching“ und begründet diese Tatsache mit Fakten aus<br />

Fritschs Biographie. 133 Es war auch diese stellenweise sehr explizite Schilderung<br />

von Sexualität, die in den 1960er Jahren bei allen Kritikern auf Ablehnung<br />

und Empörung stieß, wobei nicht erkannt wurde, dass dieses Strukturelement in<br />

enger Verbindung zur faschistischen Thematik steht. 134 Durch die erstmalige<br />

ausführliche Fokussierung auf das sexuelle Element durch Alker wird eine weitere<br />

Relektüre ermöglicht.<br />

6.2 Heimkehr eines Deserteurs<br />

„Fasching“ ist erzählerisch sehr ambitioniert gestaltet. Innerhalb des Romans<br />

lassen sich drei Ebenen feststellen. Die beiden Handlungsebenen sind durch<br />

eine zeitliche Distanz voneinander getrennt. Ebene eins behandelt die Zeit von<br />

Felix´ Flucht zu Silvester 1944 bis zur sowjetischen Kriegsgefangenschaft.<br />

Ebene zwei setzt ein mit der Rückkehr in die Stadt und endet vier Tage später<br />

in den Turbulenzen des Faschingsballes. Wie in einem Film laufen die Erinne-<br />

132<br />

Menasse, Robert: Wir machen die Musik. In: Fritsch, Gerhard: Katzenmusik. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp 2006, S. 109 – 126, S. 117. Auf die Allgemeingültigkeit des in „Fasching“ dargestellten<br />

gesellschaftlichen Modells hat bereits Baumann hingewiesen, gleichzeitig jedoch einen spezifischen<br />

Österreichbezug negiert. Vgl. Baumann, Ingo: Über Tendenzen antifaschistischer Literatur<br />

in Österreich. Analysen zur Kulturzeitschrift „Plan“ und zu Romanen von Ilse Aichinger,<br />

Hermann Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko und Hans Weigel. Wien: phil.<br />

Diss. 1982, S. 333.<br />

133<br />

Vgl. Alker 2007, S. 141 – 280. Schon Baumann hat in seiner Dissertation darauf hingewiesen,<br />

seine Analyse jedoch mit dem Schwerpunkt auf Faschismus und Antifaschismus verfasst.<br />

Vgl. Baumann 1982, S. 320 – 348.<br />

134<br />

Vgl. Garscha, Beatrix: Obdachlose Helden: Defizite der österreichischen Identität. Faschismus<br />

im österreichischen Roman nach 1945. Wien: phil. Diss. 1997, S. 44 – 46.<br />

44


ungen vor Felix´ geistigem Auge noch einmal ab. Die beiden Erzählstränge<br />

werden verbunden durch eine reflektorische Ebene, wobei sich die Grenzen am<br />

Ende des Romans auflösen, der Erzählstrang geht nahtlos in die Reflexion<br />

über. Somit endet der Roman in der absoluten Gegenwart, im Versteck unter<br />

Raimund Wazuraks Schreibtisch. Da der Roman nicht einer linearen Anordnung<br />

folgt, sondern sich die Abschnitte abwechseln, erschließen sich Zusammenhänge<br />

und Parallelen erst im Verlauf der Lektüre. Insgesamt gibt es sieben Kapitel,<br />

dazu einen reflexiven Teil zu Beginn. Die in Großbuchstaben gedruckten<br />

ersten zwei bis drei Wörter der Kapitel verweisen auf Felix´ Rolle in der Stadtgemeinschaft:<br />

„Da war er – noch immer gefangen – ohne es zu wissen –<br />

rechtskräftig verurteilt – als grösste Gefahr – <strong>für</strong> die Bewahrung – aller echten<br />

Werte.“ Erzähltechnisch besteht „Fasching“ aus „einem einzigen inneren Monolog,<br />

der überwiegend erzählerisch und nur zum kleinen Teil – wie es dem Monolog<br />

an und <strong>für</strong> sich entspräche – reflexiv bestimmt ist.“ 135 Die Besonderheit<br />

dieses Monologs besteht darin, dass „Felix in den Erzählabschnitten die distanzierende<br />

Perspektive der 3. Person wählt. Damit wird er zum distanzierten Beobachter<br />

und Kommentator seiner eigenen Handlungen, wobei er von außen<br />

gleichsam sich selbst zusieht.“ 136 Der Monolog erinnert dadurch stark an die<br />

Form des Berichtes.<br />

„Fasching“ ist ein Roman, der von Beginn weg zu einem ständigen Hinterfragen<br />

des Heimkehrmotivs zwingt. Das Motiv dient in diesem Fall nicht dazu, eine<br />

komplizierte Situation zu vereinfachen, sondern zusätzliche Fragen aufzuwerfen.<br />

Während Felix die Heimkehr, der klassischen Motivkonzeption entsprechend,<br />

mit dem Wunsch nach Ruhe und Aufnahme in die Gemeinschaft verbindet,<br />

stellt sich angesichts der Vorgeschichte und der Struktur der ingroup schon<br />

sehr bald die Frage, wie dies gelingen soll. Denn im Gegensatz zum Protagonisten<br />

wird dem Rezipienten, trotz der komplexen erzählerischen Struktur, die<br />

bewirkt, dass sich die Handlung erst nach und nach erschließt und anfangs viele<br />

Zusammenhänge im Verborgenen bleiben, bald klar, dass Felix nicht nur in<br />

eine fremde Heimat, sondern in eine feindliche Anti-Heimat zurückkehrt. Je<br />

135<br />

Baumann 1982, S. 321 – 322.<br />

136<br />

Schimpl, Karl: Weiterführung und Problematisierung. Untersuchungen zur künstlerischen<br />

Entwicklung von Gerhard Fritsch. Stuttgart: Heinz 1982, S. 65.<br />

45


mehr sich dieser Schleier lüftet, desto rätselhafter erscheinen aber auch die<br />

Gründe <strong>für</strong> Felix´ Rückkehr. Auch angesichts der Krise des Heimkehrers (keine<br />

familiären und finanziellen Ressourcen, keine Ausbildung, lange Gefangenschaft)<br />

kann die Heimkehr objektiv nicht schlüssig begründet werden. In „Fasching“<br />

erscheint die Rückkehr schon von vornherein als ungeeignetes Mittel<br />

zur Bewältigung der Krise, das Heimkehrmotiv kann also keine Hilfe bei der Erschließung<br />

des Textes leisten. Die Widersprüchlichkeiten setzen sich auch in<br />

Bezug auf die Figur des Heimkehrers fort. Typische Heimkehrer sehen anders<br />

aus. Die Bewertung der Hauptfigur stellt eine große Herausforderung <strong>für</strong> den<br />

Leser dar, denn Felix ist keine ausschließlich positiv gezeichnete Figur, was die<br />

Identifikation mit ihm erschwert. Sein Verhalten evoziert Protest und Ablehnung.<br />

In Raimund Wazurak hat Felix ein Spiegelbild, das auf die Unmöglichkeit seines<br />

Unterfangens hinweist. Raimund ist selbst ein Außenseiter in der Stadt, kein<br />

Einheimischer und mit dem Stigma der Homosexualität behaftet. Er hat sich jedoch<br />

mit der Gesellschaft arrangiert beziehungsweise deren Unterwerfungswünschen<br />

bereitwillig Folge geleistet, indem er die ihm zugedachte Rolle erfüllt.<br />

Aus seiner Existenz lässt sich der einzig mögliche Verlauf einer dauerhaften<br />

Heimkehr deuten: „Backe links und Backe rechts darbieten, die Schläge gehen<br />

in Tätscheln über, der Argwohn in Wohlgefallen, alle Gegensätze in die große<br />

Synthese.“ 137<br />

In Raimunds Phrasen versteckt sich implizit der Hinweis auf die Kontinuität der<br />

alten Verhältnisse: „...aber es hat keinen Sinn in alten Wunden zu stochern,<br />

Lubits und Wahrhejtl haben sich geändert, in sich gegangen ist Plabutsch, geläutert<br />

sind sie wie ich, sie wollen ihre Ruhe haben wie wir.“ 138 Raimunds<br />

Ratschläge kann der Rezipient nur als Warnungen auffassen, Felix selbst versucht<br />

diese zu befolgen und läuft blindlings ins offene Messer.<br />

Auch im wissenschaftlichen Diskurs wurde die Frage nach Felix´ Persönlichkeit<br />

ausführlich erörtert. Es mag zutreffen, dass Felix in Bezug auf die erste Handlungsebene<br />

durchaus heldenhafte Züge trägt, wie Garscha in ihrer Analyse<br />

feststellt, die Felix als Helden, der bis zum bitteren Ende Widerstand gegen die<br />

faschistische ingroup leistet und dadurch seine innere Identität bewahrt, klassi-<br />

137 FA, S. 224.<br />

138 FA, S. 14.<br />

46


fiziert. 139 In Zusammenhang mit der Heimkehr sind heldenhafte Momente jedoch<br />

nicht mehr vorhanden, die fallweise Auflehnung gegen die Stadtbevölkerung<br />

lässt sich eher als verzweifelter Versuch einer Abwehr physischer Bedrohungen,<br />

denn als heldenhafte, von antifaschistischer Ideologie angetriebene<br />

Handlung sehen (Bevor sich Felix beispielsweise am Faschingsball gegen die<br />

Attacken wehrt, verhält er sich einen ganzen Abend lang passiv und lässt die<br />

Demütigungen über sich ergehen). Erst im Nachhinein reflektiert er seine Strategie<br />

der „ehrliche[n] Anbiederung“ 140 und erkennt sich als „Opportunist in der<br />

Grube, der sich <strong>für</strong> das darüber befindliche wackelige Häuschen und dessen<br />

Besitzerin zu allem hergibt, sich vielleicht sogar um die Mitgliedschaft beim Kameradschaftsverein<br />

bewürbe,...“ 141<br />

Während der kritisch-reflexive Prozess erst am Ende der Heimkehr einsetzt,<br />

zeigt sich davor ein wesentlich anderes Bild des Protagonisten: „Ich will Ruhe,<br />

ich bin zehn Jahre in Russland gewesen, ich will heiraten“ 142 , wünscht sich Felix,<br />

und an anderer Stelle: „Ich möchte ja Kleinbürger werden, Fotograf, sonst<br />

nichts.“ 143 In Passagen wie diesen lässt sich wenig Heldenhaftes finden, gegen<br />

Ende zeigt Felix bereits Ansätze, Werte und Ideologie der ingroup zu übernehmen:<br />

„...in Treue fest wie noch nie, er gehörte her, er gehörte dazu,...“ 144<br />

Für Berger ist die Geschichte Felix´ die Geschichte eines moralischen Verfalls:<br />

Die Substitution des ethischen Humanismus, mit dem er handelnd<br />

als Deserteur und Widerstandskämpfer angetreten war, durch die<br />

scheinbar überlegene und abgeklärte moralische Haltung des Heimgekehrten,<br />

der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt, erweist<br />

sich in der Grubensituation als Haltlosigkeit. 145<br />

Louis vereint die beiden Pole, indem sie Felix sowohl opportunistische, als auch<br />

revoltierende Züge zuerkennt. Auf die Rezeption bezogen, bedeutet dies, dass<br />

139<br />

Vgl. Garscha 1997, S. 103 – 104.<br />

140<br />

FA, S. 221.<br />

141<br />

FA, S. 145.<br />

142<br />

FA, S. 166.<br />

143<br />

FA, S. 146.<br />

144<br />

FA, S. 224. Unschwer lässt sich hier ein intertextueller Verweis auf den Wahlspruch der Waffen-SS<br />

erkennen: “Meine Ehre heißt Treue”.<br />

145<br />

Berger, Albert: Überschmäh und Lost in Hypertext. Eine vergleichende Re-Lektüre von Gerhard<br />

Fritschs Romanen „Moos auf den Steinen“ und „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner,<br />

Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 57 – 77,<br />

S. 74.<br />

47


der Leser gezwungen ist, in seiner Bewertung ständig zwischen den beiden Polen<br />

zu wechseln. Felix kann nicht als Typus mit überschaubaren, klassifizierbaren<br />

Eigenschaften definiert werden, vielmehr zwingt er zu einem ständigen Verschieben<br />

und Revidieren der Perspektiven, was dazu animiert, von vorschnellen<br />

Bewertungen abzusehen und die eigene Wahrnehmung permanent<br />

zu hinterfragen. 146 Louis hat nicht Unrecht, wenn sie sich ausschließlich auf die<br />

erste Handlungsebene beziehen würde. Denn da war Felix sowohl Opportunist<br />

als auch Held, er nutzte die Gelegenheit, in Frauenkleidern den Krieg zu überleben<br />

und warf seine Partisanenträume über Bord, und er rettete die Stadtbevölkerung<br />

durch die Überwältigung des Kommandanten. Als Heimkehrer jedoch,<br />

und hier zeigt sich die kontrastierende Funktion des Motivs, ist Felix weder<br />

Held noch Opportunist. Als Heimkehrer ist Felix einzig davon geleitet, eine<br />

Heimat zu finden und bereit, da<strong>für</strong> auch Opfer in Kauf zu nehmen. Mit der<br />

Rückkehr in die Stadt ergreift er keine günstige, sondern die einzige Möglichkeit<br />

sein Ziel zu erreichen und wählt die Strategie der Anbiederung, da er sich von<br />

dieser die Bewältigung seiner Krise erhofft. Der Heimkehrer agiert mehr pragmatisch<br />

denn opportunistisch und glaubt bis zuletzt an seinen Erfolg, seine verzweifelte<br />

Situation versperrt ihm den Blick auf die Realität.<br />

In „Fasching“ erhält das Heimkehrmotiv eine neue Bedeutung. Die Fragen, warum<br />

Felix heimkehrt und wie er einzuordnen ist, werden nicht beantwortet. Herkömmliche<br />

Muster können nicht herangezogen werden, um die Rezeption zu<br />

erleichtern. Die literaturwissenschaftlichen Diskussionen zeigen, dass sich diese<br />

Fragen bis heute nicht eindeutig beantworten lassen.<br />

Nach dieser Darstellung der widersprüchlichen Aspekte des Motivs nun zur<br />

Analyse der Struktur- und Verlaufsebene.<br />

In Bezug auf die strukturelle Funktion des Heimkehrmotivs fällt die Verknüpfung<br />

mit der reflexiven Ebene auf. Felix´ prekäre Situation in seinem Versteck respektive<br />

Gefängnis ist als direktes Resultat seiner Heimkehr zu verstehen. Die<br />

Heimkehr hat ein Handlungsgefüge ausgelöst, das in einer ausweglosen Situation<br />

endet. So fragt sich Felix auch: „Soll ich vor zwölf Jahren beginnen und<br />

146<br />

Vgl. Louis, Raffaele: Das ausgesetzte Urteil. Eine poetologische Lektüre von Gerhard<br />

Fritschs Roman „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller<br />

in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005, S. 111 – 131, S. 120 – 121.<br />

48


mich in diesem Loch zum ersten Mal verstecken lassen, soll ich vor vier Tagen<br />

ankommen, der dringenden Einladung folgend, den Fasching mitzumachen?“ 147<br />

Felix erkennt die Parallelen zwischen den beiden Handlungsebenen, die er lange<br />

nicht wahrhaben wollte. Die Flucht vor zwölf Jahren und die Heimkehr vor<br />

vier Tagen führten zu ähnlichen Ergebnissen.<br />

Motive wie die Heimkehr haben die Funktion, zwei Ebenen zu kontrastieren.<br />

Diese Verwendung bezüglich der Figur des Heimkehrers selbst wurde weiter<br />

oben schon dargelegt. Auch die beiden Handlungsebenen werden rückblickend<br />

von der Reflexionsebene aus kontrastiert beziehungsweise in diesem Fall parallelisiert.<br />

Denn im speziellen Fall von „Fasching“ verschwindet die Polarität zusehends,<br />

es kommt zu einer Angleichung von Vergangenheit und Gegenwart.<br />

Die Ursache liegt darin begründet, dass schlicht und einfach keine Veränderungen<br />

stattgefunden haben. Der Heimkehrer findet ein in personeller und ideologischer<br />

Hinsicht unverändertes System vor. Zwar erstrahlen die Fassaden der<br />

Häuser in neuem Glanz und wurde das Gasthaus von Reichs- in Doppeladler<br />

umbenannt, hinter den Kulissen herrscht jedoch nach wie vor der alte Geist, der<br />

<strong>für</strong> Feiglinge und Vaterlandsverräter kein Verständnis aufbringt.<br />

Felix´ Situation als heimgekehrter Deserteur löst permanent Ereignisse aus, die<br />

stets demselben Muster folgen. Das Wiedersehen mit dem Kollektiv der Kleinstadt<br />

(im Roman im Wesentlichen repräsentiert durch deren Honoratioren) folgt,<br />

basierend auf der klassischen ingroup-outgroup-Konstellation, einem Schema,<br />

das nur hinsichtlich der Intensität des Unterdrückungsprozesses eine Steigerung<br />

erfährt. Baumann hat dabei drei zur Anwendung kommende Mechanismen<br />

definiert: die Demütigung, die Verleumdung, sowie körperliche und seelische<br />

Folter. 148 Anhand des Beispieles der Demütigung soll exemplarisch gezeigt<br />

werden, dass diese Mechanismen in fester Verbindung mit der Heimkehr stehen<br />

und eine wichtige strukturierende Rolle übernehmen.<br />

Die Demütigung zeigt sich im Gelächter, das Felix bei jeder Begegnung mit der<br />

Stadtbevölkerung begleitet. Leitmotivisch zieht sich dieses Lachen durch den<br />

Roman. Das Motiv der Heimkehr als Auslöser von Prozessen, an deren Ende<br />

147 FA, S. 10.<br />

148 Vgl. Baumann 1982, S. 341.<br />

49


das Gelächter als Form der Unterdrückung steht, bildet eine sich wiederholende<br />

textliche Einheit. Kurz nach der seiner Ankunft begegnen Felix und Raimund<br />

der Faschingskommission, die sich aus der Prominenz der Stadt zusammensetzt.<br />

Während Felix den Hut zieht, erwidert die Kommission diesen Gruß nicht<br />

und verharrt in Schweigen. Als die beiden ins Haus treten, bricht „die Kommission<br />

in Gelächter aus, exakt einsetzendes Gewieher, Gegluckse, Gegacker.“ 149<br />

Ebenso bei der Führung durch das Heimatmuseum, bei der Felix gefoltert und<br />

genötigt wird, eine Erklärung zu unterschreiben, in welcher er jegliche Beteiligung<br />

an der Rettung der Stadt dementiert: „Oben stand Hilga, neben ihr Radegund<br />

Plabutsch, Umrisse vor einem Fenster. Gelächter. Er richtete sich auf,<br />

grüßte.“ 150 An anderer Stelle ist es Raimund, der Felix, nicht zum ersten Mal,<br />

vorwirft, selbst Schuld an der ungünstigen Entwicklung zu sein: „Du hast mich<br />

desavouiert. Ich habe deine Verdienste gerühmt, mich überall um deine Anerkennung<br />

bemüht, ungeachtet des Gelächters, ich hätte sie durchgesetzt, und<br />

du!“ 151 Dieses Lachen definiert die feindliche Grundhaltung, die Felix entgegenschlägt.<br />

Doch selbst mit zunehmender Steigerung der Demütigungen missdeutet<br />

Felix seine Situation, ja er selbst stimmt in das Lachen ein, als er in sein Versteck<br />

hinuntersteigt:<br />

50<br />

Ich habe gelacht und sie [Vittoria, d. Verf.] hat gelacht, ich höre uns<br />

noch lachen, beide ein einziges Gelächter, ich sehe sie noch lachen,<br />

oben, plötzlich hoch über mir, lachend habe ich mich in der Grube<br />

zurechtgesetzt, lachend hat sie gesagt, hier findet dich keiner, lachend<br />

habe ich gesagt, vergiß mich nicht. 152<br />

Die obige Passage ist zugleich der Beginn des Romans, der Verlauf der Handlung<br />

wird also schon zu Beginn angedeutet, das Ende vorweggenommen. Dies<br />

erschließt sich jedoch erst im Laufe der Lektüre.<br />

Die Analyse hat die besondere Funktion des Heimkehrmotivs in „Fasching“ gezeigt.<br />

Die Motivation zur Heimkehr ist nicht nachvollziehbar, der Verlauf jedoch<br />

folgt einem klaren Schema und offenbart die Parallelen zur ersten Handlungs-<br />

149 FA, S. 13.<br />

150 FA, S. 150.<br />

151 FA, S. 171.<br />

152 FA, S. 7.


ebene. Die durch die komplexe formale Struktur und die atypische Ausgangssituation<br />

entstandene Verwirrung wird durch einen schematischen Ablauf strukturiert,<br />

was den Zugang zum Text erleichtert, ohne den Spannungsbogen zu zerstören.<br />

Dies ist insofern beachtenswert, da in der Regel gerade die unterschiedlichen<br />

Lösungsmöglichkeiten <strong>für</strong> die Spannung verantwortlich sind, hier<br />

jedoch aufgrund der Bedingungen, unter denen sich die Heimkehr vollzieht, eine<br />

positive Bewältigung der Krise der Hauptfigur a priori ausgeschlossen werden<br />

kann. Im Spannungsfeld zwischen den Themen Auflehnung und Anpassung<br />

beziehungsweise Freiheit und Begrenzung strukturiert das Motiv von Beginn<br />

an den Handlungsverlauf in Richtung Anpassung (in Form von Felix´ Bemühungen<br />

sich anzubiedern) und Begrenzung (die in der aussichtslosen<br />

Schlusssituation gipfelt). In Bezug auf die Typologie nach Daemmrich/Daemmrich<br />

steht zu Beginn die erste Variante im Vordergrund. Felix strebt<br />

nach Ruhe und Harmonie und bemerkt nicht, dass ihm diese Ziele verwehrt<br />

sind. Mit Fortlauf des Romans ergibt sich <strong>für</strong> den Leser ein zunehmend negatives<br />

Bild einer seit den nationalsozialistischen Tagen kaum veränderten Gesellschaft.<br />

In Felix selbst jedoch hat sich durch seine Zeit in der Fremde, entgegen<br />

der herkömmlichen Charakterentwicklung des Heimkehrers, die Fähigkeit zu<br />

kritischer Reflexion nicht verstärkt, sondern abgebaut beziehungsweise hat die<br />

Verzweiflung den Blick auf die Realität getrübt. Er orientiert sich mit gutem<br />

Glauben an der von Raimund, der sich als ebenfalls ortsfremder Außenseiter<br />

mit der ingroup arrangiert hat, empfohlenen Strategie, die auch ihm am Nützlichsten<br />

erscheint. Dass es zu einer exakt konträren Entwicklung kommt, zeichnet<br />

sich schon sehr bald ab, Felix erkennt die Fakten aber erst, als es zu spät<br />

ist und er dem Tod ins Auge sieht.<br />

6.2.1 Rezeptions- und Wirkungsästhetik des Heimkehrmotivs<br />

In „Fasching“ ergibt sich ein neues Muster der Heimkehrsituation, das zwar Anleihen<br />

bei der traditionellen Heimatliteratur oder dem Heimkehrerroman nimmt,<br />

in seiner Gesamtheit jedoch einzigartig ist.<br />

51


Zusammenfassend noch einmal die Schwierigkeiten, die sich dadurch <strong>für</strong> die<br />

Rezeption ergeben: durch die nicht schlüssige Begründung der Heimkehr wird<br />

gleich zu Beginn die Interpretation erschwert. Die Charakterisierung des Heimkehrers<br />

erlaubt es nicht, diesen zu kategorisieren. Herkömmliche, im kollektiven<br />

Gedächtnis der Rezipienten abgespeicherte Heimkehrsituationen können nicht<br />

auf die vorliegende Konstellation angewendet werden. Der (schematische) Verlauf<br />

der Heimkehr (gezeigt anhand der durchgehenden Koppelung an das Gelächter)<br />

und Felix´ (schematisches) Handeln sind nicht kongruent. Felix´ Charakterisierung<br />

lässt kaum Identifikation mit ihm zu, aber noch weniger gelingt<br />

dies bezüglich der ingroup. Die durch die Heimkehr bewirkte schonungslose<br />

Darstellung der Stadtbevölkerung, welche die österreichische Gesellschaft und<br />

damit auch die Rezipienten repräsentiert, zeigt verdrängte Kontinuitäten und<br />

unbequeme Wahrheiten, dies bewirkt Proteste und Widerstände. 153<br />

In diesen Besonderheiten mag auch die Ablehnung begründet sein, die der<br />

Roman nach seinem Erscheinen hervorrief. Die traditionelle Heimatliteratur war<br />

erfolgreich, weil sie den von der Leserschaft in sie gesetzten Erwartungen entsprach.<br />

Die Handlungsverläufe waren schematisiert, die handelnden Personen<br />

eindeutig definiert und die Grenzen zwischen Gut und Böse genau gezogen.<br />

„Fasching“ hingegen ließ sich nicht einordnen, enttäuschte die Erwartungshaltungen,<br />

überforderte durch seine Struktur und provozierte durch die Thematik.<br />

Wie Jauß in seinen Überlegungen zu einer rezeptionsästhetischen Grundlegung<br />

der Literaturgeschichte bemerkt hat, weckt jede Rezeption eines neuen<br />

Werkes Erinnerungen an schon Gelesenes und evoziert durch vertraute Merkmale<br />

oder implizite Hinweise Erwartungen an den weiteren Handlungsverlauf.<br />

Das Vorwissen des Lesers präformiert den Erwartungshorizont, der an das<br />

neue Werk gesetzt wird. Das neue Werk kann die Erwartungen erfüllen, es<br />

kann aber auch zu einer Variation oder Korrektur der durch Gattungs- Stil- oder<br />

Formkonventionen geprägten Annahmen kommen. 154 Jauß erwähnt als Beispiel<br />

da<strong>für</strong> „Don Quijote“ von Cervantes. In diesem Werk wird der Erwartungshori-<br />

153<br />

Interessanterweise ist auch Johann Unfreund, die Hauptfigur in Hans Leberts „Die Wolfshaut“,<br />

ein Heimkehrer.<br />

154<br />

Vgl. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In:<br />

Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Wilhelm Fink 1975,<br />

S. 126 – 162, S. 131 – 132.<br />

52


zont der beliebten und weit verbreiteten Ritterromane evoziert und in weiterer<br />

Folge parodiert. 155<br />

Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont<br />

und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen<br />

Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig<br />

ausgesprochener Erfahrungen einen ´Horizontwandel` zur Folge<br />

haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum<br />

der Reaktionen des Publikums und des Urteils der Kritik (spontaner<br />

Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, allmähliches<br />

oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständlichen.<br />

156<br />

Bei einer sehr großen ästhetischen Distanz kann es sehr lange dauern, bis das<br />

Werk in den Erwartungshorizont des Publikums eingegangen ist. Werke mit geringer<br />

ästhetischer Distanz werden unverzüglich von einer breiten Leserschicht<br />

akzeptiert. „Fasching“ war seiner Zeit voraus beziehungsweise waren Publikum<br />

und Kritik leider noch nicht in den 1960er Jahren angekommen. Man erwartete<br />

sich eine Fortsetzung des zehn Jahre zuvor erschienenen Romans „Moos auf<br />

den Steinen“. Sowohl in inhaltlicher, als auch formaler Hinsicht, dies gilt auch<br />

besonders <strong>für</strong> das Heimkehrmotiv, sprengte „Fasching“ die bisher herrschenden<br />

Grenzen. Die innovative Verwendung des Motivs bedeutete vor dem Hintergrund<br />

traditioneller Heimatliteratur und in Anbetracht des Umgangs mit der<br />

nationalsozialistischen Vergangenheit einen radikalen Bruch mit den bisherigen<br />

literarischen Konventionen, durch die komplexe formale Struktur wurde die inhaltliche<br />

Negation der gewohnten Erfahrungen verstärkt. Erst Jahre später<br />

konnte „Fasching“ unvoreingenommen rezipiert und in seiner Bedeutung <strong>für</strong> die<br />

österreichische Literatur erkannt werden. Der Erwartungshorizont des Publikums<br />

hatte sich verändert, „Fasching“ wurde zu einem Teil des literarischen<br />

Kanons. Jauß meint, dass die ästhetische Distanz „in dem Maße verschwinden<br />

kann, wie die ursprüngliche Negativität des Werkes zur Selbstverständlichkeit<br />

geworden und selbst als nunmehr vertraute Erwartung in den Horizont künftiger<br />

ästhetischer Erfahrung eingegangen ist. 157 Dass die Diskussion über den Roman<br />

noch immer anhält, etwa in Bezug auf die Bewertung der Hauptfigur, und<br />

155<br />

Vgl. Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 132.<br />

156<br />

Jauß, in: Warning (Hg.) 1975, S. 133.<br />

157<br />

A. a. O., S. 134.<br />

53


um neue Aspekte (Sexualität) erweitert wird, spricht <strong>für</strong> dessen große ästhetische<br />

Distanz. In den 1970er Jahren avancierte die Anti-Heimat-Literatur zum<br />

wichtigsten literarischen Genre in Österreich, „Fasching“ muss als Wegbereiter<br />

dieser Entwicklung gesehen, als einer der ersten Romane in der „literarischen<br />

Reihe“ (Jauß) dieses Genres.<br />

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit einem Werk des renommiertesten Anti-<br />

Heimat-Dichters der oben genannten Zeitspanne.<br />

7 „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die<br />

Rede sein.“ – „Der Emporkömmling“ von Franz In-<br />

nerhofer<br />

7.1 Teil vier einer Trilogie?<br />

Nachdem Franz Innerhofer mit der „Wucht der Authentizität“ 158 seines Debüts<br />

„Schöne Tage“ (1974) einen unerwartet großen Erfolg verbuchen konnte, war<br />

der Erwartungsdruck seitens der Kritik, seine weiteren Veröffentlichungen<br />

betreffend, sehr groß. Es folgten „Schattseite“ (1975) und „Die großen Wörter“<br />

(1977). Den hohen Erwartungen konnte Innerhofer nicht gerecht werden, von<br />

Werk zu Werk mehrten sich kritische Stimmen und negative Rezensionen. In<br />

seinen ersten drei Romanen zeichnet Innerhofer den Weg des Protagonisten<br />

Holl vom Leibeigenen auf dem „Bauern-KZ“ seines Vaters über seine Lehre und<br />

Übersiedlung in die Stadt bis hin zum Studium an der Universität nach. Der<br />

Weg heraus aus der Enge der bäuerlichen Unterdrückung hin zum Intellektuellen<br />

gestaltet sich äußerst schwierig und ist von Rückschlägen begleitet. Im letzten<br />

der drei Romane kommt die Enttäuschung in besonders klarer Form zum<br />

Ausdruck. Auch die Welt der Wissenschaft, der universitäre Betrieb, lassen den<br />

158<br />

Greiner, Ulrich: Ein Alleingang, der Größe hat: „Schöne Tage“, „Schattseite“ und „Die großen<br />

Wörter“. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits, Kritiken zur österreichischen<br />

Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979, S. 108 – 121, S. 113.<br />

54


Suchenden nicht fündig werden. Holl wird auch in der Stadt, in der Welt des<br />

Geistes und der Kultur nicht heimisch.<br />

Innerhofers Werk wird tendenziell auf seine ersten drei Romane reduziert, wobei<br />

auch hier auf ein fallendes erzählerisches Niveau verwiesen wird. „Schöne<br />

Tage“, „Schattseite“ und „Die großen Wörter“ werden als „(Holl-)Trilogie“ bezeichnet.<br />

Das restliche Werk Innerhofers stieß bei der Kritik, wie auch bei der<br />

Leserschaft, nur mehr auf geringe Zustimmung. Franz Innerhofer wurde von der<br />

Literaturkritik und den Medien genauso schnell fallengelassen wie er hochgejubelt<br />

worden war. Dass ihm in seinen späten Jahren oft mit einer gewissen Voreingenommenheit<br />

begegnet wurde, ist, auch wenn die wechselhafte Qualität<br />

seiner Werke außer Frage steht, bedauerlich. Des Weiteren zu bedauern ist die<br />

teilweise äußerst schlampige und oberflächliche Weise, in welcher bisweilen<br />

Tatsachen verdreht werden. So wird in der Zeitschrift Wespennest behauptet,<br />

„Die großen Wörter“ sei in der ersten Person geschrieben 159 , an anderer Stelle<br />

heißt der Protagonist von „Der Emporkömmling“ Karl Lambrecht 160 , ein Rezensent<br />

behauptet, dieser Lambrecht kehre auf den Hof seines Vaters zurück, während<br />

es sich um das Haus der Mutter und seines Stiefvaters handelt. Schrott<br />

verzichtet von vornherein darauf, sich in dieser Angelegenheit festzulegen und<br />

zieht beide Varianten in Erwägung, obwohl sie ihre Arbeit zum Thema der<br />

Funktion der Schauplätze bei Franz Innerhofer verfasst hat. 161<br />

In diesem Sinne soll mit der nachfolgenden Analyse der Erzählung „Der Emporkömmling“<br />

der Versuch einer Neubewertung vorgenommen werden, wie sie<br />

sich Zier wünscht: „Aber vielleicht wird eine neue Generation von Kritikern und<br />

Literaturwissenschaftlern sich einmal unvoreingenommen dieses Teils des literarischen<br />

Werkes von Franz Innerhofer annehmen und zu anderen Sichtweisen<br />

und Einschätzungen gelangen.“ 162<br />

159<br />

Vgl. Freund, Jutta: Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. In: Wespennest 53 (1983), S. 43<br />

– 44, S. 43.<br />

160<br />

Vgl. Schwarz, Waltraut: Franz Innerhofer – Das Ende einer Anklage. In: Zeman, Herbert<br />

(Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart<br />

(1880 – 1980). Teil 2. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 1167 – 1183, S.<br />

1175.<br />

161<br />

Vgl. Görtz, Franz Josef: Odyssee oder Holzweg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

5.10.1982, S. 26, sowie Schrott, Regine: Auf der Suche nach Heimat. Die Funktion der Schauplätze<br />

bei Franz Innerhofer. Wien: phil. Dipl. 1995, S. 136 – 137.<br />

162<br />

Zier, O. P.: Im Kampf mit dem Wort um das Wort. Frank Tichys Innerhofer-Biografie. In:<br />

http://www.biblio.at/rezensionen/details.php3?mednr%5B0%5D=luk2004606&anzahl=1,<br />

31.7.2007.<br />

55


Bei näherer Beschäftigung mit Innerhofers Schaffen steht außer Frage, dass<br />

„Der Emporkömmling“ als Fortsetzung der vorangehenden Trilogie gelesen<br />

werden muss, da die Erzählung auch explizit darauf Bezug nimmt. Eckhart<br />

Prahl analysiert die Holl-Trilogie und weist auf die Fortsetzung durch Innerhofers<br />

Erzählung „Der Emporkömmling“ hin, ohne diese jedoch in seine Analyse<br />

mit einzubeziehen. 163 Auch Johannes Birgfeld, dessen Arbeit aus dem Jahr<br />

2002 den bisherigen Endpunkt der Innerhoferforschung markiert, bemerkt diese<br />

Engführung aufgrund der beinahe ausschließlichen Konzentration auf die ersten<br />

drei Romane, was ihn nicht davon abhält, sich in weiterer Folge gleichfalls nur<br />

mit der Trilogie zu beschäftigen. 164 Waltraut Schwarz spricht unter Einbeziehung<br />

der Erzählung „Der Emporkömmling“ davon, dass diese „Tetralogie ein<br />

autobiographischer Bildungs- und Entwicklungsroman ist.“ 165 Regine Schrott<br />

bezieht in ihre Arbeit zur Funktion der Schauplätze bei Innerhofer auch den<br />

„Emporkömmling“ sowie den letzten großes Roman „Um die Wette leben“<br />

(1993) mit ein und spricht folgerichtig von einer autobiographischen Penta-<br />

logie. 166<br />

In Innerhofers viertem längerem Prosawerk findet eine Rückorientierung in die<br />

Heimat, beziehungsweise in die Welt der Arbeiter, statt. Der Protagonist Hans<br />

Peter Lambrecht hofft, durch eine Rückkehr zu seinen Wurzeln zu sich selbst<br />

finden zu können. Als biographischer Zwilling Holls erzählt nun Lambrecht in<br />

der Ich-Form auf 130 Seiten von seiner Rückkehr in das Haus der Kindheit und<br />

die Welt der Arbeiter. Der abermalige Wechsel der Erzählperspektive von der<br />

dritten Person in „Die großen Wörter“ zur ersten Person mag analog zum selben<br />

Wechsel von „Schöne Tage“ zu „Schattseite“ begründet sein: „Das Ich hat<br />

sich herausgearbeitet, und nun muß es sich auch präsentieren: als Ich.“ 167 So<br />

wie Holl in „Schattseite“ der väterlichen Zwangsherrschaft auf Hof 48 entflieht,<br />

163<br />

Vgl. Prahl 1993, S. 81 – 95.<br />

164<br />

Vgl. Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit einer<br />

Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt/Main: Peter Lang 2002, S. 9.<br />

165<br />

Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1177.<br />

166<br />

Vgl. Schrott 1995, S. 169.<br />

167<br />

Lüdke, Martin W.: Franz Innerhofer. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.<br />

Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text und Kritik<br />

1987ff. 45. Nachlieferung 1993, S. 1 – 9, S. 5.<br />

56


ewältigt Lambrecht seine Krise durch eine Rückkehr aufs Land und findet, zumindest<br />

zwischenzeitlich, wieder zu sich selbst.<br />

„Der Emporkömmling“ wurde überwiegend negativ rezensiert, fast immer auch<br />

an seinen Vorgängerwerken gemessen und als minderwertig eingestuft. Am<br />

Positivsten äußerst sich Michael Skasa: „Innerhofers ´Emporkömmling` ist ein<br />

schön und aufregend ehrlicher Bericht [...] [i]n warmen, leuchtenden Bildern und<br />

in genauer Sprache, so fremd und schön wie irgendeine angegilbte Erzählung<br />

Kafkas, und doch spürt man, daß jedes Wort die heutige Wirklichkeit be-<br />

schreibt...“ 168<br />

Vorsichtig wohlwollend das Urteil in den Salzburger Nachrichten: „Franz Innerhofer<br />

hat wieder Tritt gefaßt, es ist wieder mit ihm zu rechnen.“ 169 Der Rest der<br />

Rezensionen, von denen nur einige hier wiedergegeben werden können, kann<br />

der Erzählung wenig bis gar nichts Positives abgewinnen. Freund bedauert, die<br />

Erzählung sei „allzu peripher und gelegentlich ohne Belang“ 170 , vernichtend fällt<br />

Janetscheks Kritik aus, er bemängelt die „Plumpheit des sprachlichen Ausdrucks“<br />

171 , die oft nicht „einer unfreiwilligen Komik“ 172 entbehre, die Erzählung<br />

bleibe im „sprachlich Verschwommenen“ 173 und wirke „demgemäß wenig glaubhaft“<br />

174 , er rät Innerhofer „mit neuen Veröffentlichungen zuzuwarten, bis er sich<br />

wieder im Vollbesitz seiner sprachlichen Ausdruckskraft befindet.“ 175 Für Fetzer<br />

stellt sich die Frage, ob alles so ernst gemeint ist, oder ob es sich um eine zynische<br />

Karikatur einer Bildungsgeschichte, wie sie die vorhergehenden Romane<br />

waren, handelt. Die Herrschaft über die Sprache hat Innerhofer, seiner Meinung<br />

nach, jedenfalls verloren. 176 Ganz anderer Meinung ist Görtz, der sicher ist,<br />

dass alles „unglaublich zynisch – und unglaublich naiv zugleich [...] tatsächlich<br />

168 Skasa, Michael: Nachrichten von Stirn und Faust. Franz Innerhofers Rückkehr zu den Arbeitern.<br />

In: Süddeutsche Zeitung 285 (1982), o. S.<br />

169 Thuswaldner, Werner: Leben Arbeiter das wahre Leben? Franz Innerhofers Erzählung „Der<br />

Emporkömmling“ erschienen im Residenz Verlag, Salzburg. In: Salzburger Nachrichten<br />

11.12.1982, S. 27.<br />

170 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 44.<br />

171 Janetschek, Albert: Franz Innerhofer. Der Emporkömmling. In: Literatur und Kritik 181/182<br />

(1984), S. 81 – 82, S. 82.<br />

172 A. a. O.<br />

173 A. a. O., S. 81.<br />

174 A. a. O.<br />

175 A. a. O., S. 82<br />

176 Fetzer, Günther: Die Herrschaft über die Sprache verloren. In: Mannheimer Morgen<br />

26.11.1982, o. S.<br />

57


so gemeint war und verstanden werden will“ 177 , jedenfalls sollte sich Innerhofer<br />

„nach diesem Buch mit dem Schreiben viel Zeit lassen.“ 178 Von Matt kritisiert<br />

vor allem die verfälschende Pauschalerhöhung des Arbeiterstandes und die<br />

gleichzeitige Abwertung der Intellektuellen. 179 Solms fragt in seiner Gegenüberstellung<br />

von „Schöne Tage“ und „Der Emporkömmling“, ob Innerhofer in letzterem<br />

Werk nicht eine zu unkritische Stellung zur Arbeitswelt bezieht beziehungsweise<br />

ob die Erzählung nicht eigentlich schon ein Heimatroman eines<br />

ehemaligen Anti-Heimat-Autors ist? 180<br />

Das folgende Kapitel soll auch zur Klärung dieser Frage verhelfen.<br />

58<br />

7.2 Heimkehr als letzter Ausweg<br />

Die Erzählung betrachtet rückblickend die Geschichte einer Heimkehr auf Zeit.<br />

Hans-Peter Lambrecht selbst berichtet über sein Unterfangen, in sein angestammtes<br />

Milieu zurückzukehren. Im linearen Handlungsverlauf nimmt das<br />

Heimkehrmotiv eine strukturierende Funktion ein. Die Heimkehr als ein Situationsmotiv<br />

unterteilt die Erzählung in ein Vorher und Nachher, verknüpft aber<br />

auch diese beiden Handlungsstränge. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Schilderung<br />

der Ereignisse nach der Heimkehr. Warum die Zeit davor nicht berücksichtigt<br />

wird, liegt einerseits in Innerhofers vorher veröffentlichten Werken, andererseits<br />

in den Charakteristiken des Genres begründet. Die „Holl-Trilogie“<br />

schildert genau diese Periode von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter,<br />

Anti-Heimat-Literatur konzentriert sich auf die Darstellung der Heimat.<br />

Die Beweggründe <strong>für</strong> das Verlassen von Stadt und Universität werden aber in<br />

der Erzählung angeführt. Es ist eine schwere Identitätskrise, die Lambrecht zum<br />

Entschluss bringt, sich wieder als Arbeiter zu versuchen. Kontrastiv stehen einander<br />

die negative Darstellung der Studienzeit („Selbst das Gebäude der Arbeitermittelschule<br />

hatte ich wenigstens noch gehaßt, aber von den Gebäuden der<br />

Universität, die ich mit ungeheurem Interesse betreten hatte, blieb nichts zu-<br />

177<br />

Görtz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.10.1982, S. 26.<br />

178<br />

A. a. O.<br />

179<br />

Matt, Beatrice von: Rückkehr zu den Arbeitern. Franz Innerhofers neuer Roman. In: Neue<br />

Zürcher Zeitung 8.12.1982, S. 39.<br />

180<br />

Vgl. Solms, in: Polheim (Hg.) 1989, S. 178.


ück. Keine Reue, kein Haß, kein Bedauern.“ 181 ) und die hoffnungsfrohe Projektion<br />

auf das Arbeitsleben gegenüber („Du mußt dir deine Hände zurückerobern.<br />

Die Hände sind dein Ausweg. Nur über sie kannst du vielleicht zu dir<br />

finden.“ 182 ). Diese beiden Pole stehen auch in Verbindung mit den Gegensatzpaaren<br />

Begrenzung und Freiheit. Der Student Lambrecht denkt in seinem<br />

bis „zum Ersticken vollgeräumt[en]“ 183 winzigen Studentenheimzimmer an „Tod,<br />

Untergang und Selbstmordvorhaben“ 184 , während der Arbeiter Lambrecht nach<br />

einer kurzen Arbeitsperiode resümieren kann: „Es ging mir inzwischen schon so<br />

gut, daß ich mich einen glücklichen Menschen nennen durfte.“ 185 Somit ist der<br />

Entschluss zur Heimkehr als einer Möglichkeit zur Findung beziehungsweise<br />

Wiederfindung der eigenen Identität schlüssig begründet. Die Heimkehr präsentiert<br />

sich hier als eine spannungsgeladene, existentielle Grundsituation, die in<br />

dieser oder ähnlicher Form im Gedächtnis der Rezipienten verankert ist und<br />

dementsprechende Assoziationen evoziert. Darauf nimmt auch Lambrecht Bezug,<br />

wenn er den Vergleich mit Homers Helden strapaziert:<br />

Die geistige Odyssee eines Arbeiters lag vor mir ausgebreitet. Eine<br />

ungeheure Müdigkeit überkam mich, wenn ich an die Naivität, den<br />

Eifer und die viele Zeit dachte, die ich aufgewandt hatte, um die Geheimnisse<br />

der Geisteswissenschaft aufzuspüren. [...] Über sieben<br />

Jahre hatte diese Odyssee gedauert. Über sieben Jahre hatte ich<br />

gebraucht, um herauszufinden, daß ich einem aufwendigen Leichenbegängnis<br />

gefolgt war. 186<br />

Auch das Motiv des verlorenen Sohnes, der mittellos in den Schoß der Familie<br />

zurückkehrt, klingt hier an, die weitere Entwicklung bricht jedoch mit dem klassischen<br />

Motivverlauf. Lambrechts Heimkehr folgt einem anderen Schema, das<br />

zugleich auch die Hoffnungen, die mit dem Entschluss zur Heimkehr verbunden<br />

waren, zerstört. Die Heimkehr vollzieht sich auf mehreren Ebenen: es kommt zu<br />

einem Wiedersehen mit der Familie, zu der Lambrecht vor etlichen Jahren alle<br />

Kontakte abgebrochen hat, Lambrecht wird konfrontiert mit der Dorfgemein-<br />

181<br />

Innerhofer, Franz: Der Emporkömmling. Salzburg: Residenz 1982, S. 14. Im Folgenden zitiert<br />

als DE.<br />

182<br />

DE, S. 9.<br />

183<br />

DE, S. 12.<br />

184<br />

DE, S. 10.<br />

185<br />

DE, S. 68.<br />

186<br />

DE, S. 23 – 24.<br />

59


schaft, die ihn als Fremden betrachtet, und nicht zuletzt steht der Protagonist<br />

vor der Herausforderung, wieder im Arbeitsleben Fuß zu fassen. Zu keinem der<br />

drei Milieus hat Lambrecht eine besondere Beziehung. Durch den langen Zeitraum<br />

der Abwesenheit veränderten sich naturgemäß die Verhältnisse. Der<br />

Heimkehrer befindet sich weniger in der Rolle eines verlorenen Sohnes, als<br />

vielmehr in der eines fremden Neuankömmlings.<br />

Die Schilderung der Veränderungen sind fester Bestandteil der Heimkehrszenen<br />

in Familie und Dorf. Der Heimkehr kommt auch hier wieder eine kontrastierende<br />

Funktion zu. Aus der Dialektik zwischen Vergangenheit und Gegenwart,<br />

Heimat der Kindheit und Heimat der Jetztzeit resultieren konflikthafte Situationen.<br />

Denn eine Heimkehr ist stets verbunden mit Erinnerungen an die vergangene<br />

Zeit, diese sind zusätzlich oft sentimental eingefärbt. Die Heimkehr vermittelt<br />

somit auch zwischen Illusion und Realität. Veränderungen einerseits und ein<br />

erweiterter Erfahrungshorizont des Heimkehrers, der einen kritischeren Blick<br />

auf die vorgefundenen Verhältnisse bedingt, andererseits, stellen den Heimkehrer<br />

vor eine große Herausforderung. Das Haus der Kindheit hat sich verändert:<br />

„Ich sah mich um, aber ich entdeckte tatsächlich nichts, was mich an früher erinnerte.<br />

Es kam mir vor, als hätte ich irgendwo auf dem Land ein Fremdenzimmer<br />

betreten. [...] Vertraut waren mir lediglich die Sachen, die ich mitgebracht<br />

hatte.“ 187 Ebenso misslingt der Versuch, sich in die Familie zu integrieren, Kommunikationsversuche<br />

scheitern, der Stiefvater schwelgt lieber in Erinnerungen<br />

an seine nationalsozialistische Vergangenheit.<br />

60<br />

Freilich wußten auch sie nichts mit mir anzufangen. [...] Wie ich redete<br />

und dachte, ließ sich nicht mehr mit dem einst braven und tüchtigen<br />

Arbeiter in Verbindung bringen. Viel näher lag es, mich <strong>für</strong> einen<br />

grundlos unzufriedenen Studenten oder sonst einen Unruhestifter zu<br />

halten. Eine unberechenbare Existenz jedenfalls. 188<br />

Lambrecht wird nicht als Arbeiter gesehen, sondern weiterhin als der Student,<br />

der er nicht mehr sein will. Analog dazu betont die Heimkehr in das Dorf die<br />

Gegensätze, der Ort der Kindheit ist nicht mehr auffindbar, denn sämtliche „öffentlichen<br />

Anstrengungen galten dem Tourismus und dem Schmücken der<br />

187 DE, S. 57.<br />

188 DE, S. 33 – 34.


Landschaft, deren Verkauf den Gemeinden viel Geld brachte.“ 189 Die Heimkehr<br />

nimmt einen Verlauf, wie er sich in Innerhofers drittem Roman abgezeichnet<br />

hat. Darin findet sich eine Passage, die genau diese Entwicklung voraussagt:<br />

Die Milieuwechsler waren ganz auf sich selber angewiesen. Kehrte<br />

eine oder einer gebrochen zu seinem Ausgangsort zurück, lief sofort<br />

alles zusammen und verbreitete die Nachricht, daß die oder der gescheitert<br />

sei. Hörte Holl von solch einem Fall, wurde er jedesmal wütend,<br />

tobte und schwor sich, eher würde er jämmerlich in der Redewelt<br />

verenden, als nur mit einem Schritt in sein früheres Milieu zurückkehren.<br />

190<br />

In diesem Zitat zeigt sich auch deutlich die Rolle des Heimkehrers in der Heimatliteratur.<br />

Das Scheitern in der Fremde macht den Rückkehrer zum Außenseiter.<br />

Der Verlauf der Heimkehr entspricht der Motivgestaltung in der traditionellen<br />

Heimatliteratur. Die Heimkehr offenbart die Gräben zwischen ingroup<br />

und outgroup.<br />

Die Vorstellung, die Welt der Kindheit vorzufinden, erweist sich als Utopie und<br />

so bleibt nur ein frühes, resigniertes Resümee: „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls<br />

nicht die Rede sein.“ 191 Die Heimkehr löst hier einen Prozess aus, der<br />

eine Integration von Beginn an nicht zulässt. Im Gegensatz zur Motivverwendung<br />

in der Heimatliteratur, liegen die Gründe da<strong>für</strong> jedoch nicht beim Heimkehrer,<br />

denn Lambrecht erscheint keineswegs als negative Figur, sondern bei der<br />

ingroup begründet. Der Kontrast zwischen in- und outgroup und die daraus resultierende<br />

Unmöglichkeit der Annäherung zeigt sich sehr gut am Verhältnis<br />

Lambrechts zu seinem Bruder. Schon das erste Wiedersehen nach langen Jahren<br />

am Arbeitsplatz des Bruders, die erste Wiedersehensszene der Erzählung,<br />

verweist auf kommende Verständigungsprobleme. Im Lärm der Maschinen<br />

schreien sich die beiden an, trotzdem ist es unmöglich, sich zu verständigen<br />

und Lambrecht geht wieder. 192 Der Bruder verkörpert das Gegenbild Lambrechts,<br />

er ist der, der Lambrecht sein will, aber nie sein kann: ein fleißiger Arbeiter,<br />

ins Dorfleben integriert. Im Gegensatz zu früher bewundert Lambrecht<br />

189 DE, S. 59.<br />

190 Innerhofer, Franz: Die großen Wörter. München: dtv 1994, S. 53.<br />

191 DE, S. 56.<br />

192 Vgl. DE, S. 17.<br />

61


seinen Bruder und kann sich auch mit dessen früher abgelehnter Einstellung<br />

identifizieren:<br />

62<br />

Ich ließ schließlich von dem Gespräch ab, als Hermann sagte, er<br />

könne nur arbeiten, solange er nicht über alles nachdenke. Dieser<br />

Satz war deutlich genug. Und diesen Satz wurde ich nicht wieder los.<br />

[...] Wahrscheinlich hatte ich schon seit Jahren keinen so deutlichen<br />

Satz mehr gehört, er gefiel mir. Er fing sogar an, mich zu faszinieren,<br />

denn er schloß die Arbeiter nicht vom Denken aus. 193<br />

Andererseits verkörpert Hermann aber auch eine <strong>für</strong> Lambrecht unverständliche<br />

Einstellung:<br />

Es gab da jene von Studenten und Intellektuellen vergeblich bekämpfte<br />

Zeitung, die er zu meinem Entsetzen ziemlich regelmäßig<br />

kaufte. [...] Immer lag diese großformatige, machthaberische Zeitung<br />

in den engen Behausungen herum. Sie paßte so gar nicht zu meinem<br />

Bruder. Er war das Gegenteil von aufgeblasen, machtsüchtig<br />

und böswillig. 194<br />

Hier zeigt sich die Aporie von Lambrechts Heimkehr. Er hat sich durch die Zeit<br />

in der Fremde andere Einstellungen angeeignet, seinen Horizont erweitert, die<br />

Fähigkeit zu kritischer Reflexion erworben. Dieser Prozess kann nicht mehr<br />

rückgängig gemacht werden. In diesem Spannungsfeld präsentiert sich auch<br />

die Heimkehr in das Arbeitermilieu. Das Motiv übernimmt hier eine vermittelnde<br />

Funktion. Angesichts des Scheiterns auf den anderen Handlungsebenen bietet<br />

die Arbeitswelt die letzte Chance, Heimat und Identität zu finden. Lambrecht<br />

tendiert zu einer idyllisierenden Betrachtung des Milieus, die Arbeiter werden<br />

stellenweise heroisiert: „Da waren Arbeiter darunter, die so ungeheure Leistungen<br />

erbrachten, daß mir vorkam, ein böser Traum sei über sie hergefallen und<br />

habe sie in das 19. Jahrhundert versetzt.“ 195 Aus der Sicht eines verzweifelten<br />

Menschen mag diese Strategie verständlich erscheinen, dies ändert jedoch<br />

nichts an der Tatsache, dass Lambrecht hier unglaubwürdig wirkt. Anfangs<br />

scheint sich der Misserfolg auch auf dieser Ebene nach dem schon beschriebenen<br />

Muster zu prolongieren. Lambrecht muss feststellen, dass auch die Arbeiter<br />

193 DE, S. 30 – 31.<br />

194 DE, S. 78 – 79.<br />

195 DE, S. 77.


„unzugänglich, unansprechbar [...] [a]ngetrieben von Gier und Mißtrauen“ 196 aneinander<br />

vorbei leben, und sich ihm gegenüber „kühl, mißtraurisch und geringschätzig“<br />

197 verhalten. Es gelingt ihm jedoch funktionierende Beziehungen zu<br />

einigen Arbeitskollegen aufzubauen und Teil der ingroup zu werden: „Nein, darauf<br />

waren wir nicht vorbereitet. [...] Keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen,<br />

daß wir es zu aufregenden Unterhaltungen bringen würden.“ 198 Die<br />

Heimkehr setzt hier einen anderen Verlauf in Gang, der Lambrechts Sonderstellung<br />

als arbeitender Intellektueller, beziehungsweise intellektueller Arbeiter<br />

spiegelt.<br />

Auf längere Sicht hat jedoch eine Lösung dieser Situation zu erfolgen und hier<br />

geht das Heimkehr- in das Fluchtmotiv über:<br />

Während etlicher Monate waren wir ohne Fernseher ausgekommen.<br />

Während etlicher Monate wußten wir uns selber zu unterhalten.<br />

Wenn ich jetzt abends zu unserer Baracke zurückging, war nach<br />

dem Eintritt oft mein erster Handgriff, daß ich den Fernsehapparat<br />

einschaltete. [...] Das kam von den Wiederholungen, die uns Tag <strong>für</strong><br />

Tag kreuzigten. Einziges Mittel dagegen: aufstehen und weggehen!<br />

So dachte ich jedenfalls in der Früh. 199<br />

Dieser Konflikt zwischen Heimkehr und Flucht wird durch ein abermaliges Verlassen<br />

der Heimat vorerst bereinigt. Lambrecht nützt die Möglichkeit, durch einen<br />

Förderungspreis an seiner Karriere als Schriftsteller zu arbeiten und in die<br />

Stadt zurückzukehren, die Heimkehr kann als gescheitert bezeichnet werden.<br />

„Gelöst war freilich nichts“ 200 , reflektiert denn auch der abermalige Milieuwechsler<br />

vor seiner Rückkehr in eine ungewisse Zukunft. Das Thema Heimat- und<br />

Identitätssuche wird fortgesetzt, symptomatisch da<strong>für</strong> ist, dass sich Lambrecht<br />

auf der Rückreise, weil er sich dort geborgen fühlt, lange am Bahnhof, einem<br />

anonymen und dezentralen Ort der Heimatlosen, Abreisenden und Heimkehrer,<br />

aufhält. 201<br />

196 DE, S. 48.<br />

197 DE, S. 76.<br />

198 DE, S. 63.<br />

199 DE, S. 116.<br />

200 DE, S. 117.<br />

201 Vgl. DE, S. 121.<br />

63


Nach einer Analyse, die sich vorwiegend auf die erzähltechnische und strukturelle<br />

Funktion des Heimkehrmotivs konzentriert hat, soll das folgende Resümee<br />

auch eine inhaltliche Interpretation beinhalten, da Motive nicht nur strukturelle,<br />

sondern auch inhaltliche Elemente sind und die inhaltliche Komponente in Bezug<br />

auf die Verortung im Genre der Anti-Heimat-Literatur von Bedeutung ist.<br />

Das Leben als Werksstudent in der Fabrik war nur eine Übergangsphase im<br />

Leben Holls beziehungsweise Lambrechts. Abschließend muss die Rückkehr<br />

als gescheitert betrachtet werden: „Ein Versuch der Scheitern muß, denn einmal<br />

in Gang gekommen, läßt sich wohl ein solcher Bewußtseinsprozeß, den der<br />

Protagonist vom Arbeiter zum Intellektuellen durchlebte, kaum mehr rückgängig<br />

machen. Trotzdem startet er den aussichtslosen Versuch.“ 202<br />

Zweifelsohne gelingt es Lambrecht, seine Identitätskrise vorläufig zu bewältigen,<br />

dabei idealisiert er jedoch die Arbeitswelt und sieht über bedauerliche Arbeitsbedingungen<br />

hinweg. Das System, das die Arbeiter im Akkord ausnützt<br />

und sie zu einem Leben in Baracken zwingt, stellt die Erzählung leider nie in<br />

Frage. Trotz des teilweisen Entwurfs einer Sozialutopie der Arbeitswelt überwiegen<br />

bei einer genauen Analyse die negativen Schilderungen. Oft nur angedeutet,<br />

muss man oft zweimal hinsehen, um die Details in ihrer Gesamtheit zu<br />

erfassen.<br />

Die Analyse von Lambrechts Heimkehr ergibt ein ambivalentes Bild. Die Arbeit<br />

verhilft Lambrecht anfangs zur Überwindung seiner schweren persönlichen Krise.<br />

Allerdings weicht mit fortschreitender Dauer die anfängliche Euphorie der<br />

Ernüchterung. Die aktive Kommunikation mit den Kollegen wird durch passives<br />

Fernsehen ersetzt. Das Dorf und das elterliche Haus haben sich verändert. Der<br />

Ort der Kindheit, als einer der wenigen Orte, die Heimat vermitteln können, erfüllt<br />

im Falle Lambrechts diese Aufgabe nicht. Auch die nötigen sozialen Interaktionen<br />

beziehungsweise die Identitätsbildung in der Gruppe, wie bei Bastian<br />

und Greverus angeführt, kommen nicht zustande. „Der Emporkömmling“ ist die<br />

Erzählung einer Heimkehr, die sich sehr nahe an der Hauptfigur orientiert, was<br />

durch die Ich-Erzählform und die zahlreichen Reflexionen Lambrechts unterstrichen<br />

wird. Das Heimkehrmotiv wird nicht entsprechend der klassischen Ver-<br />

202 Freund, in: Wespennest 53 (1983), S. 43.<br />

64


wendungsweise eingesetzt. So fehlt etwa die Geschlossenheit der Darstellung,<br />

das Ende der Erzählung ist offen. Auch die Zeit in der Fremde wird nur ansatzweise<br />

skizziert, der Focus liegt auf der Schilderung der Situation nach der<br />

Heimkehr. Durch die Heimkehr entsteht eine Situation, die auch den durchaus<br />

kritischen Blick auf die Heimat mit ihren Veränderungen ermöglicht. Lambrecht<br />

resigniert und verdrängt, anstelle sich aktiv mit den durch die Heimkehr aufgeworfenen<br />

Problemen auseinanderzusetzen. Er bleibt ein klassischer Außenseiter.<br />

Seine Reintegration gelingt nur zum Teil im Falle der Arbeiterschaft, aber<br />

auch dort nimmt er in seiner Rolle als Werksstudent eine Sonderposition ein.<br />

Bezug nehmend auf die Unterscheidung, die Daemmrich/Daemmrich hinsichtlich<br />

der Verwendung des Heimkehrmotivs getroffen haben, muss festgestellt<br />

werden, dass sich die Erzählung zwischen beiden Polen bewegt, wobei im Laufe<br />

der Erzählung die negative Variante immer stärker zum Ausdruck kommt.<br />

Die Frage, die Wilhelm Solms gestellt hat, mag durchaus berechtigt erscheinen,<br />

ist jedoch klar zu beantworten, auch weil Solms´ Argumentation sehr dünn, und<br />

sein Resümee, dass die Entwicklung Innerhofers ein Niedergang sei, nicht<br />

nachvollziehbar ist. 203 Die Geschichte Lambrechts ist eine maßgebliche Ergänzung<br />

der Holl-Trilogie. Selbstverständlich ist die Erzählung in ihrer Drastik und<br />

Negativität weit von Innerhofers Debüt entfernt, die Schilderung der Heimat erfolgt,<br />

wie anhand der Textstellen ausführlich bewiesen, ambivalent, jedoch tendenziell,<br />

trotz einer bisweilen ausgeprägten Verklärung der Arbeitswelt, kritisch<br />

bis negativ. Innerhofer thematisiert den noch immer nicht ausgestorbenen Geist<br />

des Nationalsozialismus, er weist auf die negativen Auswirkungen des Tourismus<br />

in ländlichen Gebieten hin. Damit steht die Erzählung zwischen den Phasen<br />

zwei und drei nach Robert Menasse. Durch das Motiv der Heimkehr wird<br />

eine externe Sichtweise auf die Heimat ermöglicht. Die Heimkehr selbst zeigt<br />

versöhnliche aber auch resignative Züge. Die Erwartungen des Heimkehrers<br />

werden nicht völlig erfüllt, in Familie und Dorf bleibt er ein Außenseiter. Heimat<br />

findet er nicht, er geht zurück in die Stadt, weiterhin auf der Suche nach sich<br />

selbst. Heimatroman ist „Der Emporkömmling“ definitiv keiner, vielmehr eine facettenreiche,<br />

leider stellenweise unreflektierte, Erzählung aus der Anti-Heimat,<br />

die es verdient, intensiver als nur oberflächlich gelesen zu werden.<br />

203 Vgl. Birgfeld 2002, S. 26.<br />

65


Wenn Schwarz in Bezug auf Innerhofers Tetralogie anmerkt, dass „kein anderer<br />

österreichischer Gegenwartsautor – anklagend, Sinn suchend und verstehend –<br />

ein so vielseitiges Bild der sozialen österreichischen Wirklichkeit in Stadt und<br />

Land gezeichnet hat...“ 204 , so befindet sie sich auf einer Linie mit Robert<br />

Menasse, der den Informationswert der Anti-Heimat-Literatur, bezüglich der kulturellen<br />

und gesellschaftlichen Realität, über jenen von soziologischen Untersuchungen<br />

gestellt hat. Diese Tatsache ist als weiterer Beweis <strong>für</strong> die Zugehörigkeit<br />

von Innerhofers Erzählung zum Genre der Anti-Heimat-Literatur zu werten.<br />

8 „Er regredierte hier...“ – „Schubumkehr“ von<br />

Robert Menasse<br />

8.1 Zitat-Montage und Anti-Heimat-Roman<br />

Menasses Thesen zur österreichischen Literatur, im Speziellen zum Anti-<br />

Heimat-Roman, wurden im Rahmen dieser Arbeit bereits vorgestellt. Mit<br />

„Schubumkehr“ (1995) hat der Schriftsteller Menasse einen Roman verfasst,<br />

der, unter anderem, die Thesen des Literaturwissenschafters Menasse in die<br />

literarische Praxis umsetzt. „Schubumkehr“ bildet den Abschluss der „Trilogie<br />

der Entgeisterung“, die Menasse als Gegenentwurf zu Hegels „Phänomenologie<br />

des Geistes“ (1807) verfasst hatte. Vor „Schubumkehr“ erschienen „Sinnliche<br />

Gewissheit“ (1989) und „Selige Zeiten, brüchige Welt“ (1991). 205 In der Trilogie<br />

wird die Ansicht vertreten, dass sich der Mensch seit Hegels absolutem Wissen<br />

rückentwickelt hat, hin zu einer Anschauung, die nichts mehr auszusagen vermag,<br />

was über das bloße Sein des Gegenstandes hinausgeht.<br />

204<br />

Schwarz, in: Zeman (Hg.) 1989, S. 1180.<br />

205<br />

In „Sinnliche Gewißheit“ schreibt die Hauptfigur Leo Singer an einer „Phänomenologie der<br />

Entgeisterung“. Ein Essay mit dem gleichen Titel wurde von Menasse 1991 unter dem Pseudonym<br />

Leo Singer und 1995 unter seinem eigenen Namen publiziert. Insofern müsst man eigentlich<br />

von einer vierbändigen Trilogie sprechen. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wissen.<br />

Die Roman Gilanian-Trilogie. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu<br />

Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 264 – 284,<br />

S. 264 – 265.<br />

66


Die drei Romane gehen den Weg des werdenden Wissens in umgekehrter<br />

Richtung: vom absoluten, sich selbst denkenden Geist, der<br />

das Sein in seiner Totalität und den Zusammenhang aller Phänomene<br />

begreifen kann, über die beobachtende und handelnde Vernunft,<br />

das Selbstbewusstsein, zurück bis zum Bewusstsein, das – in der<br />

unmittelbaren sinnlichen Gewissheit verhaftet – nicht imstande ist,<br />

das Ganze zu erkennen und nur in Beziehung zu sich selbst steht.<br />

Der geistlose Zustand des sinnlichen Bewusstseins äußert sich in<br />

der unmittelbaren Erfahrung des hic et nunc. 206<br />

Mit „Schubumkehr“ habe Menasse einen „depressiven und witzigen Österreich-<br />

Roman“ 207 geschrieben, eine Geschichte, „die sich trotz oder wegen ihrer offensichtlichen<br />

Fiktionalität zu einem erschreckend realistischen Panorama nicht<br />

nur der österreichischen Gegenwart verdichtet“ 208 , meinen die einen, während<br />

andere Kritiker nur eine Aneinanderreihung abgestandener Vorurteile sehen<br />

und das Etikett Anti-Heimat-Roman durchaus abwertend verwenden. 209 Wenn<br />

Breitenstein in „Schubumkehr“ einen österreichischen Wenderoman sieht, so<br />

bezieht sich er dabei auch auf die Anti-Heimat-Literatur, die sich den Herausforderungen<br />

der Postmoderne anzupassen habe: „Ein Horizont schliesst sich,<br />

ein neuer geht auf: Über die Dörfer wird man nach diesem Buch auf- und abgeklärter<br />

schreiben müssen.“ 210 „Schubumkehr“ präsentiert sich als „Zitatenreigen<br />

der Literatur- und Philosophiegeschichte, der die auf die postmoderne Lust am<br />

Spiel versessenen Herzen höher schlagen [lässt], ohne dabei die lediglich an<br />

den vordergründig erzählten Geschichten interessierten Leser auch nur zu tan-<br />

gieren.“ 211<br />

Diese Aussage fasst die Erkenntnis zusammen, die sich aus der Lektüre der<br />

zahlreichen Aufsätze, die bis dato zu „Schubumkehr“ erschienen sind, ergibt:<br />

206 Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren. Geschichte(n)<br />

in „Schubumkehr“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk von<br />

Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007, S. 213 – 225, S. 215. Vgl. auch Gerk, Andrea: Eine<br />

Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. In:<br />

Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“.<br />

Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 37 – 49, S. 38.<br />

207 Hoffmann-Ostenhoff, Georg: Heimkehr und Zerfall. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse.<br />

Graz: Droschl 2004, S. 166 – 169, S. 166.<br />

208 Liessmann, Konrad Paul: Da muss es ja alles zerlegen. In: Der Standard (Beilage)<br />

24.5.1995, S. 5.<br />

209<br />

Vgl. Heyl, Tobias: Camcorder und Tiefsinn. In: Der Falter (Beilage) 31.3.1995, S. 16.<br />

210<br />

Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer Wenderoman<br />

„Schubumkehr“. In: Neue Zürcher Zeitung 24.2.1995, S. 36. Die Formulierung „Über die<br />

Dörfer“ ist eine Anspielung auf das gleichnamige dramatische Gedicht von Peter Handke.<br />

211<br />

Holler, Verena: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur „Trilogie der Entgeisterung“.<br />

In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004, S. 27 – 58, S. 27.<br />

67


Der Roman kann auf zwei unterschiedliche Arten gelesen werden. Zum einen<br />

im Kontext der „Trilogie der Entgeisterung“ als Teil einer geschichtsphilosophischen<br />

Auseinandersetzung auf Basis der Hegelschen „Phänomenologie<br />

des Geistes“ und zum anderen als postmoderner Anti-Heimat-Roman ohne Verbindung<br />

zur Trilogie. Denn auch ohne die Fülle an Zitaten, die Menasse in<br />

„Schubumkehr“ in den Text eingebaut hat, zu erkennen (beispielsweise sprechen<br />

die Komprechtser Kommunalpolitiker in Zitaten der österreichischen Politprominenz),<br />

erschließt sich ein Zugang zum Text. Dem Konzept dieser Arbeit<br />

entsprechend stehen bei der nachfolgenden Analyse die intertextuellen Bezüge<br />

und geschichtsphilosophischen Überlegungen im Hintergrund. In erster Linie erfolgt<br />

eine Konzentration auf das Heimkehrmotiv und den Bezug zur Anti-<br />

Heimat-Literatur.<br />

68<br />

8.2 Heimkehr als Regression<br />

In „Schubumkehr“ ist kein erzählendes Subjekt mehr auszumachen. Erzählt<br />

wird aus zwei Perspektiven: zwei Kriminalbeamte betrachten und kommentieren<br />

Romans Videoaufnahmen, ohne sich einen Reim darauf machen zu können.<br />

Den Rest ergänzt eine auktoriale Erzählstimme.<br />

Der Roman als Endpunkt einer Entwicklung weg vom Geist, der das Sein in<br />

seiner Totalität und seinen Zusammenhängen begreift, stellt den Rezipienten<br />

vor die Aufgabe, Zusammenhänge selber erkennen zu müssen. Begründungen<br />

<strong>für</strong> Handlungen und Ereignisse werden nicht geboten, Zusammenhänge zeigen<br />

sich vorerst nicht. Die Geschichte der Heimkehr wird also nicht, wie bei Gerhard<br />

Fritsch, Franz Innerhofer und auch Peter Zimmermann in der Ich-Form erzählt,<br />

sondern auf die oben beschriebene Art. Somit kommt dem Heimkehrmotiv eine<br />

weit geringere Bedeutung zu, als in den anderen drei Werken.<br />

In „Schubumkehr“ werden sieben Erzählstränge miteinander verknüpft, dementsprechend<br />

vielschichtig zeigt sich der Themenbereich: „Grün-<br />

Bewegung;Strukturpolitik; Arbeitslosigkeit; Irrsinnige; Literaturzitate; Aberglau-


en; Zeugungen; Verzweiflungen; Versuche abzunehmen; Kindermorde; und so<br />

fort;“ 212<br />

Unschwer zu erkennen ist Komprechts ein Symbol <strong>für</strong> Österreich, dessen<br />

Eigenheiten sich in der Dorfwelt wieder finden: „Das Österreich-Molekül Komprechts<br />

enthält: Österreichs verdrängten Faschismus; dessen Wiederkunft als<br />

mörderische Fremdenfeindlichkeit; die Selbstentfremdung Österreichs als touristischer<br />

Konsumartikel; das Kasperltheater österreichischer Koalitionspoli-<br />

tik.“ 213<br />

Der Multiperspektivität des Romans entsprechend gibt es kaum strukturierende<br />

Elemente. Auch das Heimkehrmotiv kann diese Funktion nicht übernehmen. Da<br />

die Geschichte Romans im Gesamtkontext nur eine von mehreren ist, der<br />

Heimkehrer also nicht im Zentrum der Handlung steht, wirkt sich das Heimkehrmotiv<br />

auch nicht auf den gesamten Text aus. Auf den Roman in seiner Gesamtheit<br />

bezogen, hat das Motiv bei weitem nicht die handlungsauslösende und<br />

-strukturierende Funktion wie bei Fritsch, Innerhofer und Zimmermann. Jedoch<br />

lassen sich, vor allem in Bezug auf Roman Gilanians Geschichte, durchaus wesentliche<br />

erzähltechnische Funktionen erkennen, welche in Folge dargestellt<br />

werden sollen.<br />

Die Mehrheit der oben angeführten Themen hat mit der Geschichte des 35jährigen<br />

Literaturdozenten, der aus Brasilien zu seiner Mutter ins Waldviertel<br />

zurückkehrt, wenig zu tun. Romans Heimkehr bildet nur einen Teil des Romans.<br />

Der zweite Handlungsstrang dreht sich, als Ergebnis der Verflechtung mehrerer<br />

Erzählstränge, um das „strukturschwache“ Dorf Komprechts im tiefsten Waldviertel,<br />

nahe an der tschechischen Grenze. Im Jahr 1989 steht Komprechts,<br />

aufgrund wirtschaftlicher Probleme, vor großen strukturellen Veränderungen:<br />

„Die Zeit drängte. So wie es war, konnte es nicht bleiben, so wie es gewesen<br />

war, konnte es nicht mehr werden. Es mußte etwas geschehen.“ 214 Was <strong>für</strong><br />

Komprechts gilt, trifft auch auf Roman zu. Auch er befindet sich in einer krisen-<br />

212<br />

Aspetsberger, Friedbert: Schnitzler – Bernhard – Menasse. Der Umstandsmeier – Der Angeber<br />

– Der Entgeisterer. Wien: Sonderzahl 2003, S. 117 – 118.<br />

213<br />

Gollner, Helmut: Österreich-Molekül. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98 – 99, S.<br />

99.<br />

214<br />

Menasse, Robert: Schubumkehr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 78. Im Folgenden zitiert<br />

als SU.<br />

69


haften Situation. Die Beweggründe <strong>für</strong> die Heimkehr erschließen sich dem Leser<br />

jedoch nicht, was wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt, da der weitere<br />

Handlungsverlauf nicht imaginiert werden kann. Eine typische Heimkehrsituation<br />

ist gekennzeichnet von einer schlüssigen Begründung der Entscheidung<br />

zur Rückkehr, was im Falle von Romans Heimkehr nicht der Fall ist. Die Ausgangssituation<br />

ist einigermaßen nachvollziehbar, die Krise des Protagonisten<br />

wird zwar exponiert, Begründung <strong>für</strong> den Entschluss zur Rückkehr gibt es jedoch<br />

keine, genauso wenig wie eine Darstellung der mit der Rückkehr verbundenen<br />

Absichten und Ziele. Wohl weckt die Rückkehr zur Mutter kurz Assoziationen<br />

an das Motiv des Verlorenen Sohnes, in der (über-)freudigen Aufnahme<br />

durch die Mutter erschöpft sich die Ähnlichkeit jedoch wieder. Roman wird beim<br />

Gedanken an die Heimkehr von äußerst widersprüchlichen Gefühlen gequält.<br />

Einerseits verspürt er starke Abneigungen, zu seiner Mutter in die „[t]iefste Provinz<br />

eines ohnehin schon zutiefst provinziellen Landes“ 215 zurückzukehren, andererseits<br />

plagt ihn auch ein Gefühl diffusen Heimwehs: „Heimweh, aussichtsloses<br />

Heimweh: Entwurzelung. Als wäre er erst jetzt, nach sieben Jahren<br />

Wegsein, in der Fremde angekommen.“ 216 Der überstürzte Aufbruch erinnert an<br />

eine Flucht, schlussendlich kann sich Roman seine Entscheidung selbst nicht<br />

erklären: „Daß er so plötzlich heimflog. Warum? Er dachte: Ich weiß es nicht.<br />

Wann kommst du wieder? Er dachte: Ich weiß es nicht. Bald!“ 217<br />

Die Besonderheiten des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“ liegen in der Umdrehung<br />

herkömmlicher Motivverläufe begründet. Das Motiv strukturiert die Geschichte<br />

Roman Gilanians, indem es erstens seine Situation in der Fremde der<br />

Situation in der Heimat gegenüberstellt und zweitens die Kindheit mit der Gegenwart<br />

vergleicht. Dem herkömmlichen Fokus des Motivs auf die Darstellung<br />

der Veränderungen entgegengesetzt, lässt sich in „Schubumkehr“ eine Tendenz<br />

zur Parallelisierung erkennen. Die dritte Besonderheit bezieht sich auf das<br />

Verhältnis zwischen ingroup und outgroup. Nachfolgend sollen diese Aspekte in<br />

der genannten Reihenfolge erörtert werden.<br />

215 SU, S. 42.<br />

216 SU, S. 43.<br />

217 SU, S. 55.<br />

70


Das Motiv der Heimkehr zieht einen Schnitt durch Romans Leben, indem die<br />

Zeit in Brasilien der Zeit in Österreich gegenübergestellt wird. Die Gegenüberstellung<br />

zeigt jedoch keine Kontraste, sondern Kontinuitäten auf. Die Krise Romans<br />

wird prolongiert. Die Heimkehr löst einen Handlungsverlauf aus, der die<br />

zunehmende Regression Romans zur Folge hat. Die Identitätskrise vor der<br />

Rückkehr manifestiert sich in Alpträumen, in denen Roman überfallen und niedergeschlagen<br />

und anschließend wie ein Fremder durch die Stadt irrt, sowie in<br />

der andeutungsweisen Schilderung seiner problematischen Beziehung zu seiner<br />

Freundin. 218 Die Alpträume finden eine Entsprechung in der Realität Komprechts.<br />

Auch hier bleibt Roman ein Fremder, der mit der Videokamera die Geschehnisse<br />

im Dorf festhält, ohne Zusammenhänge erkennen zu können. Seine<br />

psychische Situation ist unverändert: „Die Vorstellung, was wäre, wenn er in<br />

Brasilien geblieben wäre, irritierte ihn genauso, wie die Tatsache, daß er hier<br />

war. Ihn irritierte alles.“ 219 Die Realität überfordert Roman auch in der Heimat<br />

jeden Tag aufs Neue. In Brasilien („Dann spielte er drei Stunden mit seinem<br />

Camcorder. Er filmte alle Räume seines kleinen Hauses, [...] betrachtete den<br />

Film auf dem Bildschirm, dann überspielte er ihn auf eine Videokassette, die er<br />

zu den anderen ins Regal stellte.“ 220 ) und noch exzessiver in Komprechts („Er<br />

kaufte ein zweites Videogerät [...], seine Ersparnisse schmolzen dahin, es war<br />

ihm egal, sie waren ohnehin zu gering, um eine Entscheidung treffen zu können,<br />

die sein Leben qualitativ verändern würde.“ 221 ) schaltet er seine eigene<br />

Wahrnehmung aus und den Camcorder ein, der Akt des Filmens tritt mehr und<br />

mehr an die Stelle des eigenen Denkens. Komprechts zeigt sich Roman als Ort,<br />

„wo [d]u nichts von all dem verstehst, was [d]u siehst oder erlebst oder erfährst.“<br />

222 Das Heimkehrmotiv fungiert hier als Schaltstelle zwischen zwei Welten<br />

mit ähnlichem Verlauf. Durch die Heimkehr beschleunigt sich der Verfall des<br />

Protagonisten, der Prozess der Rückentwicklung auf das Stadium der „Sinnlichen<br />

Gewißheit“ erfährt in Komprechts eine verschärfte Fortsetzung.<br />

218 Vgl. SU, S. 24 – 33.<br />

219 SU, S. 75.<br />

220 SU, S. 17 – 18.<br />

221 SU, S. 148.<br />

222 SU, S. 85.<br />

71


Neben dem Vergleich zwischen Brasilien und Österreich fungiert das Heimkehrmotiv<br />

als Schnittstelle zwischen Kindheit und Gegenwart. Die Heimkehr<br />

führt Roman gefühlsmäßig zurück in die Vergangenheit. Seine Mutter hat ihm<br />

ein Kinderzimmer eingerichtet: „Alles was er je besessen hatte, was aus irgendeinem<br />

Grund nie weggeworfen worden und in seinem ehemaligen Zimmer<br />

oder im Abstellraum der Wiener Wohnung verstaut gewesen war und vergessen<br />

war, ist nach dem Verkauf der Wohnung in dieser <strong>für</strong> ihn bestimmten<br />

Kammer des Bauernhauses gelandet.“ 223<br />

Dieses Zimmer, das ihm bald zu einer „kleinen Zelle“ 224 wird, löst keine sentimentalen,<br />

durch die vergangenen Jahre verklärten, Erinnerungen aus, vielmehr<br />

kommt es zu einer schmerzhaften Aufarbeitung einer schwierigen Zeit. Erst<br />

durch die Heimkehr wird in Roman ein Erinnerungsprozess ausgelöst, dem er<br />

sich bisher widersetzt hat. „Die Kindheit präjudiziert gar nichts“ 225 , vermeinte er<br />

zu wissen und wird nun eines besseren belehrt, er verspürt Hass, Verachtung,<br />

Gefühle von Peinlichkeit und Gepeinigt-Worden-Sein. 226<br />

Der schmerzhafte Erinnerungsprozess als Ausdruck seiner Identitätskrise ist<br />

mitverantwortlich da<strong>für</strong>, dass Komprechts ein Rätsel <strong>für</strong> ihn bleibt: „Zu schaffen<br />

macht mir in Wahrheit nicht die äußere, sondern die innere, die private Rätselhaftigkeit<br />

meines Lebens.“ 227 Durch die Gegenüberstellung der Kindheit und der<br />

Gegenwart zeigen sich die Parallelen zwischen den beiden Lebensabschnitten.<br />

Als Internatszögling den Quälereien der Mitschüler ausgesetzt, war es Romans<br />

einzige Freude, heimlich unter der Bettdecke lesen zu können. Dazu geht er<br />

auch in Komprechts über: „Aber wie einfach war sie jetzt wieder herstellbar,<br />

diese über allem Schmerz zerfließende Wonne: Da waren seine Bücher von<br />

damals. Und da war seine neue Taschenlampe.“ 228 Die Gegenüberstellung von<br />

Kindheit und Gegenwart zeigt auch die Kontinuität der problematischen Mutter-<br />

Sohn-Beziehung. Die Mutter nennt Roman Romy, steckt ihn in sein altes Kinderzimmer<br />

und behandelt ihn wie ein Kind, „das man schon wie einen Großen<br />

223 SU, S. 61.<br />

224 SU, S. 102.<br />

225 SU, S. 72.<br />

226 Vgl. SU, S. 72.<br />

227 SU, S. 86.<br />

228 SU, S. 107.<br />

72


ehandeln konnte.“ 229 Dem Tod des Vaters in der Kindheit entspricht die Trennung<br />

seiner Mutter vom neuen Ehemann in der Gegenwart, die Ergebnisse sind<br />

dieselben. Vergangenheit („Der Vater war tot – und die Zeit darauf schlief er im<br />

Bett seiner Mutter. Er genoß es. Er durfte nicht zeigen, daß er es genoß. Sie<br />

schliefen aneinandergepreßt in schweigender starrer Trauer.“ 230 ) und Gegenwart<br />

(„Später schmiegte er sich im Schlaf an sie, umschlang sie, drückte sich an<br />

ihren Rücken, sie wachten auf, es kam ihm zu Bewusstsein, was er tat und daß<br />

der Satz in seinem Kopf war: Ich nehm sie mit.“ 231 ) führen zu denselben Verhaltensmustern.<br />

Die Heimkehr überfordert Roman, er reagiert mit Depression und<br />

Regression. Auch die Umstellung der Mutter auf einen gesunden, alternativen<br />

Lebenswandel hat Roman verstört und irritiert, dementsprechend erfreut reagiert<br />

er als sich diese Entwicklung wieder umkehrt: „Roman hatte das Gefühl,<br />

daß er erst jetzt allmählich heimkehrte“ 232 , „[j]a, so war seine Mutter, so ist sie<br />

gewesen. Es tat sich Heimat auf.“ 233 Erst durch diese Rückentwicklung auch<br />

der Mutter kann sich Romans Regression vollständig entfalten.<br />

Eine Entwicklung wie diese lässt nur zwei Möglichkeiten offen: entweder eine<br />

totale psychische Erkrankung oder den Abschied aus der Heimat. Im Handlungsverlauf<br />

erschließt sich sehr bald, dass eine Flucht unabdingbar ist. Dies<br />

zeigt sich in gelegentlichen Reflexionen Romans, die seine Zerrissenheit widerspiegeln:<br />

Ich befinde mich hier im Haus meiner Mutter in einem kleinen geschlossenen<br />

Wahnsystem, das natürlich den steten Impuls bei mir<br />

bewirkt, so schnell wie möglich zu flüchten. Warum tue ich es nicht?<br />

Ich ertappe mich seltsamerweise immer wieder bei einem [...] auf<br />

den hier herrschenden Wahnsinn fixierten Staunen, so daß ich mich<br />

schön langsam frage, ob ich nicht süchtig nach dem bin, wovor ich<br />

flüchten will. 234<br />

Das Heimkehrmotiv steht in Verbindung mit zwei entgegen gesetzten Tendenzen,<br />

wobei eine davon eine pathologische Ausprägung zeigt. Eine logische<br />

Konsequenz dieser Situation ist, dass es zu einer Lösung kommen muss. Wie<br />

229 SU, S. 160.<br />

230 SU, S. 106.<br />

231 SU, S. 159.<br />

232 SU, S. 116.<br />

233 SU, S. 118.<br />

234 SU, S. 86.<br />

73


auch bei Innerhofer ist Romans Heimkehr nur temporär, es gelingt dem Heimkehrer<br />

seine Situation zu erfassen: „Er regredierte hier, das war ihm durchaus<br />

bewußt, nicht mehr lange, und er würde nur noch in seiner Spielecke sitzen, vor<br />

seinen Videogeräten, ab und zu gefüttert werden, und bald würde er nur noch<br />

lallen.“ 235 Roman erkennt seinen Zustand und erkennt auch die fatale Richtung,<br />

die sein Leben genommen hat:<br />

74<br />

So war er starr vor dem Bildschirm gesessen – STOP, AUS, plötzlich<br />

der Gedanke, daß im Moment des Todes das Leben wie ein Film vor<br />

einem ablaufen soll, und was machte er? Er stellte diese Situation<br />

technisch her – und dann sollte er die Augen schließen? Dieser Film<br />

ist kein Leben gewesen, nur Ersatzmaterial, reproduzierbar und ohne<br />

Belang, von nachvollziehbarer Bedeutung nur das Banalste: unbewußt<br />

und unbeabsichtigt hatte er den Wechsel der Jahreszeiten aufgenommen<br />

[...] Weil er kein Leben mehr hatte, dachte er, und dieser<br />

Gedanke wütete und randalierte in ihm so brutal wie die schlimmste<br />

Krankheit. 236<br />

Somit vollzieht sich im letzten Moment eine Kehrtwendung, das Stadium der totalen<br />

Regression bleibt Roman erspart, eine Lösung der Probleme hat die<br />

Heimkehr nicht gebracht, der weitere Verlauf von Romans Biographie ist offen.<br />

Das Heimkehrmotiv geht wieder über in das Fluchtmotiv, wohin die Flucht führt,<br />

bleibt im Dunkeln, Romans letzte Videokassette ist unbespielt: „Vielleicht ist er,<br />

wie soll ich sagen, aufgewacht. Alptraum aus und zu Ende. Und er hat deshalb<br />

auf seine letzte leere Kassette einfach draufgeschrieben: ENDE.“ 237<br />

Nun zur dritten Besonderheit des Heimkehrmotivs in „Schubumkehr“. Heimkehrsituationen<br />

werfen stets die Frage auf, wie sich der Heimkehrer in das soziale<br />

Gefüge der Heimat einfügen wird. Im Gedächtnis der Rezipienten sind dazu<br />

verschiedene Muster gespeichert, die sich aus den bisherigen Lektüreerfahrungen,<br />

sowie aus der eigenen Biographie rekrutieren. In „Schubumkehr“ bricht<br />

das Heimkehrmotiv mit bisher bekannten Verläufen. Denn die nahe liegende<br />

klassische ingroup-outgroup-Konfrontation ergibt sich nicht. Zwischen Roman<br />

und den Dorfbewohnern entwickelt sich kaum Interaktion, wenn Roman einmal<br />

in Komprechts auftaucht, dann nur an Nebenschauplätzen in der Rolle eines<br />

235 SU, S. 160.<br />

236 SU, S. 160 – 161.<br />

237 SU, S. 180.


unbekannten Fremden. Der Heimkehrer, der sich auch selbst als „nur ein Tourist,<br />

sozusagen ein Tourist“ 238 deklariert, spielt die Rolle eines passiven Beobachters<br />

und Chronisten, der von der Bevölkerung kaum wahrgenommen beziehungsweise<br />

ignoriert, mit seiner Videokamera die Vorgänge im Dorf dokumentiert.<br />

Die Heimkehr wirkt sich also inhaltlich nicht auf die Ereignisse in Komprechts<br />

aus, erzähltechnisch ist das Motiv jedoch in zweierlei Hinsicht von Bedeutung.<br />

Romans Videoaufnahmen, kommentiert von zwei Polizeibeamten, bilden<br />

eine Erzählinstanz und präsentieren dem Leser, neben der auktorialen Erzählstimme,<br />

die Geschehnisse im Dorf. Der gewohnte kritische Blick des<br />

welterfahrenen Heimkehrers wird hier durch ein Medium ersetzt, das zwar Momente<br />

exakt wiedergeben kann, jedoch nicht imstande ist, Zusammenhänge<br />

oder Erklärungen zu liefern. Es ist die Aufgabe des Lesers, Romans Bilder zueinander<br />

in Beziehung zu setzen.<br />

Wenn es auch zu keiner Interaktion zwischen Roman und der ingroup kommt,<br />

so geht die Entwicklung auf diesen beiden Ebenen doch in die gleiche Richtung.<br />

Der Heimkehrer und das Dorf leben aneinander vorbei und steuern ihren<br />

jeweiligen Katastrophen entgegen, welche große Ähnlichkeiten aufweisen:<br />

Roman ist in die ´Gerümpelkammer seiner Kindheit`[...] heimgekehrt<br />

und ganz Komprechts frönt der Lust am falschen Zusammenhang.<br />

Nicht nur der Steinbruch, der einst ´das Ganze gewesen` war, degeneriert<br />

zur ´Trümmerlandschaft`, selbst der alte riesige Wald ist zum<br />

Trümmerhaufen zerfallen. 239<br />

Durch die Heimkehr Romans spiegeln sich der Zerfall und die Fragmentierung<br />

seines Bewusstseins in den Geschehnissen in Komprechts:<br />

Zukunft prallt auf Vergangenheit und detoniert als Katastrophe der<br />

Gegenwart. Der Protagonist Roman prallt auf seine Mutter Anne und<br />

wird dabei seines verdrängten Lebensdilemmas gewahr. Der Ort<br />

Komprechts prallt auf die Leichen in seinem Keller und verliert in einer<br />

beinahe antikischen Tragödie die Betreiber seiner Zukunft. 240<br />

238<br />

SU, S. 104.<br />

239<br />

Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29.<br />

240<br />

Vgl. Gollner, in: Literatur und Kritik 293/294 (1995), S. 98. Auf diese gleichzeitige Vorwärtsund<br />

Rückwärtsbewegung verweist auch der Titel des Romans.<br />

75


Zusammenfassend seien noch einmal die Merkmale des Heimkehrmotivs in<br />

„Schubumkehr“ angeführt. Ein fluchtartiges und wenig durchdachtes Verlassen<br />

Brasiliens lässt <strong>für</strong> den weiteren Verlauf alle Möglichkeiten offen, die Absichten<br />

und Ziele Romans lassen sich nicht eruieren. Diese Ausgangssituation bewirkt,<br />

dass herkömmliche Muster der Heimkehr nicht auf Romans Situation angewendet<br />

werden können. Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt sich das Motiv als<br />

Schaltstelle zwischen Romans alter und neuer Heimat beziehungsweise zwischen<br />

Vergangenheit und Gegenwart. Romans Krise erfährt jedoch nicht durch<br />

die veränderten Gegebenheiten eine Verschärfung, sondern durch die offensichtlichen<br />

Kontinuitäten und Parallelen. Auf den Gesamtkontext der Romanhandlung<br />

bezogen, nimmt das Motiv nur eine marginale Position ein und wirkt<br />

sich inhaltlich kaum aus. Erzähltechnisch jedoch ist das Motiv <strong>für</strong> eine von zwei<br />

Erzählperspektiven verantwortlich. Auf struktureller Ebene spiegelt sich der Verlauf<br />

der Heimkehr Romans in den Geschehnissen im Dorf wieder. Die Verbindung<br />

des Motivs mit einem psychopathologischen Abwehrmechanismus als einer<br />

untypischen Verhaltensweise stellt eine neue Kombination <strong>für</strong> den Rezipienten<br />

dar und erweitert damit das Motivrepertoire. Der Wegfall jeglicher ingroupoutgroup-Interaktion<br />

bedeutet einen weiteren Bruch mit konventionellen Verläufen.<br />

Ebenso ungewöhnlich präsentiert sich die Figur des Protagonisten, die in<br />

keiner Weise an das geläufige Bild vom Heimkehrer anschließen kann, da er<br />

sich weder zu integrieren versucht, noch zu kritischer Reflexion der heimatlichen<br />

Verhältnisse fähig ist.<br />

Abschließend sei noch auf das Verhältnis der Heimkehr zur Anti-Heimat-<br />

Thematik eingegangen. „Schubumkehr“ muss auch als Anti-Heimat-Roman gelesen<br />

werden. Im speziellen Fall Romans verknüpft sich seine Geschichte jedoch<br />

nicht mit den <strong>für</strong> dieses Genre typischen Themen. Die Anti-Heimat entfaltet<br />

sich vor Romans Augen, ohne dass er sie bewusst wahrnimmt. Komprechts<br />

ist ein Dorf, aber keine Heimat, könnte man in Anlehnung an Menasses These<br />

zu Österreich formulieren. Im Mikrokosmos der Gemeinde vereint Menasse das<br />

seiner Meinung nach typisch Österreichische. Auf der Suche nach einer neuen<br />

Identität regrediert die Gemeinde zu einer touristischen Kulisse, zu einer<br />

Scheinidylle, deren Aufrechterhaltung bereitwillig ein vermeintliches Ausländerkind<br />

geopfert wird. Wenn es Roman nicht gelingt, sich in diese Welt einzufügen,<br />

so liegt dies nicht nur in seiner eigenen Identitätskrise begründet (denn wer kei-<br />

76


ne eigene Identität hat, kann auch keine Heimat finden), vielmehr zeichnet<br />

Menasse ein Komprechts respektive Österreich, welche a priori keine Heimat<br />

sein können und jede Heimkehr zum Scheitern verurteilen.<br />

9 „Mach aus dir eine Insel“ – „Das tote Haus“ von<br />

Peter Zimmermann<br />

9.1 Variante des Anti-Heimat-Romans<br />

„Das tote Haus“ ist der dritte Roman des österreichischen Schriftstellers und<br />

Journalisten Peter Zimmermann. Die wenigen Rezensionen sind geprägt von<br />

einer sehr positiven Grundhaltung und einer überraschenden Einigkeit in Bezug<br />

auf die Klassifikation des Romans. Die Rezensenten sehen „Das tote Haus“<br />

übereinstimmend zumindest in der Nähe der Anti-Heimat-Literatur. Strigl verweist<br />

auch auf die Nähe zu Hans Leberts „Der Feuerkreis“, sie bezeichnet das<br />

Werk als eine Mischung aus Western und schwarzem Heimatroman. 241 Eva<br />

Schobel spricht von einem „Antiheimatroman, der keine Fluchtbewegung zulässt,<br />

Literatur, die wehtut.“ 242 Schwens-Harrant erwähnt die Fülle der literarischen<br />

Österreichklischees, die Zimmermann im Roman verwendet, ohne dies<br />

aber abwertend zu meinen. Sie betont die düstere und geheimnisvolle Atmosphäre<br />

und sieht im Roman ein Buch über Rassismus, über Erdulden, den<br />

Ausbruch von Gewalt und örtliche sowie psychische Enge. 243 Nach Pfabigans<br />

Ansicht spielt der Roman massiv mit den Grundthemen der Anti-Heimat-<br />

Literatur: „Stumpf, katholisch, und ´national` – so leben die Menschen am Land,<br />

und was einmal nationalsozialistisch war, ist notdürftig mit sozialdemokrati-<br />

241<br />

Vgl. Strigl, Daniela: Beton im Bayou. In: Der Falter 15.6.2007, S. 56. Auch auf eine Nähe zu<br />

Thomas Bernhards „Auslöschung“, sowie zu „Korrektur“ und „Beton“ wird hingewiesen, ohne<br />

jedoch Epigonalität zu kritisieren.<br />

242<br />

Schobel, Eva: Stille, Qual und Phantomschmerz. Peter Zimmermanns schnörkellose, grausame<br />

Antiidylle „Das tote Haus“ lässt keine Fluchtbewegung zu. In: Der Standard (Album)<br />

30.6.2007, S. A 6.<br />

243<br />

Vgl. Schwens-Harrant, Brigitte: Die Träume auf den Müll geworfen. Peter Zimmermanns<br />

recht düsterer Antiheimatroman. In: Die Presse (Spectrum) 17.6.2007, S. VII.<br />

77


schen Phrasen übertüncht.“ 244 Bis auf einige Kritikpunkte betreffend stilistische<br />

Mängel wurde „Das tote Haus“ sehr positiv rezensiert. Die einhellig festgestellte<br />

Nähe zum Genre der Anti-Heimat-Literatur überrascht insofern, da Zimmermann<br />

selbst keineswegs beabsichtigt hat, einen Anti-Heimat-Roman zu schreiben.<br />

Er betrachtet Anti-Heimat-Literatur bereits als Teil der Literaturgeschichte.<br />

245 Für ihn sind die Hauptthemen des Romans die Kraft der Erinnerung, das<br />

Versagen der Liebe, der Einbruch des Fremden ins Vertraute und die Gewalt. 246<br />

Auch wenn der Autor jegliche Intentionen leugnet, so lassen sich in seinem<br />

Roman Merkmale der Anti-Heimat-Literatur finden, auch nach Menasses Kriterien<br />

kann das Werk diesem Genre zugeordnet werden. Wenn Meyer-<br />

Siekendiek bemerkt, dass die österreichische Anti-Heimat-Literatur sich durch<br />

eine unvergleichliche „Akkumulierung düsterer, schrecklicher und grausamer<br />

Phantasien“ 247 von anderen Nationalliteraturen unterscheidet, so fällt es<br />

schwer, diese Feststellung nicht auf Zimmermanns Roman zu übertragen. Nicht<br />

zuletzt schöpft der Autor, wie auch Franz Innerhofer, aus seiner Biographie, indem<br />

er die Erlebnisse seiner Kärntner Kindheit und Jugend zu einer Art verdichtetem<br />

Panorama 248 zusammenfügt.<br />

78<br />

9.2 Suche nach der Stille<br />

Der Roman besteht aus drei Zeitebenen, die ineinander montiert sind. Die jeweiligen<br />

Abschnitte variieren in ihrer Länge von nur wenigen Sätzen bis zu<br />

mehreren Seiten. Der namenlose Ich-Erzähler protokolliert seine Kindheit und<br />

Jugend, sowie seine Zeit in den USA. Mit der Ankunft im Heimatdorf beginnt die<br />

Zeitebene der Gegenwart. Es wird in der Ich-Form erzählt, nur jene Abschnitte<br />

der Kindheit und Jugend, die in direktem Zusammenhang zu Familie und Haus<br />

stehen, werden in der dritten Person erzählt, der Erzähler berichtet von sich als<br />

„der Junge“. Die Kindheit im größten Haus des Dorfes, gelegen auf einer klei-<br />

244 Pfabigan, Alfred: Flucht im Zwischendeck. „Das tote Haus“: Peter Zimmermanns Variante<br />

des Anti-Heimat-Romans. In: Wiener Zeitung (Beilage) 10.6.2006, S. 11.<br />

245 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115.<br />

246 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />

247 Meyer-Sickendiek, in: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/, 31. 7. 2007.<br />

248 Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 115 – 116.


nen Anhöhe am Dorfrand war geprägt von Schweigen und Angst. Es kommt zu<br />

keiner sentimentalen Verklärung der alten Heimat. Schonungslos rekonstruiert<br />

der Ich-Erzähler eine traumatische Kindheit.<br />

Das titelgebende Haus, eine „kalte Festung“ 249 , „zweitausend Kubikmeter provinzieller<br />

Trotz“ 250 , „eher ein grau verwaschener Monolith mit Kanten und Spitzen<br />

als eine Behausung“ 251 , wurde bewohnt von den Großeltern, sowie den Eltern<br />

des Jungen. Der Junge selbst musste mit wenig Zuneigung auskommen,<br />

die beiden Frauen wetteiferten um die Gunst des Vaters, der Großvater interessierte<br />

sich hauptsächlich <strong>für</strong> andere Frauen. Wenn der Junge die Erwachsenen<br />

störte wurde er in ein abgelegenes Zimmer gebracht, abgeschoben „ein Ding<br />

unter Dingen, überflüssig wie alles, was hier seit Jahrzehnten lagerte“ 252 , wo er<br />

alleine mit seinen Ängsten die Zeit verbringen musste. 253 Ein Bild an der Wand,<br />

Picassos „Akrobatenfamilie mit Affe“ war es, das dem Jungen eine bis heute<br />

andauernde Angst einjagte: „Das Bild hängt immer noch an der selben Stelle,<br />

und die Erinnerung an meinen ersten Blick darauf [...] treibt mir noch jetzt den<br />

Schweiß auf die Stirn.“ 254 Was die Familie verband, war nicht Kommunikation,<br />

sondern Schweigen, wie in der nächsten Passage auch formal dargestellt wird:<br />

Ich erinnere mich noch heute mit Schrecken an die Einsamkeit, die<br />

einen umfing, selbst wenn man hätte meinen können, das Haus wäre<br />

belebt wie ein Bienenstock. Die Mutter in der Küche [...] stumm; die<br />

Großmutter im Garten [...] stumm; der Vater im Schlafzimmer [...]<br />

stumm; und der Großvater [...] Auch er stumm. 255<br />

Episodenhaft erschließt sich das Bild einer tristen Jugend auf dem Land, die einem<br />

Heranwachsenden wenig Perspektiven bietet. Die Erwachsenen trinken,<br />

die Jugendlichen nehmen bewusstseinserweiternde Drogen, oder was ihnen<br />

unter dieser Bezeichnung verkauft wird:<br />

249<br />

Zimmermann, Peter: Das tote Haus. Berlin: Kato 2006, S. 20. Im Folgenden zitiert als TH.<br />

250<br />

TH, S. 16.<br />

251<br />

TH, S.16.<br />

252<br />

TH, S. 63.<br />

253<br />

Der Junge selbst nannte es Blaubarts Zimmer, in Anlehnung an das Märchen von König<br />

Blaubart: „Wer es betritt muss sterben, heißt es im Märchen. Und manchmal auch in der Wirklichkeit.“<br />

TH, S. 42.<br />

254<br />

TH, S. 47.<br />

255<br />

TH, S. 20 – 21.<br />

79


80<br />

Auf dem Land wollen die Leute abheben, da kommt ihnen jeder<br />

Rausch gerade recht. [...] [A]lle Menschen auf dem Land trinken, die<br />

Frauen heimlich und die Männer öffentlich, aber alle aus demselben<br />

Grund: sie sind nicht <strong>für</strong>einander geschaffen. Sie heiraten aus Verzweiflung,<br />

aus Langeweile, aus Gewohnheit, aus Einsamkeit, Männer<br />

beeindrucken Frauen mit frisierten Autos, Frauen Männer mit gekreischten<br />

Scheinorgasmen. 256<br />

Nur fragmentarisch zeigt sich das Bild der Jugend, Details bleiben im Dunkeln,<br />

ebenso wie die genaue Motivation zum Mord an den Eltern, der den Abschied<br />

von der Heimat markiert. In den Sekunden nach dem Mord verspürt der Junge<br />

eine Stille, die sein zukünftiges Leben beherrschen wird. Die Suche nach einer<br />

Rückkehr dieses Moments steht im Zentrum all seiner weiteren Bemühungen.<br />

Seine Flucht führt ihn nach Amerika, wo er heiratet, sich wieder scheiden lässt<br />

und in die Sümpfe Louisianas zieht. Dort wird ein Neger, vom Ku-Klux-Klan seiner<br />

Zunge beraubt, sein stummer Begleiter. Von seiner Zeit in der Fremde<br />

bleibt die Feststellung, dass „Amerika eine herbe Enttäuschung war.“ 257<br />

„Das tote Haus“ bietet eine Vielzahl von Bildern und Motiven, von Anspielungen<br />

und intertextuellen Verweisen. Der Roman würde sich eine intensivere Analyse<br />

verdienen. Im Rahmen dieses Kapitels soll aber noch ein letztes Mal die Funktion<br />

des Heimkehrmotivs im Zentrum stehen. Es geht also darum, dieses und<br />

die damit verbundenen Motive und Themen näher zu analysieren.<br />

In der Reise des Protagonisten durch die USA klingt das Motiv des Wanderns<br />

an, das in seiner Auffächerung in Ausfahrt, Wegsuche und Einkehr auf typische<br />

menschliche Grundhaltungen verweist. 258 In Zimmermanns Roman gleicht die<br />

Wanderung einer Irrfahrt, bestimmt von der Suche nach einer verlorenen Empfindung.<br />

Die Wanderung wird durch die Heimkehr beendet, die Suche jedoch<br />

geht weiter. Durch die Thematik der Suche sind Wander- und Heimkehrmotiv<br />

miteinander verknüpft, letzteres löst ersteres im linearen Handlungsablauf ab.<br />

Wenn Strigl schreibt: „Der verlorene Sohn kehrt heim, wo man ihn in einer Mischung<br />

aus Angst und Hass erwartet“ 259 , so bemüht sie dieses Motiv nicht ganz<br />

zu Recht, denn im Dorf erwartet niemand den Heimkehrer, niemand empfängt<br />

256 TH, S. 31 – 32.<br />

257 TH, S. 30.<br />

258 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 372.<br />

259 Strigl, in: Der Falter 15.6.2007, S. 56.


ihn. Eher schon eignet sich die Odyssee als Referenzpunkt, einerseits durch die<br />

Irrfahrt in der Fremde und andererseits durch den Verlauf der Heimkehr, wie<br />

auch Zimmermann selbst anmerkt: „...auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu<br />

einem Gefühl der Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg.“ 260 Zu diesem<br />

Krieg später mehr.<br />

Der Roman beginnt mit der Ankunft des Protagonisten und seines Begleiters im<br />

Dorf. Erst danach beginnt der Ich-Erzähler mit der Schilderung der anderen<br />

Zeitebenen. Somit ist die Heimkehr Ausgangspunkt <strong>für</strong> einen Rückblick auf das<br />

bisherige Leben. Durch die Parallelmontage verschiedener Zeitebenen zeigt die<br />

Heimkehr die Veränderungen beziehungsweise Kontinuitäten zwischen der<br />

Heimat der Kindheit und der Heimat der Gegenwart:<br />

Alles wie vor einem halben Leben, nur ein wenig verkommener. Aus<br />

Erwachsenen sind Greise geworden, aus Säuglingen Arbeitslose und<br />

Frührentner, aus dem ersten Aufwallen der Gefühle Kinder, gezeugt<br />

an Autositzen, in Kellerabteilen und auf pflegeleichten Bettsofas, und<br />

aus einer endlosen Kette von Enttäuschungen der Tod im Rausch. 261<br />

Was die Heimkehr offenbart, sind keine richtigen Veränderungen, vielmehr Verschlechterungen<br />

ohnehin schon ungünstiger Verhältnisse. Deutlich wird dem<br />

Heimkehrer vor Augen geführt, welches Schicksal er sich durch sein Weggehen<br />

erspart hat: Die Leute von früher haben ihre Träume schon längst auf den Müll<br />

geworfen und „leben, so sie überhaupt noch leben, in Gefängnissen, Entziehungsanstalten,<br />

an Sauerstoffflaschen hängend in stinkenden Einzimmerwohnungen<br />

oder mit einem künstlichen Arschloch daheim bei den Eltern, in ihren alten<br />

Jugendzimmern, und beziehen ihr Taschengeld vom Sozialamt.“ 262<br />

Es sind drastische Worte die der Heimkehrer da von Ela, seiner Jugendliebe zu<br />

hören bekommt. Ela steht stellvertretend <strong>für</strong> all jene, die es nicht über den Rand<br />

des Dorfes hinausgeschafft haben. Ein letztes Mal kommt es zu einer Annäherung,<br />

dabei verschmilzt die Erinnerung an den ersten Kuss mit dem emotionslosen<br />

Versuch, die alten Gefühle noch einmal heraufzubeschwören. Beendet wird<br />

die mehr traurige, denn lustvolle Annäherung abrupt durch die Hinrichtung des<br />

260 Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />

261 TH, S. 12.<br />

262 TH, S. 65.<br />

81


Negers. 263 In der Konfrontation mit Ela zeigt sich sehr deutlich der Unterschied<br />

zwischen dem Heimkehrer und den Daheimgebliebenen. Es ist die Erfahrung<br />

des Weitgereisten, die ihm die Augen öffnet und ihn die Stagnation der heimischen<br />

Verhältnisse erkennen lässt. Über die Jahrzehnte unverändert das Haus:<br />

„Ich bin das einzige Ding, das dieses Zimmer wieder verlassen hat, sonst steht<br />

alles noch an seinem Platz, wie damals an meinem fünften Geburtstag…“ 264 ,<br />

unverändert auch die ingroup. Der Großvater des Heimkehrers war der Bürgermeister<br />

des Ortes und als solcher verantwortlich <strong>für</strong> die Genehmigung von<br />

Neubauten: „Ein Haus das auffalle, sagte er, sei ein auffälliges Haus. Und ein<br />

Hausherr, der durch ein auffälliges Haus erreichen wolle, dass man ihn <strong>für</strong> einen<br />

außergewöhnlichen Menschen halte, werde sich damit nicht bescheiden…“<br />

265 Gegen die Individualität und gegen ein Abweichen von der Norm richtet<br />

sich die Bauordnung nach wie vor. Der Umbau, den der Heimkehrer durchführt,<br />

stößt auf offene Ablehnung. Der Bürgermeister, so erfährt man ist Anhänger<br />

der Sozialwohnung: „Genormte Einheiten in einheitlichen Bauten sind <strong>für</strong><br />

ihn der Garant […] <strong>für</strong> die Unterbindung des persönlichen Faschismus…“ 266 Die<br />

Bevölkerung des Dorfes hat sich nicht aus der „Bunkermentalität des „Wir-sind-<br />

Wir“ 267 herausgewunden, die Heimkehr zeigt sehr deutlich, dass es zu einem<br />

Konflikt zwischen den Neuankömmlingen und den Alteingesessenen kommen<br />

muss, wie auch der Heimkehrer, spät aber doch, erkennt: „Es wird schwierig,<br />

sage ich. Es hat sich nichts verändert.“ 268<br />

Neben dem Vergleich von Einst und Jetzt dient die Heimkehr auch dazu, die<br />

Fremde und die Heimat zu vergleichen. Der Begleiter des Heimkehrers ist<br />

stumm, weil ihm vom Ku-Klux-Klan die Zunge abgeschnitten wurde. In der<br />

Kärntner Provinz erfährt der Südstaatenrassismus, als Symbol <strong>für</strong> eines der<br />

dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten, seine traurige<br />

Entsprechung. Der Neger, Prototyp des bedrohlichen Fremden, dazu in Trachtenkleidung<br />

gesteckt, eine „unverschämte[n] Verhöhnung alpiner Traditio-<br />

263<br />

Vgl. TH, S. 127 – 138.<br />

264<br />

TH, S. 64.<br />

265<br />

TH, S. 81.<br />

266<br />

TH, S. 103.<br />

267<br />

Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />

268<br />

TH, S. 120.<br />

82


nen“ 269 , wird von den Kindern gejagt und von den Erwachsenen verprügelt.<br />

Spätestens als er sich wehrt, sind seine Tage gezählt. Während der Neger als<br />

klassisches Feindbild leicht einzuordnen ist, bietet der Heimkehrer Anlass <strong>für</strong><br />

Verwirrung. Der Mensch, der hier nach Hause zurückkehrt, ist genauso rätselhaft<br />

wie seine Absichten im Dorf. Ein Dandy mit Vorliebe <strong>für</strong> teure Anzüge und<br />

extravagantes Schuhwerk. In der Literatur ist der Dandy eine kaum jemals vorbildhaft<br />

dargestellte Figur. Auch hier muss man sich fragen, wie groß der Unterschied<br />

zwischen Dandy und ingroup ist. Denn ist eine Person, die einen Afroamerikaner<br />

zu Provokationszwecken in die Landestracht steckt und sich von<br />

ihm den Rücken waschen lässt, nicht auch des Rassismus verdächtig?<br />

Der Dandy steht seiner Umwelt gleichgültig gegenüber und legt vor allem Wert<br />

auf äußere Eleganz, der Schein ist ihm wichtiger als das Sein. 270<br />

Der Typus des Heimkehrers, der tendenziell nach einer Wiederaufnahme in die<br />

Gemeinschaft strebt, findet sich hier im Typus des Dandys repräsentiert, der<br />

keine Interessen <strong>für</strong> provinzielle soziale Systeme hegt. Die zwei auf den ersten<br />

Blick unvereinbaren Typen weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die Suche<br />

nach der eigenen Identität. Denn es ist nur eine Maske, die sich der Heimkehrer<br />

verpasst hat, um die eigene Vergangenheit zu verdrängen: „Er ist jemand, der<br />

vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das nicht klappt. Das Dandyhafte<br />

ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu verpassen.“ 271<br />

So rätselhaft wie die Figur sind auch die Gründe <strong>für</strong> die Rückkehr. Die Frage<br />

nach den Beweggründen wird, zugunsten der Aufrechterhaltung der Spannung,<br />

erst spät beantwortet. Anfangs erscheint sie nicht als eine existentielle Notwendigkeit,<br />

eine Krise des Protagonisten lässt sich vordergründig nicht erkennen.<br />

Der Entschluss zur Heimkehr fiel spontan und unerwartet: „Ich muss dir sagen,<br />

dass ich nie ernsthaft erwogen habe zurückzukommen, trotz allem, was mir in<br />

Amerika passiert ist. Aber jetzt denke ich, es ist nun einmal das einzige Zuhause,<br />

das ich je hatte.“ 272<br />

Der Romantitel suggeriert es und zu Beginn scheint es auch, als würde das<br />

Haus im Zentrum der Heimkehr stehen. Die fatale Verbindung der Hauptfigur<br />

269<br />

TH, S. 125.<br />

270<br />

Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 90 – 91.<br />

271<br />

Interview Peter Zimmermann, S. 118.<br />

272<br />

TH, S. 54.<br />

83


mit diesem wird dargelegt: „Das Haus der Kindheit überlagert alle Häuser, die<br />

man in seinem späteren Leben betritt. […] Ich bin mit diesem Haus verwachsen.<br />

Mit seinem Geruch, mit seiner Kälte und mit seiner Hässlichkeit.“ 273<br />

Wie Daemmrich/Daemmrich anmerken, steht das Haus als Motiv in enger Verbindung<br />

mit dem Motiv der Heimkehr als Zeichen <strong>für</strong> eine Veränderung im Leben<br />

der Figuren, und kann sich unter Umständen auch zum Gegenspieler des<br />

Handlungsträgers entwickeln. Im Betrachten eines Hauses kann sich eine Person<br />

kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. 274 Diese Funktionen<br />

erfüllt das Haus auch im Roman. Mit dem Betreten des Hauses, das im<br />

ersten Kapitel nur von außen betrachtet wurde, verdichten sich die Erinnerungen<br />

an die schreckliche Kindheit und die Absichten des Heimkehrers erfahren<br />

eine konkretere Gestaltung: „Das muss alles raus, sage ich. Ich will ein Haus<br />

ohne Vergangenheit und ohne Möglichkeit, sich darin eine Zukunft vorzustellen,<br />

verstehst du?“ 275<br />

Auch anhand dieser Passage wird ersichtlich, dass sich die Heimkehr hier jeglicher<br />

Deutung verweigert. Die alten gespeicherten Muster lassen sich nicht über<br />

den Text legen. Zumindest lässt sich erahnen, dass Veränderungen stattfinden<br />

sollen. Veränderungen, die der Heimkehrer initiiert und die wohl mit seiner Vergangenheit<br />

zusammenhängen. Das Auslöschen der Vergangenheit mag plausibel<br />

erscheinen, doch ein Haus ohne Zukunft? Dies wäre dann ein Haus nur <strong>für</strong><br />

einen Augenblick, <strong>für</strong> einen Moment. Erst gegen Ende von Kapitel zwei klärt<br />

sich auf, um welchen Moment es sich dabei handelt:<br />

84<br />

Nach dem Aufschlag des Leichnams am Boden war die Stille im<br />

Zimmer atemberaubend. Nichts war zu hören, kein Vogel und kein<br />

Wind, kein Knacken der Äste in den Bäumen, kein Auto von der fernen<br />

Hauptstraße, keine Stimmen in den Wänden. Ich hörte nicht<br />

einmal mein Herz schlagen oder das Blut in den Ohren rauschen, es<br />

war, als wäre das Zimmer aus der Welt geschleudert worden. 276<br />

Hier verbindet sich das Motiv der Heimkehr mit dem, laut Autor einzigen durchgängigen<br />

Motiv des Textes, also dem Leitmotiv. 277 Die Suche nach diesem<br />

273<br />

TH, S. 16 – 17.<br />

274<br />

Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995, S. 187 – 188.<br />

275<br />

TH, S. 45.<br />

276<br />

TH, S. 67 – 68.<br />

277<br />

Vgl. Interview Peter Zimmermann, S. 118.


Moment der Stille wurde zum Lebensinhalt des Protagonisten, ein aussichtsloses<br />

Unterfangen, egal ob im schalltoten Raum des Hauses in Louisiana oder<br />

auf einem Tafelberg in Ohio. 278 Somit erscheint die Rückkehr als letzte Hoffnung,<br />

die Stille wenigstens am Ort des Verbrechens noch einmal zu erleben.<br />

Dazu muss zuerst der Gegenspieler, das Haus selbst ausgeschaltet werden,<br />

denn „dieses Haus wird zu deinem Gefängnis, sobald du es wieder betrittst. Es<br />

ist, wie soll ich es sagen, es ist, als würdest du in einem Geflecht aus Erinnerungen<br />

hängen bleiben, es sei denn, und jetzt hör mir gut zu, du bringst die<br />

Kraft auf, alles zu zerstören.“ 279<br />

Die Herausforderung, die hier an den Rezipienten gestellt wird, ist die Verweigerung<br />

konventioneller Heimatdefinitionen. Um Heimat und Identität zu finden,<br />

benötigt es einen konkreten Raum und vor allem auch soziale Beziehungen.<br />

Der Dandy in Zimmermanns Roman verweigert sich von Beginn an jeglicher Interaktion<br />

mit der ingroup und zieht sich in sein Haus zurück: „Mach aus dir eine<br />

Insel, hörst du? Gibt es einen edleren Anspruch an sich selbst?“ 280 Das Haus,<br />

als hermetisch abgeriegeltes Territorium, ist längst nicht mehr nur Wohnraum,<br />

es ist eine Festung und Provokation <strong>für</strong> die Dorfbewohner. Die Funktion des<br />

Motivs nach Daemmrich/Daemmrich ist klar: hier findet eine Abrechnung mit der<br />

Heimat statt. Der Heimkehrer positioniert sich bewusst außerhalb der Gemeinschaft.<br />

Das Heimkehrmotiv erhält eine neue Verlaufsmöglichkeit, die sich mit<br />

herkömmlichen Schemata nicht überschneidet. Die Heimat des Dandys ist nicht<br />

von dieser Welt. Der Krieg gegen das Dorf ist der letzte Akt im Kampf mit einer<br />

Welt, an der er letztendlich zugrunde gegangen ist. Die Heimkehr ist gescheitert<br />

und endgültig: „Der Erzähler verharrt im Innenraum der Stille wie in einem<br />

Grabmal. Die Welt wird ihn nicht mehr sehen.“ 281 Die Stille ist zurück, wird aber<br />

zur Qual:<br />

Doch jetzt, unter der nackten Glühbirne, bist du allein wie nie. [...]<br />

Vielleicht ist die Stille eine Art Phantomschmerz, eine Erinnerung an<br />

die Qual vielstimmiger Weltwahrnehmung, was auch immer. Tatsa-<br />

278 Vgl. TH, S. 66 – 73.<br />

279 TH, S. 90 – 91.<br />

280 TH, S. 188.<br />

281 Interview Peter Zimmermann, S. 119.<br />

85


86<br />

che ist, dass die Stille einem den Atem raubt. Nichts ist beklemmender<br />

als die anwesend empfundene Abwesenheit von Geräusch. 282<br />

Trotz dieses Endes entspricht „Das tote Haus“ von allen im Rahmen dieser Arbeit<br />

behandelten Werken am ehesten der klassischen Heimkehrergeschichte.<br />

Die Zeit vor dem Weggehen, die Zeit in der Fremde und die Zeit nach der<br />

Heimkehr werden geschildert, zwar nicht lückenlos, aber die wichtigsten Episoden<br />

werden erwähnt. Die Krise des Protagonisten und die Veränderungen in<br />

der Heimat werden ebenso thematisiert. Die Abschiedsszene verschweigt uns<br />

der Ich-Erzähler, begründet liegt dies im fluchtartigen Verlassen der Heimat.<br />

Dass eine Lösung der Probleme und Aufnahme in die Gemeinschaft nicht erfolgen<br />

kann, liegt in den, dem Genre der Anti-Heimat-Literatur inhärenten Charakteristiken<br />

begründet.<br />

Das Heimkehrmotiv weist in diesem Werk auch den unkonventionellsten Verlauf<br />

auf. Es löst einen Handlungsablauf aus, der im Vorhinein nicht absehbar ist und<br />

wesentlich zum Spannungsaufbau beiträgt. In Kombination mit anderen Motiven<br />

(Dandy, Haus) ergeben sich Konstellationen, die keinen bekannten Mustern zugeordnet<br />

werden können und somit auch keine Voraussagen <strong>für</strong> den weiteren<br />

Handlungsverlauf zulassen. So manches bleibt rätselhaft und auch das Ende ist<br />

mehr als unkonventionell. An den traditionellen Heimatroman erinnert die<br />

ingroup-outgroup-Konstellation, wobei man dem heimkehrenden Dandy nicht<br />

immer mit Sympathie begegnen kann. Bei Zimmermann wird die Heimat zu einem<br />

Ort, um den zu kämpfen es sich nicht mehr lohnt. In seiner Kärntner Topographie<br />

aus „Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung“ 283<br />

und Gewalt erscheint es a priori unmöglich Heimat zu finden. Nur eine totale<br />

Destruktion der alten Kulissen und ein gleichzeitiges Verharren am Ort des<br />

Schreckens können den gewünschten Gefühlszustand noch einmal herstellen.<br />

Dies jedoch um den Preis der eigenen Existenz. „Das tote Haus“ sollte kein Anti-Heimat-Roman<br />

werden und geht in seiner Drastik auch über das Genre hinaus.<br />

Diese beklemmende Verdichtung und Überzeichnung autobiographischer<br />

Momente könnte man als eine Non-Heimat-Literatur bezeichnen, die jeglichen<br />

Heimatbegriff von vornherein negiert.<br />

282 TH, S. 188 – 189.<br />

283 Interview Peter Zimmermann, S. 116.


Besonders drastisch zeigt sich, dass es Heimat ohne soziale Beziehungen nicht<br />

geben kann. Ein Territorium alleine, sei es Manhattan, der Bayou oder das verzauberte<br />

Zimmer, ist zuwenig. Die Kindheit, die der Protagonist nach seiner<br />

Heimkehr noch einmal ausführlich reflektiert, war begleitet von negativen Emotionen,<br />

von nicht vorhandener Kommunikation und von einer nicht vorhandenen<br />

Bindung an die Familie. Geborgenheit und Heimat konnte der Junge nicht erfahren.<br />

Für den Heimkehrer bietet sich somit von vornherein keine Möglichkeit,<br />

an die Heimat der Kindheit anzuknüpfen. Die ersten Sozialisationserfahrungen<br />

wirken sich auf das gesamte spätere Leben aus: „Diese Prägungen schleppt<br />

man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich die Lebensumstände vollkommen<br />

ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug,<br />

Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“ 284<br />

An dieser Stelle sei noch einmal Schlink zitiert: „Die Erinnerungen machen den<br />

Ort zur Heimat, die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch<br />

die Sehnsucht nach dem, was vergangen und verloren ist,...“ 285 „Das tote Haus“<br />

bietet keinen Platz <strong>für</strong> sentimentale Erinnerungen, hier wird Heimat wirklich zu<br />

einem utopischen Begriff, die Heimkehr zu einer Selbstaufgabe, die in der Auslöschung<br />

der eigenen Existenz ihr Ende findet.<br />

10 Funktionen des Heimkehrmotivs<br />

Welche Erkenntnisse ergeben sich nun aus der Betrachtung des Heimkehrmotivs<br />

in den obigen vier Anti-Heimat-Romanen? Dieses abschließende Kapitel<br />

gliedert sich in drei Teile, in denen die Erkenntnisse zusammengefasst und<br />

Verbindungen zwischen dem theoretischen und interpretatorischen Teil hergestellt<br />

werden sollen. Der erste Teil dreht sich um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

der vier Motivverläufe. Es soll versucht werden, das Spezifische des<br />

Heimkehrmotivs in den jeweiligen Werken zu eruieren und dessen erzähltechnische<br />

Funktion(en) herauszuarbeiten. Natürlich kann eine Analyse von nur vier<br />

Werken nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, die Auswahl von<br />

284 Interview Peter Zimmermann, S. 116.<br />

285 Schlink 2000, S. 33.<br />

87


Werken aus vier Jahrzehnten sollte es aber ermöglichen, Aussagen in Bezug<br />

auf eventuell vorhandene Konstanten und Kontinuitäten zu treffen. Es soll also<br />

versucht werden, Konstanten und Variablen zu definieren. Als Referenzpunkt<br />

dienen stets die Verläufe der klassischen Heimkehrergeschichte, sowie die traditionelle<br />

Heimatliteratur, als deren Teilgebiet die Anti-Heimat-Literatur auch<br />

bezeichnet werden kann. Die Divergenz beziehungsweise die Ähnlichkeit zu<br />

diesen Genres weist auf den Grad der Innovation (beziehungsweise Epigonalität)<br />

hin. Die im Theorieteil dargestellten Charakteristika von Motiven werden in<br />

Bezug zu den spezifischen Ausprägungen des Heimkehrmotivs in den Werken<br />

von Fritsch, Innerhofer, Menasse und Zimmermann gesetzt.<br />

Der zweite Teil wird sich mit den in Kapitel zwei diskutierten Heimatkonzepten<br />

und deren Entsprechungen im Analyseteil beschäftigen. Dabei steht eine<br />

genauere Betrachtung der individuellen Heimkehrerschicksale im Vordergrund.<br />

Leitfragen <strong>für</strong> das Auffinden eines werkübergreifenden Heimatkonzeptes sind<br />

die Aspekte der Identität der Heimkehrer und deren Krisen, die Suche nach<br />

Heimat, die Sozialisation vor allem in der Kindheit und die nach der Heimkehr<br />

angewandten Strategien. Es stellt sich die Frage, ob es ein bestimmtes Heimatkonzept<br />

gibt, das vermittelt wird, und, wenn ja, wodurch es sich definiert.<br />

Grundlegende Frage dabei ist, ob es grundsätzlich möglich ist, Heimat zu finden.<br />

Abschließend soll das Motiv der Heimkehr in Bezug zum Genre gesetzt werden.<br />

Die Figuren der Anti-Heimat-Literatur zeichnen sich in erster Linie durch eine<br />

Tendenz zur Flucht aus. Zu untersuchen ist daher, welche Funktion das Heimkehrmotiv<br />

in einem Anti-Heimat-Roman einnehmen kann, welchen Beitrag es in<br />

Hinblick auf die dem Genre immanenten Grundaussagen und -absichten leistet.<br />

Auch der Blick auf die ingroup, wie sie sich dem Heimkehrer präsentiert, soll<br />

hier diskutiert werden.<br />

88


10.1 Erzähltechnisches Konzept des Heimkehrmotivs<br />

Motive definieren sich dadurch, dass sie eine epische Handlung auslösen. Welchen<br />

Stellenwert diese Handlung im Werk einnimmt, hängt davon ab, ob das<br />

Motiv als Kern- oder Rahmenmotiv verwendet wird. In Bezug auf die diskutierten<br />

Werke lässt sich <strong>für</strong> drei der vier eine eindeutige Verwendung als Kernmotiv<br />

feststellen. Felix Golub kehrt aus der Kriegsgefangenschaft in die Kleinstadt zurück,<br />

Hans-Peter Lambrecht und Zimmermanns namenloser Dandy finden sich<br />

an den Orten ihrer Kindheit wieder. Durch die Heimkehr wird die Handlung erst<br />

in Gang gesetzt, im Zentrum der Werke steht die Zeit nach der Heimkehr. So<br />

etwa wechseln sich in „Fasching“ die Abschnitte der Vergangenheit und Gegenwart<br />

zwar ab, die erzählte Zeit der Heimkehr umfasst jedoch nur vier Tage,<br />

welche dementsprechend ausführlicher geschildert werden. „Der Emporkömmling“<br />

als lineare Erzählung streift die Ereignisse der Vergangenheit nur zu Beginn,<br />

indem Lambrecht über sein Scheitern als Student berichtet und seine Abneigung<br />

gegen die Stadt artikuliert, von Roman Gilanians Zeit in Brasilien erfährt<br />

der Leser nur durch Träume und Textfragmente, „Das tote Haus“ setzt ein<br />

mit der Ankunft im Dorf und streift die Vergangenheit in durch die Heimkehr<br />

ausgelösten ausführlichen Reflexionen. Insofern löst das Heimkehrmotiv nicht<br />

nur Handlung aus, sondern auch einen Reflexionsprozess, der die Vergangenheit<br />

beziehungsweise Kindheit zum Thema hat. Diese Rückblicke sind auch<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart.<br />

Die Heimkehrer sind zugleich auch die Hauptfiguren in den Werken, dementsprechend<br />

große Berücksichtigung findet die Heimkehr im Romangeschehen.<br />

Im Falle von Roman Gilanian kann das Heimkehrmotiv nur als Rahmenmotiv<br />

bezeichnet werden, da es zwar die Handlung einer von zwei Ebenen auslöst,<br />

zur anderen Ebene, den Geschehnissen in und um das Dorf Komprechts, jedoch<br />

nur indirekte Bezüge aufweist. Roman ist die Hauptfigur des Romans, jedoch<br />

grenzt sich seine Stellung weniger klar von den anderen Figuren ab, er ist<br />

weniger als Hauptfigur, denn als primus inter pares zu sehen. Dementsprechend<br />

gestaltet sich die Erzählperspektive. Die Heimkehr als Kernmotiv bedingt<br />

die Darstellung in der Ich-Form, das Geschehen präsentiert sich aus dem<br />

89


Blickwinkel der Heimkehrer, wird die Heimkehr nur als Rahmenmotiv verwendet,<br />

bestreitet ein auktorialer Erzähler den Großteil des Romans.<br />

Motive verbinden verschiedene Ebenen miteinander. Im konkreten Fall des<br />

Heimkehrmotivs fällt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />

auf. Aus der Situation der Protagonisten ergibt sich ein Vergleich zwischen der<br />

Zeit vor und nach der Heimkehr.<br />

Herkömmliche Heimkehrergeschichten legen den Schwerpunkt auf die Veränderungen,<br />

die im Laufe der Zeit stattgefunden haben. In den behandelten Werken<br />

dient die Heimkehr vor allem dazu, Kontinuitäten aufzuzeigen. Felix etwa<br />

erfährt spätestens am Heimkehrerball, dass die Gesinnung der Bevölkerung<br />

sich nicht geändert hat, dass er nach wie vor als Verräter gebrandmarkt ist,<br />

Hans-Peter Lambrecht muss sich weiterhin die nationalsozialistischen Heldentaten<br />

seines Stiefvaters anhören, Roman Gilanian landet physisch wie psychisch<br />

in der „Gerümpelkammer seiner Kindheit“ 286 und auch der Dandy muss<br />

feststellen: „Es wird schwierig, sage ich. Es hat sich nichts verändert.“ 287 Im<br />

Gegensatz zu den Veränderungen, die Heimkehrern in der Regel zu schaffen<br />

machen, sind es die Kontinuitäten, die Probleme bereiten. Nur bei Innerhofer<br />

zeigt sich auch die Problematik, die durch Veränderungen ausgelöst wird. Lambrecht<br />

muss erkennen, dass sich Dorf und Haus der Kindheit in eine Richtung<br />

verändert haben, die es ihm schwer macht, sich in seine alte Umgebung wieder<br />

einzufinden. „Von einer Heimkehr konnte jedenfalls nicht die Rede sein“ 288 , lautet<br />

das ernüchternde Resümee.<br />

Das Heimkehrmotiv findet sich in allen Epochen der Literaturgeschichte. Als älteste<br />

und auch bekannteste Variationen gelten die Odyssee und das Gleichnis<br />

vom Verlorenen Sohn aus der Bibel. Das Thema Heimkehr ist untrennbar mit<br />

Assoziationen zu diesen beiden Darstellungen verbunden. Auch die der in dieser<br />

Arbeit analysierten Schicksale laden stellenweise dazu ein, Vergleiche mit<br />

den alten Beispielen zu ziehen. Lambrecht vergleicht sich selbst mit Odysseus<br />

und bezeichnet seinen Weg in die Redewelt als Irrfahrt. Roman Gilanians<br />

Rückkehr in den Schoß der Mutter verleitet zu einem Vergleich mit der Ge-<br />

286<br />

Holler, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 29.<br />

287<br />

TH, S. 120.<br />

288<br />

DE, S. 56.<br />

90


schichte aus dem Lukasevangelium, und der Dandy irrt lange Jahre in den USA<br />

herum, bevor ihn seine Heimkehr, so wie Odysseus, nicht „zu einem Gefühl der<br />

Geborgenheit, sondern unmittelbar in den Krieg“ 289 führt. Mehr als eine entfernte<br />

Verbindung lässt sich bei weiterer Lektüre jedoch nicht herstellen, zu sehr<br />

brechen die Verläufe der Heimkehrer mit denen ihrer Vorbilder. Ein Happy End<br />

findet nicht statt. So wie Odysseus und der Verlorene Sohn irren die vier Hauptfiguren<br />

suchend in der Fremde umher, um letztendlich den Weg in die Heimat<br />

einzuschlagen. In diesen Übereinstimmungen erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten,<br />

bekannte Heimkehrschemata können nicht auf die Texte angewandt<br />

werden. Orientiert sich der Rezipient an bekannten gespeicherten Mustern, erfährt<br />

er im Laufe der Lektüre eine Enttäuschung und ist dazu gezwungen, das<br />

Heimkehrmotiv neu zu deuten. Besonders in „Fasching“ war dies eine Herausforderung,<br />

die Ablehnung und Fehlinterpretationen hervorrief. Mehr als ein<br />

schemenhaftes Auftauchen bekannter literarischer Vorbilder kann also nicht<br />

festgestellt werden. Das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur schlägt von<br />

Beginn an einen eigenständigen Weg ein, wie auch die folgenden Besonderheiten<br />

zeigen.<br />

Definitiv handelt es sich in keinem Fall um herkömmliche Heimkehrergeschichten.<br />

Dazu müssten die Zeit vor dem Weggehen und die Zeit in der Fremde ausführlicher<br />

dargestellt werden. Zwar hat das Heimkehrmotiv eine Schaltfunktion<br />

zwischen Vergangenheit und Gegenwart inne, durch die nur bruchstückhafte<br />

Darstellung der Vergangenheit wirft die Rückkehr jedoch Fragen auf. Denn nur<br />

eine Kenntnis der Zeit in der Fremde kann zum Verstehen der Beweggründe <strong>für</strong><br />

die Heimkehr führen. Gerade diese Beweggründe sind es, die, mit einer Ausnahme,<br />

nur unzureichend erklärt werden.<br />

Gemeinsam ist allen vier Heimkehrern, dass sie sich in einer mehr oder weniger<br />

stark ausgeprägten psychischen Krisensituation befinden. Felix Golub steht als<br />

mittelloser, entlassener Kriegsgefangener vor dem Nichts, Lambrecht wird geplagt<br />

von Selbstmordgedanken, Roman Gilanian leidet unter Alpträumen und<br />

einer unglücklichen Beziehung und den Dandy quält die erfolglose Suche nach<br />

der Stille, die ihn ruhelos umherwandern lässt. Diese Krisen verlangen nach ei-<br />

289 Interview Peter Zimmermann, S. 117.<br />

91


ner Lösung, es ist jedoch nur in einem Fall annehmbar, dass eine Heimkehr<br />

Besserung verschaffen könnte. Lambrechts Rückkehr ist schlüssig begründet,<br />

er erhofft sich von einer Rückkehr in die Arbeitswelt eine Bewältigung seiner<br />

Krise, er akzeptiert sein Scheitern in der Stadt. Lambrecht erscheint die Welt<br />

der körperlichen Arbeit als eine Möglichkeit zur Identitätsfindung und er kann<br />

das auch aus seiner Biographie begründen, da er schon einmal Arbeiter war.<br />

Was Felix Golub betrifft, so gestaltet sich seine Situation etwas anders. Wohl<br />

mag die Aussicht auf eine selbständige Existenz als Fotograf hoffnungsvoll erscheinen,<br />

objektiv betrachtet aber kann sein Unternehmen angesichts seiner<br />

Vergangenheit und der Struktur der ingroup nur scheitern. Felix jedoch ignoriert<br />

die negativen Vorzeichen und bezahlt da<strong>für</strong> mit seinem Leben. Ebenso wenig<br />

nachvollziehbar ist die Heimkehr bei Roman Gilanian, der bis zur Abreise eine<br />

starke Abneigung <strong>für</strong> die Provinz empfindet und trotzdem, ohne zu überlegen,<br />

fluchtartig aus Brasilien abreist. Der Dandy kehrt aufgrund einer Erbschaft zurück,<br />

ohne einen längeren Aufenthalt geplant zu haben, das Ziel der Suche erscheint<br />

zudem bis zum Schluss rätselhaft, da es ein sehr abstraktes ist.<br />

Aus der mangelnden Begründung <strong>für</strong> die Heimkehr ergibt sich ein besonderes<br />

Spannungsmoment. Sofern es sich nicht um eine Heimkehr im Triumph handelt,<br />

birgt das Motiv in sich bereits genug Konfliktpotential. Auch herkömmliche<br />

Heimkehrergeschichten, die eine nachvollziehbare Begründung <strong>für</strong> die Heimkehr<br />

liefern, beinhalten Spannung. In den konkreten drei Fällen, die auf eine<br />

derartige Begründung verzichten, bewirkt dies eine Steigerung der Spannung.<br />

Der Rezipient wird durch eine unschlüssige Begründung zu Widerspruch und<br />

durch unklare Absichten zum Reflektieren über die weiteren möglichen Verlaufsformen<br />

angeregt. Am deutlichsten zeigt sich dies in „Fasching“.<br />

Doch nicht nur unklare Ausgangssituationen bedingen Spannung. In weiterer<br />

Folge tragen die Verläufe der Heimkehr zur Erhöhung dieser bei. Es sind die<br />

unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten, die einem Motiv Spannung verleihen.<br />

Je unklarer die Ausgangssituation beziehungsweise die Absichten, desto höher<br />

die Spannung. Die Verläufe der vier Werke zeigen in drei Fällen starke eskalatorische<br />

Tendenzen. Anstelle einer Annäherung an die ingroup beziehungsweise<br />

einer Verbesserung der Situation kommt es zu einer sukzessiven Verschärfung<br />

der Problematik.<br />

92


Der Leser sieht bei Fritsch eine Hauptfigur, die mit jedem Kontakt mit der Bevölkerung<br />

eine Stufe höher als zuvor angefeindet wird, und bei Zimmermann<br />

eine Figur, die sich in einem zur Festung umgebauten Haus gegen die Angriffe<br />

der Dorfbevölkerung, die zudem seinen Begleiter auf dem Gewissen hat, schützen<br />

muss. In beiden Fällen führt die Heimkehr in den Tod. Eine Steigerung in<br />

ein anderes Extrem sieht der Leser bei Roman Gilanian. Sein psychischer Verfall<br />

schreitet stetig voran, die Lösung liegt im abermaligen Verlassen der Heimat.<br />

Dieselbe Lösungsstrategie wendet Lambrecht an, der seiner Heimat ebenfalls<br />

den Rücken kehrt. Der eskalatorische Verlauf in „Der Emporkömmling“<br />

zeigt sich abgeschwächt, denn vorübergehend kann sich Lambrecht sogar über<br />

eine Verbesserung seiner Situation freuen.<br />

Heimkehr in die Anti-Heimat führt zu einer Eskalation anstelle einer Annäherung,<br />

mit den Optionen Tod oder Flucht als Endpunkte. Heimatliteratur nimmt<br />

die Spannung aus dem Konflikt zwischen Heimkehrer und ingroup, der Verlauf<br />

ist jedoch klar vorgezeichnet, der Ausgang vorhersehbar. Der typische Heimkehrer<br />

ist ein gescheitertes Individuum, das sich seinen Platz in der Heimat<br />

wieder erkämpfen muss. Dies ist nur möglich, indem die Werte der ingroup angenommen<br />

werden. Das Scheitern wird als Beweis <strong>für</strong> die Negativität der<br />

Fremde geführt. Wenn einer heimkehrt, läuft „sofort alles zusammen und verbreitet[e]<br />

die Nachricht, daß die oder der gescheitert sei.“ 290 Je fremder der<br />

Heimkehrer, desto größer die Feindseligkeit. Dies wird jedoch in der Heimatliteratur<br />

zugunsten der ingroup ausgelegt, da diese die allgemeingültigen Werte<br />

verkörpert. Ein mehr (Lambrecht) oder weniger (Gilanian) offensichtliches<br />

Scheitern (auch Golub ist gescheitert, er ist nicht in der Lage sich aus eigener<br />

Kraft eine Existenz aufzubauen) verbindet auch die Figuren der Anti-Heimat-<br />

Literatur. Im Gegensatz dazu wird jedoch nicht damit einhergehend die Fremde<br />

da<strong>für</strong> verantwortlich gemacht (wieder muss Lambrecht hier etwas anders bewertet<br />

werden, denn er schiebt die Schuld an seiner Misere dezidiert auf die<br />

Stadt, die Universität und die Wissenschaft und idyllisiert in weiterer Folge die<br />

Heimat). In der Anti-Heimat-Literatur werden die klaren Grenzen aufgeweicht.<br />

Während die ingroup negativ dargestellt wird, werden die Heimkehrer sehr ambivalent<br />

beschreiben, was eine Identifikation erschwert. Die Bewertung Felix<br />

290 Innerhofer 1994, S. 53.<br />

93


Golubs beschäftigt die Literaturwissenschaft bis in die heutige Zeit, Roman<br />

Gilanian evoziert maximal Mitleid, besondere positive Eigenschaften lassen sich<br />

nicht erkennen. Auch die Person des Dandys wirft Fragen auf. Er verhält sich<br />

arrogant und provokativ und lässt sich von einem Schwarzen, den er als Neger<br />

tituliert, bedienen. Nur in Innerhofers Erzählung lädt die Hauptfigur durchwegs<br />

zur Identifikation ein, im Gegenzug wird die ingroup jedoch ebenfalls stellenweise<br />

sehr positiv dargestellt. Neben der widersprüchlichen Charakterisierung der<br />

Heimkehrer ist deren Passivität ein weiteres verbindendes Merkmal. In keinem<br />

der vier Fälle lässt sich eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt feststellen.<br />

Felix Golub, als einer, „der alles mitmacht und mit sich geschehen lässt,“ 291<br />

liefert sich willenlos den Schikanen der ingroup aus, Lambrecht resigniert frühzeitig<br />

angesichts der sich zeigenden Verhältnisse, Roman versinkt in seiner<br />

Depression, aktiv ist nur seine Kamera, und der Dandy legt von Beginn an keinen<br />

Wert auf konstruktive Interaktionen. Diese Passivität kann als Ursache der<br />

eskalatorischen Verläufe gesehen werden. Wer sich nicht wehrt, lässt den Entwicklungen<br />

freien Lauf.<br />

Die bis hierher definierten erzähltechnischen Funktionen ermöglichen es, <strong>für</strong><br />

das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur einen schematischen Verlauf<br />

festzulegen: Herkömmliche Heimkehrschemata sind nicht auf die Texte anwendbar,<br />

was den Erwartungshorizont der Rezipienten erweitert, die Heimkehr<br />

erfolgt aus nicht vollständig nachvollziehbaren Gründen, eine Behebung der<br />

Krise scheitert am Widerstand der ingroup und an der eigenen Passivität, das<br />

durch die Rückkehr ausgelöste Handlungsgefüge zeichnet sich durch eine sukzessive<br />

Eskalation der Ereignisse aus, was die schon zu Beginn manifeste Krise<br />

der Protagonisten weiter verschlimmert. Eine Lösung der Probleme kann nur<br />

durch ein abermaliges Weggehen erfolgen, ansonsten führt die Heimkehr in<br />

den Tod.<br />

Welche Grundtendenz zeigt das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-Literatur?<br />

Anlass zu Optimismus und Hoffnung auf Lösung der Probleme oder Kritik an<br />

291 Berger, in: Alker/Brandtner (Hg.) 2005, S. 74.<br />

94


eziehungsweise Abrechnung mit der Heimat? Felix Golub und Hans-Peter<br />

Lambrecht verfolgen mit ihrer Heimkehr ersteres Ziel. Felix sieht in der Übernahme<br />

von Raimunds Geschäft die Möglichkeit endlich zur Ruhe zu kommen<br />

und ein unspektakuläres Leben als Fotograf und Kleinbürger zu führen. Für<br />

Lambrecht ist klar, dass er nur über die Arbeit wieder zu sich selbst finden<br />

kann. Die Erwartungen an die Heimkehr werden nach kurzer Zeit enttäuscht.<br />

Beide Figuren beharren jedoch auf ihren Illusionen und versuchen, über die<br />

Realität hinwegzusehen. Für Felix bedeutet dies, im grausamen Spiel, das die<br />

Stadtbevölkerung mit ihm spielt, mitzumachen, Lambrecht schafft sich eine Sozialutopie<br />

der Arbeitswelt, die nicht auf realen Gegebenheiten basiert. Trotz<br />

dieser Strategien wird offensichtlich, dass durch die Heimkehr (gezwungenermaßen)<br />

eine kritische Betrachtung der Heimat erfolgt, die ursprüngliche Tendenz<br />

kehrt sich ins Gegenteil um. In den Romanen von Menasse und Zimmermann<br />

findet von Beginn an eine Abrechnung mit der Heimat statt. Roman sieht<br />

seine Vorurteile gegenüber dem Landleben bestätigt, er kann sich mit der geänderten<br />

Lebenseinstellung seiner Mutter nicht identifizieren. Die Geschehnisse<br />

in Komprechts irritieren ihn, seine Wahrnehmung stößt mehr und mehr an ihre<br />

Grenzen. Am deutlichsten zeigt sich die Tendenz bei Zimmermann. Der Ort der<br />

traumatischen Kindheit präsentiert sich unverändert, der Dandy kann nicht einen<br />

positiven Aspekt an der alten Heimat entdecken und begibt sich bereitwillig<br />

in eine provokative Angriffshaltung. Bei Fritsch und Innerhofer sind die Absichten<br />

der Protagonisten deutlicher herausgearbeitet, ebenso die Grundtendenz.<br />

Menasse und Zimmermann verweigern eine Darstellung der Ziele ihrer Figuren,<br />

die Tendenz des Motivs zeigt sich dementsprechend erst später, da<strong>für</strong> aber<br />

umso deutlicher. Somit lässt sich <strong>für</strong> alle vier Werke eine Verwendung des Motivs<br />

entsprechend der zweiten Variante nach Daemmrich/Daemmrich konstatieren,<br />

eine ursprünglich anders intendierte Darstellung erweist sich spätestens<br />

nach der Ankunft in der Heimat als unhaltbar. Dies entspricht auch dem oben<br />

dargestellten Verlauf, der ein Happy End nicht vorsieht.<br />

Abschließend sei noch auf eine letzte interessante Eigenschaft des Heimkehrmotivs<br />

in den konkreten Fällen hingewiesen. Motive als relativ ungebundene<br />

Textelemente stehen stets in Verbindung mit anderen Themen oder Motiven.<br />

95


Aus diesen Beziehungen ergeben sich Vereinfachungen oder Spannungsverstärkungen<br />

<strong>für</strong> die Rezeption. Unbestritten steht das Heimkehrmotiv in der Anti-<br />

Heimat-Literatur in Verbindung mit dem Thema der Suche nach Heimat respektive<br />

Identität. Die Identitätskrisen und die Heimatlosigkeit der Protagonisten (ersichtlich<br />

anhand deren „Irrfahrten“) sind offensichtlich. Es lässt sich daher sagen,<br />

dass auch in der Anti-Heimat-Literatur das Motiv in seiner ureigensten<br />

Verwendungsform zur Anwendung kommt.<br />

Es gäbe durchaus noch andere Möglichkeiten, die Heimkehrer könnten als<br />

starke Persönlichkeiten zurückkehren, um ihren Lebensabend geruhsam ausklingen<br />

zu lassen, oder aus familiären Gründen etc. Die Verbindung mit den<br />

Themen Identitäts- und Heimatsuche ist eine durchaus konventionelle, die im<br />

Gegensatz zu den darauf folgenden untypischen Verläufen steht. Erzähltechnisch<br />

bewirkt diese Verbindung mit den klassischen an die Heimkehr gekoppelten<br />

Themen einen, jedoch nur vordergründigen, erleichterten Zugang zum Text.<br />

Durch die Koppelung an die Themen Identität und Heimatsuche wird der Rezipient<br />

dazu verleitet, Prognosen über das weitere Verhalten der Figuren abzugeben.<br />

Diese erweisen sich jedoch im weiteren Verlauf als unhaltbar, da sich<br />

das Motiv nicht den erwarteten Verläufen entsprechend gestaltet.<br />

96<br />

10.2 Heimat – eine Utopie?<br />

In Kapitel zwei wurden verschiedene Heimatkonzepte mit soziologischem, psychologischem<br />

oder philosophischem Hintergrund angeführt. Als gemeinsame<br />

Konstante in diesen Konzepten wurde die wichtige Rolle der Kindheit definiert.<br />

Die Grundlage der späteren Identität wird in der Kindheit gelegt. Von größter<br />

Wichtigkeit ist dabei die Bindung an die Mutter, die Primärsozialisation. Es überrascht,<br />

wie ähnlich sich die vier Heimkehrer in Bezug auf ihre Kindheit sind. Allen<br />

gemeinsam sind traumatische Erfahrungen, denen in den Romanen ein unterschiedlich<br />

ausführlicher Exkurs gewidmet ist. Über Felix Golubs Kindheit<br />

lässt sich nicht viel sagen, die Fakten lassen jedoch Rückschlüsse auf die Problematiken<br />

seiner Kindheit zu. Felix ist ein uneheliches Kind eines „Schlawi-


ners“ 292 , die Mutter hat sich kurz nach der Geburt das Leben genommen und so<br />

wuchs er bei einer autoritären und fanatisch nationalsozialistischen Tante auf.<br />

Lambrecht hat sich Jahre vor seiner Rückkehr von seiner Familie losgesagt.<br />

Seine Unehelichkeit und die frühe Trennung von der Mutter, die ihn an den Hof<br />

seines Vaters verfrachtete, sind Fakten, die sich aus der Lektüre der Holl-<br />

Trilogie ergeben. Auf Romans schwierige Mutterbeziehung wurde bereits ausführlich<br />

eingegangen, ebenso auf die traumatische Kindheit des Dandys. Die<br />

Tatsache, dass er seine Eltern getötet hat, unterstreicht die Tragik seiner Kindheit<br />

und kann als verzweifelter Akt zur Befreiung aus den quälenden Verhältnissen<br />

gewertet werden. Offensichtlich konnten die Figuren keine Kindheit genießen,<br />

die ihnen Sicherheit <strong>für</strong> die weitere Entwicklung vermittelt hätte. Nicht vorhandene<br />

oder problematische Mutterbeziehungen können gravierende Folgen<br />

<strong>für</strong> die Kinder haben. Burger meint dazu: „Heimat ist eine Verlustanzeige. Ein<br />

Gang zu den Müttern.“ 293 Diese Aussage betont den Zusammenhang zwischen<br />

Heimat und Kindheit beziehungsweise Identität und Mutterbindung. Wer die<br />

Heimat sein Leben lang sucht, sehnt sich insgeheim nach seiner nicht vorhanden<br />

gewesenen Mutter. Auf die prägende Rolle früher Kindheitserfahrungen<br />

weist auch Peter Zimmermann hin, wenn er feststellt, „dass man in grundlegenden<br />

Dingen immer das Kind ist, [...] auch wenn sich die Lebensumstände vollkommen<br />

ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit, Dunkelheit, Liebesentzug,<br />

Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.“ 294<br />

Heimat benötigt als „conditio sine qua non“ 295 ein fixes Territorium. Ein territorialer<br />

Heimatbegriff findet vor allem in der traditionellen Heimatliteratur seine Anwendung.<br />

Dort erfolgt eine strikte Differenzierung zwischen Gut und Böse aufgrund<br />

räumlicher Determinanten. Ein territorialer Heimatbegriff lässt keine Integration<br />

von Fremden zu, sondern bewirkt rassistische Verhaltensmuster. Territorialität<br />

alleine ist jedoch zuwenig <strong>für</strong> ein gelungenes Entstehen von Heimatgefühlen.<br />

Von großer Bedeutung sind die funktionierenden sozialen Beziehungen<br />

zur Umwelt. Denn erst durch diese erhält der geographische Raum die nö-<br />

292 FA, S. 189.<br />

293 Burger, Rudolf, zit. n. Hoffmann-Ostenhoff, in: Bartsch (Hg.) 2004, S. 169.<br />

294 Interview Peter Zimmermann, S. 116.<br />

295 Greverus 1972, S. 25.<br />

97


tigen emotionalen Bindungen. 296 Von der Kindheit deshalb nun zur Gegenwart<br />

der Heimkehrer. Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht setzen große Hoffnungen<br />

in ihre Rückkehr, wobei sie von einem primär territoriumsbezogenen Heimatkonzept<br />

ausgehen. Beide glauben, mit der Ankunft in der Stadt beziehungsweise<br />

in Dorf und Fabrik ihre Probleme gelöst zu haben. Die Wichtigkeit<br />

von sozialer Interaktion wird nicht bedacht. In weiterer Folge verschließt sich<br />

Felix der Realität und gesteht sich die Unmöglichkeit einer funktionierenden Interaktion<br />

nicht ein. Auch Lambrecht scheitert schon sehr bald am Aufbau von<br />

Beziehungen, was ihn zu einer frühen Resignation veranlasst, in der Arbeitswelt<br />

kann er sich durch Selbsttäuschung noch einige Zeit über Wasser halten.<br />

Roman und der Dandy verweigern von Beginn weg jegliche Kommunikation mit<br />

ihrem sozialen Umfeld. Ersterer spielt die Rolle des distanzierten Beobachters<br />

im Dorf beziehungsweise des mürrischen Gastes in der Interaktion mit der Mutter,<br />

letzterer verbarrikadiert sich von Anfang an in seinem festungsähnlichen<br />

Haus. Betrachtet man das Verhalten der Figuren, so kann daraus nur geschlossen<br />

werden, dass der Aufbau von Sicherheit und Geborgenheit nicht gelingen<br />

kann. Ohne Interaktion kann ein Ausbrechen aus der Außenseiterposition nicht<br />

gelingen. Die Frage, warum die Kommunikation misslingt, ob aus eigenem Versagen<br />

oder aufgrund der festgefahrenen Strukturen der ingroup, ist dabei nur<br />

zweitrangig. Tatsache ist, dass aufgrund fehlender funktionierender Beziehungen<br />

die Suche nach Heimat zu keinem Erfolg führen kann. Es besteht maximal<br />

die Möglichkeit ein Außenseiterdasein á la Raimund Wazurak zu führen. In diesem<br />

Fall wäre zwar immerhin ein Territorium vorhanden, das als Heimat gelten<br />

kann, der Preis da<strong>für</strong> besteht jedoch in einer permanenten Abhängigkeit von<br />

der Willkür der ingroup und einer lebenslangen Isolation. Die Protagonisten erfahren<br />

die alte Heimat als Enge und Zwang, Felix muss dies am Ende sogar<br />

physisch erfahren, der Dandy begibt sich freiwillig in die Einzelhaft, aus der kein<br />

Entkommen möglich ist. Somit wiederholen sich die Erfahrungen der Kindheit<br />

und Jugend, die zum Verlassen der Heimat beigetragen haben.<br />

Speziell im Fall von Felix Golub und Hans-Peter Lambrecht trifft zu, was Jean<br />

Améry festgestellt hat, nämlich, dass erst der Mangel die Sehnsucht nach Heimat<br />

hervorruft. Aus der Distanz sind es vor allem Erinnerungen und Sehnsüch-<br />

296 Vgl. Bastian 1995, S. 25.<br />

98


te, die das Heimatbild gestalten. Diese Erinnerungen werden gerne geschönt<br />

und verklärt und somit erfolgt die Rückkehr mit falschen, zu optimistischen Erwartungen.<br />

Aus der Exilerfahrung heraus kann die Sehnsucht nach der Heimat dermaßen<br />

überhand nehmen, dass jegliche Vernunft ausgeschaltet wird: „Was zu hassen<br />

unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor<br />

uns und wollte ersehnt werden...“ 297 Lambrecht und Golub verkörpern eine derartige<br />

Einstellung und begeben sich vorbehaltlos in ein Milieu zurück, das ihnen<br />

in der Vergangenheit ausschließlich Schaden zugefügt hat. Auch im Falle Romans<br />

lässt sich diese Sehnsucht aus der Ferne feststellen. Trotz einer starken<br />

Abneigung gegen die Heimat muss er „Heimweh, aussichtsloses Heimweh:<br />

Entwurzelung“ 298 in sich bemerken. Durch Erinnerungen und Projektionen gespeiste<br />

Sehnsüchte nach Heimat, ausgelöst durch die Einsamkeit des Exils,<br />

können niemals ein objektives Bild der Heimat zeichnen. In diesem Sinne vertritt<br />

Améry, ebenso wie Schlink, die Ansicht, dass es sich bei dem Begriff Heimat<br />

um einen längst vergangenen Zustand handelt und insofern nur die Welt<br />

der Kindheit und Jugend als Heimat bezeichnet werden können. Heimat beinhaltet<br />

nicht nur die Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch die<br />

Träume und Wünsche des gesamten Lebens. Nur die Orte der Kindheit und Jugend<br />

„werden die Orte bleiben, in denen sich Heimatgefühl, Heimaterinnerung<br />

und Heimatsehnsucht vor allem verbinden.“ 299 Bezogen auf die Exilanten der<br />

Anti-Heimat-Romane bedeutet dies, dass selbst die Orte der Kindheit und<br />

Jugend als letzte Möglichkeiten zur Heimatfindung ausscheiden, da die Biographien<br />

der Figuren von negativen Kindheits- und Jugenderlebnissen geprägt waren.<br />

Selbst der verklärende Blick aus der Distanz kann die Situation nicht<br />

verbessern. Dem Dandy ist dies bewusst, er strebt nach einer mehr transzendentalen,<br />

denn realen Heimat, Roman wird die Tatsache der Heimatlosigkeit<br />

noch einmal schmerzhaft vor Augen geführt, indem er eine seelische Reise in<br />

die Kindheit unternimmt, Lambrecht und Golub träumen von der Versöhnung<br />

mit der Vergangenheit und scheitern.<br />

297<br />

Améry, in: Heidelberger-Leonhard (Hg.) 2002, S. 102.<br />

298<br />

SU, S. 43.<br />

299<br />

Schlink 2000, S. 49 – 50.<br />

99


Anti-Heimat-Literatur vermittelt die Botschaft von Heimat als einer Unmöglichkeit.<br />

Von der Geburt an scheitern die Protagonisten an der Heimat, es gelingt<br />

ihnen nicht, ihre Identität positiv zu entwickeln, die Zeit des Exils wird zur Belastung<br />

und die Rückkehr zur Desillusionierung. Für die Anti-Heimat-Literatur gibt<br />

es Heimat jedenfalls nicht auf dieser Erde. Vielleicht nach dem Tod, ansonsten<br />

wird die Suche durch die Heimkehr nur prolongiert.<br />

Nicht zufällig sieht der Leser am Ende von „Der Emporkömmling“ und „Schubumkehr“<br />

zwei Menschen, die an zwei passageren Räumen, am Bahnhof beziehungsweise<br />

Flughafen, auf die Fortsetzung ihrer Suche warten. Interessant in<br />

diesem Zusammenhang ist auch der diachrone Verlauf des Heimatbildes. Während<br />

in den beiden ältesten Werken noch Spuren eines ansatzweise vorhandenen<br />

Optimismus zu finden sind (Lambrecht gelingt sogar ein kurzfristiger Aufbau<br />

von Heimatgefühlen), zeigt sich in den beiden jüngeren Werken, und hier<br />

am Stärksten im jüngsten Roman von Zimmermann, a priori eine Negation jeglicher<br />

Möglichkeit Heimat zu finden. Heimat in der Anti-Heimat-Literatur erweist<br />

sich als utopische Vorstellung, wobei dies ausgerechnet mit Hilfe des Heimkehrmotivs<br />

dargestellt wird.<br />

100<br />

10.3 Heimkehr in die Anti-Heimat – ein Widerspruch?<br />

Welche Funktion das Heimkehrmotiv in Bezug auf das Genre der Anti-Heimat-<br />

Literatur erfüllt, soll in diesem Abschnitt dargestellt werden. Auf den ersten Blick<br />

mag es verwunderlich erscheinen, eine Sichtweise, die sich durch einen kritischen<br />

bis negativen Zugang zur Heimat definiert, mit Hilfe von Heimkehrerfiguren<br />

zu verstärken.<br />

Es handelt sich bei den diskutierten Werken keineswegs um Heimkehrergeschichten,<br />

zwar stehen die Heimkehrerschicksale (mit Ausnahme Romans) im<br />

Mittelpunkt der Romanhandlungen, sie dienen aber vor allem auch dazu, den<br />

Blick auf die Heimat zu öffnen. Das primäre Ziel der Anti-Heimat-Literatur ist die<br />

Destruktion von beschönigenden Heimatbildern, wie sie in anderen Genres, vor<br />

allem im Heimatroman vermittelt werden.


Die Thematisierung von unangenehmen Fakten und Vorgängen in der Heimat<br />

soll im Rezipienten die Fähigkeit zu einer kritischen Reflexion seiner Lebenswelt<br />

bewirken und Betrachtungen aus anderen Blickwinkeln hervorrufen, „striving<br />

for Sein [...] and not Schein [...], for naturalness and not façade“ 300 . Bedenkt<br />

man dies, so zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv im Genre durchaus seine<br />

Berechtigung hat und geeignet ist, diese Absichten zu realisieren. Denn erst<br />

durch die Heimkehrer beziehungsweise durch die Darstellung der Heimat aus<br />

deren Perspektive zeigen sich die Schattenseiten der Realität. Das Scheitern<br />

der Heimkehrer dient exemplarisch der Darstellung der Anti-Heimat. In der Gegenüberstellung<br />

von ingroup und outgroup zeigen sich die Abgründe eines engstirnigen,<br />

provinziellen und stellenweise faschistischen Systems. Das Heimkehrmotiv<br />

ist das Mittel zum Zweck der Darstellung der ingroup. Diese präsentiert<br />

sich in allen Werken in ähnlicher Form. Unbestritten sind die faschistischen<br />

Tendenzen der ingroup in „Fasching“ und auch in „Das tote Haus“. Dem Deserteur<br />

Felix hilft es nichts, die Stadtbevölkerung vor dem Tod bewahrt zu haben,<br />

er ist und bleibt ein Verräter, die Strategie seiner „ehrlichen Anbiederung“ 301 ist<br />

zum Scheitern verurteilt. Auch der Dandy, als sowohl durch sein Äußeres als<br />

auch durch sein Verhalten abweichende Figur, hat keinen Platz in der Gemeinschaft.<br />

Zudem baut er sein Haus nicht den über die Jahre unveränderten einheitlichen<br />

Normen entsprechend und provoziert damit die Masse. In Menasses<br />

Komprechts verdichtet sich die österreichische Realität zu einem Mikrokosmos<br />

aus politischen, touristischen und rassistischen Versatzstücken. Auch Lambrecht<br />

sieht eine Heimat, die sich auf Kosten der eigenen Identität an die Touristen<br />

verkauft hat, alte Gesinnungen sind nach wie vor in den Köpfen der Menschen<br />

verankert, Zuflucht vor dieser Misere bietet nur die Flucht in den Alkohol.<br />

Das Heimkehrmotiv bewirkt, dass die Kulissen der Heimat gewendet werden,<br />

das Scheitern der Heimkehrer zeigt nicht deren eigenes Versagen, sondern<br />

lässt sich deutlich an den ungünstigen Verhältnissen festmachen. Die vier Werke<br />

thematisieren die gesamte Palette der populärsten Anti-Heimat-Themen.<br />

Von der hartnäckig fortbestehenden nationalsozialistischen Attitüde in „Fasching“<br />

ist es nur ein kleiner Weg zu den rassistisch motivierten Morden in<br />

300<br />

Olson, in: Daviau (Hg.) 2000, S. 162.<br />

301<br />

FA, S. 221.<br />

101


„Schubumkehr“ und “Das tote Haus“. Der Ausverkauf an den Tourismus auf<br />

Kosten der Natur und der eigenen Lebensqualität wird ebenso dargestellt, wie<br />

der bis in den Familienkreis hineinreichende Alltagsfaschismus der Bevölkerung.<br />

Die Heimat präsentiert sich den Heimkehrern durchwegs als „´Schreckbild`<br />

Land“ 302 , als „unheimliche Gegend“ 303 oder als „Haus voller monströser Schrecken“<br />

304 . Obwohl durch bis zu vier Jahrzehnte voneinander getrennt, sind die<br />

Gemeinsamkeiten der Werke offensichtlich.<br />

Wenn Koppensteiner behauptet, dass Anti-Heimatliteratur sich nicht gegen<br />

Heimat richtet, sondern nur einen anderen Heimatbegriff voraussetzt, so genügt<br />

diese Definition in den konkreten Fällen nicht. „Fasching“, „Der Emporkömmling“,<br />

„Schubumkehr“ und „Das tote Haus“ richten sich sehr wohl gegen die<br />

Heimat, sie zeigen allesamt mehr oder weniger drastisch die Unmöglichkeit einer<br />

Bindung an und Integration in die hinter den Kulissen herrschenden Verhältnisse.<br />

In ihren Aussagen bestätigen die Werke Menasses These von Österreich<br />

als Anti-Heimat par excellence.<br />

102<br />

10.4 Ausblick<br />

In diesem Schlusskapitel wurden noch einmal die Besonderheiten des Heimkehrmotivs<br />

zusammengefasst. Die Motiven eigene Besonderheit als sowohl<br />

strukturelle, als auch inhaltliche Einheiten machte es notwendig beide Ebenen<br />

zu analysieren. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Motiv auf beiden<br />

Ebenen wichtige Funktionen einnimmt. Auf der ersten Ebene ist es handlungsund<br />

spannungsauslösend und fungiert als Schnittstelle zwischen den Zeitebenen.<br />

Im Kontext der Anti-Heimat-Literatur wird das Motiv um neue Verlaufsformen<br />

erweitert, auch die Figuren selbst erhalten neue Eigenschaften, die dem<br />

geläufigen Typus des Heimkehrers nicht entsprechen. Dadurch erweitert sich<br />

der Motivhorizont der Rezipienten um neue Varianten und Schemata. Auf inhaltlicher<br />

Ebene konnte gezeigt werden, dass das Motiv zum einen <strong>für</strong> den<br />

302<br />

Heydemann, in: Aspetsberger (Hg.) 1980, S. 94.<br />

303<br />

Sebald, in: Görner (Hg.) 1992, S. 132.<br />

304<br />

A. a. O., S. 134.


Handlungsverlauf von Bedeutung ist, da die Heimkehrer eine wichtige Position<br />

im Handlungsgeschehen einnehmen. Aber auch die über die Handlung hinausgehenden<br />

Grundaussagen werden zu einem wesentlichen Teil vom Heimkehrmotiv<br />

geprägt. Durch das Motiv erst können die Grundaussagen des Genres<br />

entwickelt und herausgearbeitet werden. Das Heimkehrmotiv ist wesentlich<br />

daran beteiligt, dass sich die ausgewählten Werke erst als Anti-Heimat-Literatur<br />

definieren können.<br />

Die Anti-Heimat-Literatur hat ihre beste Zeit hinter sich. Zu Unrecht wurde ihr<br />

vorgeworfen, genauso wie die Heimatliteratur mit Klischees zu operieren und<br />

„dem alten Kitsch der Verklärung nur mit dem schwarzen Kitsch der Denunziation“<br />

305 begegnen zu können. Zweifelsohne bedient sich die Anti-Heimat-<br />

Literatur bisweilen der Satire oder der Übertreibung, um ihre Grundaussagen zu<br />

verstärken. Dies ist jedoch angesichts der kritisierten Strukturen ein legitimes<br />

Mittel. Die wichtigsten Vertreter der Anti-Heimat-Literatur sind tot (Innerhofer),<br />

verstummt (Wolfgruber), oder haben sich anderen Themen zugewandt (Handke).<br />

Selbstverständlich muss sich auch das Genre der Anti-Heimat-Literatur den<br />

Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit vollziehen, stellen. Es benötigt neue<br />

Themen, neue Probleme und Fragestellungen, die aufgegriffen und thematisiert<br />

werden. Dann ergibt sich vielleicht der Eintritt in eine vierte Phase in Anschluss<br />

an Menasses Dreiteilung. Obwohl im Moment nur wenig Neues auf dem Sektor<br />

der Anti-Heimat-Literatur zu beobachten ist, soll doch auf zwei Neuerscheinungen<br />

hingewiesen werden, die, neben Zimmermanns Roman, womöglich einen<br />

Weg zur Fortsetzung der Tradition aufzeigen. Josef Winklers neues Werk<br />

„Roppongi. Requiem <strong>für</strong> einen Vater“ (2007) etwa verbindet Elemente der Anti-<br />

Heimat-Literatur mit Erzählungen aus Indien, wechselt zwischen globalen und<br />

regionalen Perspektiven. O.P. Ziers neuer Roman „Tote Saison“ („2007“), eine<br />

Mischung aus Kriminalroman und Satire, erweist als scharfe Abrechnung mit<br />

der Salzburger Tourismus- und Politwelt.<br />

An Themen sollte es nicht unbedingt mangeln in Österreich, auch deshalb wäre<br />

es wünschenswert, würde Anti-Heimat-Literatur wieder in verstärktem Ausmaß<br />

produziert und auch rezipiert werden.<br />

305 Gauß, in: Die Zeit 4.10.1996, S. 12.<br />

103


104<br />

11 Bibliographie<br />

11.1 Primärliteratur<br />

Fritsch, Gerhard: Fasching. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995.<br />

Innerhofer, Franz:<br />

- Der Emporkömmling. Salzburg: Residenz 1982.<br />

- Die großen Wörter. München: dtv 1994.<br />

Menasse, Robert: Schubumkehr. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997.<br />

Zimmermann, Peter: Das tote Haus. Berlin: Kato 2006.<br />

11.2 Sekundärliteratur<br />

Alker, Stefan: Das Andere nicht zu kurz kommen lassen. Werk und Wirken von<br />

Gerhard Fritsch. Wien: Braumüller 2007.<br />

Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Heidelberger-Leonard,<br />

Irene (Hg.): Jean Améry. Werke. Band 2. Herausgegeben von Gerald Scheit.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta 2002. S. 86 – 117.<br />

Aspetsberger, Friedbert:<br />

- Schnitzler – Bernhard – Menasse. Der Umstandsmeier – Der Angeber – Der<br />

Entgeisterer. Wien: Sonderzahl 2003.<br />

- Unmaßgebliche Anmerkungen zur Einschränkung des literaturwissenschaftlichen<br />

„Heimat“-Begriffs. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die


Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest:<br />

ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S. 53 – 85.<br />

Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung<br />

in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Max<br />

Niemeyer 1995.<br />

Baumann, Ingo: Über Tendenzen antifaschistischer Literatur in Österreich. Analysen<br />

zur Kulturzeitschrift „Plan“ und zu Romanen von Ilse Aichinger, Hermann<br />

Broch, Gerhard Fritsch, Hans Lebert, George Saiko und Hans Weigel. Wien:<br />

phil. Diss. 1982.<br />

Beller, Manfred: Stoff, Motiv, Thema. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörg (Hg.):<br />

Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 2004. S. 30 – 39.<br />

Berger, Albert: Überschmäh und Lost in Hypertext. Eine vergleichende Re-<br />

Lektüre von Gerhard Fritschs Romanen „Moos auf den Steinen“ und „Fasching“.<br />

In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller<br />

in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005. S. 57 – 77.<br />

Bienek, Horst: Vorbemerkung des Herausgebers. Warum dieses Buch? In:<br />

Ders. (Hg.): Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas. München: Hanser<br />

1985. S. 7 – 8.<br />

Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik.<br />

Mit einer Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt/Main:<br />

Peter Lang 2002.<br />

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe. Band 5. Kapitel 43 – 55.<br />

Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985.<br />

Charbon, Remy: Heimatliteratur. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen<br />

Literaturwissenschaft. Band 2. Berlin: de Gruyter 2000. S. 19 – 21.<br />

105


Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid: Themen und Motive in der Literatur.<br />

Ein Handbuch. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke<br />

1995.<br />

Donnenberg, Josef: Heimatliteratur in Österreich nach 1945 – rehabilitiert oder<br />

antiquiert? In: Polheim, Karl Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />

Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang<br />

1989. S. 39 – 68.<br />

Drux, Rudolf: Motiv. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.<br />

Band 3. Berlin: de Gruyter 2000. S. 638 – 641.<br />

Fetscher, Iring: Heimatliebe – Brauch und Missbrauch eines Begriffes. In: Görner,<br />

Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und<br />

20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992. S. 15 – 35.<br />

Frank, Peter R.: Heimatromane von unten – einige Gedanken zum Werk Franz<br />

Innerhofers. In: Modern Austrian Literature 13/1 (1980). S. 163 – 175.<br />

Frisch, Max: Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises.<br />

In: Ders.: Schweiz als Heimat? Versuche über 50 Jahre. Herausgegeben<br />

und mit einem Nachwort versehen von Walter Obschlager. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp 1990. S. 365 – 373.<br />

Garscha, Beatrix: Obdachlose Helden: Defizite der österreichischen Identität.<br />

Faschismus im österreichischen Roman nach 1945. Wien: phil. Diss. 1997.<br />

Gauß, Karl-Markus: Der Rand in der Mitte: Die Chronik einer Heimat. In: Die<br />

Zeit (Sonderbeilage Literatur) 4.10.1996. S. 12.<br />

Gerk, Andrea: Eine Geschichte des erinnerten Vergessens – Robert Menasses<br />

„Trilogie der Entgeisterung“. In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich.<br />

Zu Robert Menasses „Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhr-<br />

kamp 1997. S. 37 – 49.<br />

106


Görner, Rüdiger: Einführendes. Oder: Verständigung über Heimat. In: Ders.<br />

(Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im 19. und 20. Jahrhundert.<br />

München: Iudicium 1992. S. 11 – 14.<br />

Greiner, Ulrich: Ein Alleingang, der Größe hat: „Schöne Tage“, „Schattseite“<br />

und „Die großen Wörter“. In: Ders.: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits,<br />

Kritiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. München: Hanser 1979.<br />

S. 108 – 121.<br />

Greverus, Ina-Maria:<br />

- Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979.<br />

- Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen.<br />

Frankfurt/Main: Athenäum 1972.<br />

Grimm Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 10. München: dtv<br />

1984.<br />

Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976.<br />

Heydemann, Klaus: Jugend auf dem Lande. Zur Tradition des Heimatromans in<br />

Österreich. In: Aspetsberger, Friedrich (Hg.): Traditionen in der neueren österreichischen<br />

Literatur. Zehn Vorträge. Wien: Österreichischer Bundesverlag<br />

1980. S. 83 – 97.<br />

Hoffmann-Ostenhoff, Georg: Heimkehr und Zerfall. In: Bartsch, Kurt<br />

(Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl 2004. S. 166 – 169.<br />

Holler, Verena: Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur „Trilogie<br />

der Entgeisterung“. In: Bartsch, Kurt (Hg.): Robert Menasse. Graz: Droschl<br />

2004. S. 27 – 58.<br />

107


Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft.<br />

In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München:<br />

Wilhelm Fink 1975. S. 126 – 162.<br />

Kiss, Endre: Der grosse Konflikt in der Modernisation. Die Quelle der neuen<br />

Probleme der Heimat. In: Plener, Peter/Zalan, Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde<br />

die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi der Heimat und Identität. Budapest:<br />

ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S. 31 – 51.<br />

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet<br />

von Elmar Seebold. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002.<br />

Koppensteiner, Jürgen:<br />

- Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman<br />

„Schöne Tage“. In: Die Unterrichtspraxis 14 (1981). S. 9 – 19.<br />

- Anti-Heimatliteratur in Österreich. Zur literarischen Heimatwelle der siebziger<br />

Jahre. In: Modern Austrian Literature 15/2 (1982). S. 1 – 11.<br />

Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines<br />

Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991.<br />

Liessmann, Konrad Paul: Das absolute Wissen. Die Roman Gilanian-Trilogie.<br />

In: Stolz, Dieter (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses<br />

„Trilogie der Entgeisterung“. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. S. 264 – 284.<br />

Louis, Raffaele: Das ausgesetzte Urteil. Eine poetologische Lektüre von Gerhard<br />

Fritschs Roman „Fasching“. In: Alker, Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.):<br />

Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich. Wien: Sonderzahl 2005. S. 111 –<br />

131.<br />

Lüdke, Martin W.: Franz Innerhofer. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen<br />

Gegenwartsliteratur. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. München:<br />

Edition Text und Kritik 1987ff. 45. Nachlieferung 1993. S. 1 – 9.<br />

108


Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes.<br />

München: Iudicium 1986.<br />

Menasse, Robert:<br />

- Auf diesem Fasching tanzen wir noch immer. In: Fritsch, Gerhard: Fasching.<br />

Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. S. 241 – 249.<br />

- Das Land ohne Eigenschaften. Oder Das Erscheinen der Wahrheit in ihrem<br />

Verschwinden. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land<br />

ohne Eigenschaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/M.:<br />

Suhrkamp 2005. S. 29 – 120.<br />

- Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von Gerhard<br />

Fritsch. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land<br />

ohne Eigenschaften. Herausgegeben von Eva Schörkhuber. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp 2005. S. 209 – 224.<br />

- Wir machen die Musik. In: Fritsch, Gerhard: Katzenmusik. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp 2006. S. 109 – 126.<br />

Millner, Alexandra: Vom Fährtenlegen, Anekdotensammeln und Metaphorisieren.<br />

Geschichte(n) in „Schubumkehr“. In: Schörkhuber, Eva (Hg.): Was einmal<br />

wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse. Wien: Sonderzahl 2007. S. 213 –<br />

225.<br />

Müller, Carola: Der Heimatbegriff. Versuch einer Anthologie. In: Polheim, Karl<br />

Konrad (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />

Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989. S. 207 – 256.<br />

Olson, Michael P.: Robert Menasse`s Concept of Anti-Heimat Literature. In:<br />

Daviau, Donald G. (Hg.): Austria in Literature. Riverside: Ariadne Press 2000.<br />

S. 153 – 165.<br />

109


Parin, Paul: Heimat, eine Plombe. Rede am 16. November 1994 beim 5. Symposium<br />

der Internationalen Erich Fried Gesellschaft <strong>für</strong> Literatur und Sprache in<br />

Wien zum Thema „Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt<br />

er.“ Mit einem Essay von Peter-Paul Zahl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt<br />

1996.<br />

Polheim, Karl Konrad: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur.<br />

Am Beispiel der österreichischen Literatur seit 1945. Bern: Peter<br />

Lang 1989. S. 15 – 21.<br />

Prahl, Eckhart: Das Konzept „Heimat“. Eine Studie zu deutschsprachigen Romanen<br />

der 70er Jahre unter besonderer Berücksichtigung der Werke Martin<br />

Walsers. Frankfurt/Main: Peter Lang 1993.<br />

Rossbacher, Karlheinz:<br />

- Die Literatur der Heimatkunstbewegung um 1900. In: Plener, Peter/Zalan,<br />

Peter (Hg.): „[…] als hätte die Erde die Lippen ein wenig geöffnet […].“ Topoi<br />

der Heimat und Identität. Budapest: ELTE Germanistisches <strong>Institut</strong> 1997. S.<br />

109 – 120.<br />

- Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der<br />

Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett 1975.<br />

Schimpl, Karl: Weiterführung und Problematisierung. Untersuchungen zur<br />

künstlerischen Entwicklung von Gerhard Fritsch. Stuttgart: Heinz 1982.<br />

Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.<br />

Schmidt-Dengler, Wendelin:<br />

- Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Anti-Idylle in der neueren österreichischen<br />

Prosa. In: Literatur und Kritik 40 (1969). S. 577 – 585.<br />

110


- „Modo Austriaco“ – Gerhard Fritsch und die Literatur in Österreich. In: Alker,<br />

Stefan/Brandtner, Andreas (Hg.): Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich.<br />

Wien: Sonderzahl 2005. S. 25 – 33.<br />

Schönhaar, Rainer: Leitmotiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle Irmgard (Hg.):<br />

Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche<br />

Verlagsbuchhandlung 1990. S. 264.<br />

Schrott, Regine: Auf der Suche nach Heimat. Die Funktion der Schauplätze bei<br />

Franz Innerhofer. Wien: phil. Dipl. 1995.<br />

Schwarz, Waltraut: Franz Innerhofer – Das Ende einer Anklage. In: Zeman,<br />

Herbert (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende<br />

bis zur Gegenwart (1880 – 1980). Teil 2. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt<br />

1989. S. 1167 – 1183.<br />

Sebald, W. G.:<br />

- Damals vor Graz – Randbemerkungen zum Thema Literatur & Heimat. In:<br />

Görner, Rüdiger (Hg.): Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffes im<br />

19. und 20. Jahrhundert. München: Iudicium 1992. S. 131 – 139.<br />

- Einleitung. In: Ders.: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur.<br />

Salzburg: Residenz 1991. S. 11 – 16.<br />

Solms, Wilhelm: Zum Wandel der „Anti-Heimatliteratur“. In: Polheim, Karl Konrad<br />

(Hg.): Wesen und Wandel der Heimatliteratur. Am Beispiel der österreichischen<br />

Literatur seit 1945. Bern: Peter Lang 1989. S. 173 – 189.<br />

Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur<br />

und Nation. München: Iudicium 1999.<br />

Weichhart, Peter: Heimatbindung und Weltverantwortung. Widersprüche oder<br />

komplementäre Motivkonstellationen menschlichen Handelns? In: Geographie<br />

heute 100 (1992). S. 30 - 44.<br />

111


Weidhase, Helmut: Motiv. In: Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard (Hg.):<br />

Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J. B. Metzlersche<br />

Verlagsbuchhandlung 1990. S. 312.<br />

Weiss, Walter: Zwischenbilanz. In: Schmid, Sigrid/Weiss, Walter (Hg.): Zwischenbilanz.<br />

Eine Anthologie österreichischer Gegenwartsliteratur. Salzburg:<br />

Residenz 1976. S. 11 – 32.<br />

Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner 1989.<br />

Wolfschütz, Hans: Von der Verklärung zur Aufklärung. Zur Entwicklung Gerhard<br />

Fritschs. In: Literatur und Kritik 12 (1977). S. 10 – 19.<br />

Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke – Einschnitte –<br />

Wegmarken. Innsbruck: Haymon 2001.<br />

Ziegler, Wanda: Heimat in der Krise. Der Versuch einer interdisziplinären Annäherung<br />

an den "Heimat"-Begriff mit dem Schwerpunkt: "Salzburger Heimatliteratur".<br />

Salzburg: phil. Dipl. 1995.<br />

Zier, O. P.: Region und Heimat, Widerstand und Widerstände. Literatur der „Europa-Sport-Region“.<br />

In: Literatur und Kritik 307/308 (1996). S. 37 – 43.<br />

112<br />

11.2.1 Rezensionen<br />

Breitenstein, Andreas: Heimkehr in die Fremde. Robert Menasses österreichischer<br />

Wenderoman „Schubumkehr“. In: Neue Zürcher Zeitung 24.2.1995. S. 36.<br />

Fetzer, Günther: Die Herrschaft über die Sprache verloren. In: Mannheimer<br />

Morgen 26.11.1982. O. S.<br />

Freund, Jutta: Franz Innerhofer: Der Emporkömmling. In: Wespennest 53<br />

(1983). S. 43 – 44.


Gollner, Helmut: Österreich-Molekül. In: Literatur und Kritik 293/294 (1995). S.<br />

98 – 99.<br />

Görtz, Franz Josef: Odyssee oder Holzweg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

5.10.1982. S. 26.<br />

Heyl, Tobias: Camcorder und Tiefsinn. In: Der Falter (Beilage) 31.3.1995. S. 16.<br />

Janetschek, Albert: Franz Innerhofer. Der Emporkömmling. In: Literatur und Kritik<br />

181/182 (1984). S. 81 – 82.<br />

Liessmann, Konrad Paul: Da muss es ja alles zerlegen. In: Der Standard (Beilage)<br />

24.5.1995. S. 5.<br />

Matt, Beatrice von: Rückkehr zu den Arbeitern. Franz Innerhofers neuer Roman.<br />

In: Neue Zürcher Zeitung 8.12.1982. S. 39.<br />

Pfabigan, Alfred: Flucht im Zwischendeck. „Das tote Haus“: Peter Zimmermanns<br />

Variante des Anti-Heimat-Romans. In: Wiener Zeitung (Beilage)<br />

10.6.2006. S. 11.<br />

Schobel, Eva: Stille, Qual und Phantomschmerz. Peter Zimmermanns schnörkellose,<br />

grausame Antiidylle „Das tote Haus“ lässt keine Fluchtbewegung zu. In:<br />

Der Standard (Album) 30.6.2007. S. A 6.<br />

Schwens-Harrant, Brigitte: Die Träume auf den Müll geworfen. Peter Zimmermanns<br />

recht düsterer Antiheimatroman. In: Die Presse (Spectrum) 17.6.2007.<br />

S. VII.<br />

Skasa, Michael: Nachrichten von Stirn und Faust. Franz Innerhofers Rückkehr<br />

zu den Arbeitern. In: Süddeutsche Zeitung 285 (1982). O. S.<br />

Strigl, Daniela: Beton im Bayou. In: Der Falter 15.6.2007. S. 56.<br />

113


Thuswaldner, Werner: Leben Arbeiter das wahre Leben? Franz Innerhofers Erzählung<br />

„Der Emporkömmling“ erschienen im Residenz Verlag, Salzburg. In:<br />

Salzburger Nachrichten 11.12.1982. S. 27.<br />

114<br />

11.2.2 Internet<br />

Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen<br />

eines Phantasmas der 80er. In: http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/.<br />

31.7.2007.<br />

Zier, O.P.: Im Kampf mit dem Wort um das Wort. Frank Tichys Innerhofer-<br />

Biografie. In: http://www.biblio.at/rezensionen/details.php 3?mednr%5B0%5D=<br />

luk2004606&anzahl=1. 31.7.2007.


Anhang<br />

Interview mit Peter Zimmermann, 30.9.2007<br />

o Sehen sie sich mit dem Roman „Das tote Haus“ in der Tradition der so genannten<br />

„Anti-Heimat-Literatur?<br />

Nein, das war nicht mein Anspruch. Anti-Heimat-Literatur ist ein einigermaßen<br />

umgrenzter Begriff, der einen bestimmten Umgang von österreichischen Autoren<br />

mit ihrer Herkunft meint. In den siebziger Jahren war diese Art der Literatur<br />

die Antwort der in der Nachkriegszeit geborenen oder aufgewachsenen Generation<br />

auf den geschichtsverfälschenden Heimatkitsch der fünfziger und sechziger<br />

Jahre. Es war eine realistische und mitunter überrealistische Literatur, die<br />

das zum Thema machte, was die Kunst größtenteils aussparte: autoritäre Gesellschaftsstrukturen,<br />

den Katholizismus, die fehlende Anbindung ländlicher<br />

Regionen an ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein, die mangelnde Bildung,<br />

die Sprachlosigkeit.<br />

Mir scheint die Anti-Heimat-Literatur als Genre längst Teil der Literaturgeschichte<br />

geworden zu sein. Aber wenn ich mich mit dem Begriff Heimat auseinandersetze<br />

und an mein Kärnten in den sechziger Jahren denke, dann komme ich<br />

nicht umhin über ein Land und eine Zeit zu schreiben, die mir heute befremdlich<br />

und abweisend anmuten. Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, dann<br />

kommt mir vieles von dem, das mir damals normal schien, sehr roh vor. Man<br />

lebte viel abgeschlossener als heute.<br />

o In einem Interview bezeichnen Sie den Roman als autobiographisch und die<br />

Geschehnisse als verdichtetes Panorama selbst erlebter Erfahrungen. War<br />

es ihnen wichtig, auch Kritik an der ländlichen Realität, beziehungsweise an<br />

Österreich allgemein, zu üben?<br />

115


Kritik an Österreich wollte ich nicht üben. Und die ländliche Realität ist, wie sie<br />

ist. Nicht, dass sie nicht verändert werden könnte, aber, ehrlich gesagt, halte ich<br />

die städtische Bevölkerung auch nicht <strong>für</strong> aufgeschlossener. Der Roman ist in<br />

der Tat stark autobiografisch, auch wenn meine Morde immer nur in der Phantasie<br />

stattgefunden haben. Aber wenn man darüber nachdenkt, warum man als<br />

erwachsener Mensch so und so funktioniert, dann wird man merken (bei mir<br />

war das jedenfalls so), dass man in grundlegenden Dingen immer das Kind ist,<br />

das bestimmte Emotionen im Zusammenhang mit ersten Erfahrungen macht.<br />

Diese Prägungen schleppt man ein Leben lang mit sich – und auch wenn sich<br />

die Lebensumstände vollkommen ändern, erste Erfahrungen mit Einsamkeit,<br />

Dunkelheit, Liebesentzug, Hass, Selbstzerstörung bleiben ziemlich unberührt.<br />

Man merkt das, wenn man einer Situation ausgesetzt ist, die man unbewusst<br />

vergleicht mit einer Kindheitssituation. Manchmal ist es auch nur ein diffuses<br />

Deja-Vu, die plötzliche Ahnung, Vergleichbares schon erlebt zu haben.<br />

Insofern über ich keine Kritik an der Umwelt, in der ich aufgewachsen bin, denn<br />

diese bestand ja ihrerseits aus Menschen, die rund um den Ersten Weltkrieg<br />

und in der wenig erbaulichen Zeit der Ersten Republik und des Ständestaats<br />

Kinder gewesen sind. Ich meine nur, dass schlechte Erfahrungen durch Generationen<br />

durchgereicht werden, während die guten Erfahrungen punktuelle Ereignisse<br />

bleiben.<br />

o Welche Absicht steckt hinter der politisch unkorrekten Bezeichnung „Neger“<br />

<strong>für</strong> den Begleiter des Protagonisten?<br />

Die Absicht war, einen Menschen zu beschreiben, der keinen Namen hat, den<br />

er auszusprechen imstande ist. Der sprachlose Südstaaten - „Nigger“ bleibt <strong>für</strong><br />

den Erzähler ohne Namen und auf seine Zuschreibung beschränkt. Auch wenn<br />

die beiden menschlich einiges verbindet, ist das Spiel mit der rassistischen Zuschreibung<br />

zur Gewohnheit geworden. In der Heimat des Erzählers spiegelt<br />

sich dann der Süden der USA. Die Abneigung gegen den Fremden wird zum<br />

Ausdruck gebracht. Zuerst ist da nur verbale Gewalt, dann aber, als die Unterwerfungsgesten<br />

ausbleiben, wird sie konkret. Neger ist ja nach wie vor eine<br />

gängige Bezeichnung <strong>für</strong> dunkelhäutige Menschen in unserem Land.<br />

116


o Welches sind die Hauptthemen des Romans?<br />

Die Kraft der Erinnerung, das Versagen der Liebe und der Einbruch des Fremden<br />

ins Vertraute. Und natürlich Gewalt. Die tägliche Gewalt und die Zuspitzung<br />

im Mord.<br />

o Welche Funktion hat das Motiv der Heimkehr <strong>für</strong> den Text? Welchen Einfluss<br />

hat es auf den Handlungsverlauf, auf die Textstruktur, zu welchen anderen<br />

Themen/Motiven steht es in Beziehung?<br />

Die Heimkehr ist, wie wir wissen, ein altes Motiv, anhand dessen sich zeigen<br />

lässt, dass in der Zeit der Abwesenheit, bei jenen, die man verlassen hat, entweder<br />

sehr viel oder gar nichts geschehen ist. In meinem Fall ist die Heimat als<br />

Kulisse im Bewusstsein des Erzählers fast verschwunden, als Gefühl war sie<br />

immer präsent. Bei der Rückkehr scheint vieles anders geworden zu sein, doch<br />

es stellt sich rasch heraus, dass die Menschen älter, kränker oder etwas wohlhabender<br />

geworden sind, sich mental aber nicht aus der Bunkermentalität des<br />

Wir-sind-Wir herausgewunden haben. Ohne die Odyssee bemühen zu wollen,<br />

aber auch bei mir führt die Heimkehr nicht zu einem Gefühl der Geborgenheit,<br />

sondern unmittelbar in den Krieg. Der Heimkehrer stemmt sich – unter anderem<br />

durch den Umbau des Hauses, das alle gewohnten Maße sprengen soll – gegen<br />

die Unterwerfungsgelüste der Bevölkerung, was den offenen Konflikt zur<br />

Folge hat.<br />

Damit wird die Heimkehr zu einem Endspiel. Es gibt das Jetzt und das Damals.<br />

Eine Zukunft ist undenkbar. Der Erzähler zieht sich zurück in das Innere des<br />

Labyrinths – d.h. in den Keller, ins verbotene Zimmer, in den Mutterleib. Er<br />

wählt das Lebendig-Begraben-Werden an der Stelle, an der schon seine Familie<br />

aus dem Leben geschieden ist.<br />

o Es gibt mehrere Bilder/Motive, die sich wiederholt im Text wieder finden, etwa<br />

der Großvater mit den Porzellanpierrots, Verse von Lenau oder das Bild<br />

der Akrobatenfamilie. Gibt es so etwas wie ein Leitmotiv im Roman?<br />

117


Es gibt eigentlich nur ein durchgängiges Motiv, und das ist die Sehnsucht nach<br />

der Sekunde der absoluten Stille. Diese hat der Erzähler nach dem Mord an<br />

den Eltern erlebt und die will er immer wieder heraufbeschwören, ohne dass es<br />

ihm möglich ist. Lenau ist wohl auch präsent, aber eher als Reminiszenz an eine<br />

romantische Vorstellung vom Leben, die der Erzähler in seiner Jugend hatte<br />

und die er nie ganz missen will. Dazu ist Lenau in Amerika ähnlich gescheitert<br />

wie der Erzähler. Bei einer stümperhaften Bergbesteigung wollte er sich das<br />

Leben nehmen, was ihm nicht gelungen ist. Der Erzähler tut es ihm nach (in<br />

Ohio), ebenfalls ohne seinem Leben dadurch eine dramatische Wendung geben<br />

zu können.<br />

o Zum Protagonisten:<br />

- Einerseits Dandy, andererseits ein Vergleich mit H.D. Thoreau, lebt in<br />

Manhattan und dann in der Einsamkeit der Sümpfe. Wie charakterisieren<br />

Sie diese widersprüchliche Figur?<br />

Er ist jemand, der vor seiner Vergangenheit flüchtet und versteht, dass das<br />

nicht klappt. Das Dandyhafte ist ja auch nur ein Versuch, sich eine Identität zu<br />

verpassen. Aber wenn man zugleich den frühen Teil seiner Biografie abschneiden<br />

möchte, kommt eben nichts Rechtes zustande. Er will wohl das Kunststück<br />

zuwege bringen, sich selbst im Lauf der Jahre zu erfinden. Er ist der berühmte<br />

Mann ohne Vergangenheit, der bloß das Pech hat, nicht das Gedächtnis verloren<br />

zu haben.<br />

- Was bewegt ihn, heimzukehren an den Ort einer traumatisierenden<br />

Kindheit, beziehungsweise zu bleiben, angesichts der Ablehnung, die<br />

ihm von allen Seiten entgegenschlägt?<br />

Zur Heimkehr entschließt er sich wohl deshalb, weil er in all den Jahren in den<br />

USA weder ein Amerikaner geworden ist, noch „in der Ferne“ sich von dem jungen<br />

Mann entfernt hat, der er bei seiner Flucht aus Europa gewesen ist. Er hat<br />

nichts zuwege gebracht, hat hauptsächlich vom Geld anderer gelebt und immer<br />

nur den Moment der Stille gesucht, diesen einmaligen, scheinbar unwiederhol-<br />

baren Moment, den er im Haus der Kindheit erlebt hat.<br />

118


Die Heimkehr ist der Versuch, diese Stille am Ort des Verbrechens möglicherweise<br />

noch einmal „zu hören“.<br />

o Kann die Heimkehr als gescheitert betrachtet werden, woran ist sie gescheitert?<br />

Der Erzähler hat die Stille, die er gesucht hat, wieder gefunden, diese<br />

scheint aber zur Qual zu werden? Wie lässt sich das Romanende deuten?<br />

Das lässt sich wohl so deuten, dass, wenn man etwas gefunden hat, dem man<br />

ein halbes Leben lang fieberhaft nachläuft, man auch sein eigenes Ende gefunden<br />

hat. Also: man sucht entweder ewig und wird dabei alt, ohne glücklich zu<br />

werden. Oder man kann etwas scheinbar Unwiederholbares noch einmal erleben.<br />

Der Preis da<strong>für</strong> ist jedoch das Ende der eigenen Existenz. Der Erzähler<br />

verharrt im Innenraum der Stille wie in einem Grabmal. Die Welt wird ihn nicht<br />

mehr sehen. Und der Ort am Fuße des Abhangs, auf dem das Haus steht, wird<br />

auch weiterhin der Ort mit seinen beschädigten Menschen sein, die sich seltsame<br />

Geschichten über seltsame Rückkehrer/Eindringlinge erzählen.<br />

119


120<br />

Abstract<br />

Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Verwendungs- und Erscheinungsformen<br />

des Heimkehrmotivs in der österreichischen Anti-Heimat-Literatur. Sie besteht<br />

aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Im theoretischen Teil werden<br />

zu Beginn verschiedene Heimatkonzepte dargestellt und zueinander in<br />

Verbindung gesetzt. Dabei zeigt sich, dass es einige Konstanten gibt, welche<br />

<strong>für</strong> die Entstehung von Heimatgefühl und damit auch <strong>für</strong> die Herausbildung von<br />

Identität und Selbstsicherheit verantwortlich sind. Als unabdingbare Voraussetzungen<br />

sind dabei vor allem eine gelungene Primärsozialisation und funktionierende<br />

soziale Beziehungen zu nennen. Anschließend daran folgt ein Kapitel<br />

zum Wandel des Heimatbegriffes in der Literatur. Es wird gezeigt, dass Heimat<br />

in der Literatur ab dem Entstehen der Heimatkunstbewegung ideologisch aufgeladen<br />

und missbraucht wird. Aus dieser Entwicklung heraus ist die Entstehung<br />

der Anti-Heimat-Literatur zu betrachten, die sich als Gegenpol zur traditionellen<br />

Heimatliteratur verstand. Das entsprechende Kapitel dazu zeichnet den Weg<br />

des Genres von den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart,<br />

definiert die Merkmale und versucht anhand eines aktuellen Konzeptes,<br />

die Stellung der Anti-Heimat-Literatur in der österreichischen Gegenwartsliteratur<br />

zu definieren.<br />

Im Anschluss daran wird auf die Funktion von Motiven allgemein und des<br />

Heimkehrmotivs im Besonderen Bezug genommen. Dabei zeigt sich, dass das<br />

Heimkehrmotiv, als sowohl inhaltliches, wie auch strukturelles Element in der Literaturgeschichte<br />

in verschiedenen Ausprägungen vorhandenen ist, seine Verwendung<br />

in der Anti-Heimat-Literatur jedoch eher selten zu beobachten ist.<br />

Im analytischen Teil wird die Verwendung des Heimkehrmotivs in vier ausgewählten<br />

Werken untersucht. („Fasching“ von Gerhard Fritsch, „Der Emporkömmling“<br />

von Franz Innerhofer, „Schubumkehr“ von Robert Menasse und „Das<br />

tote Haus“ von Peter Zimmermann). Dabei wird sowohl auf die erzähltechnische,<br />

als auch die inhaltliche Ebene Bezug genommen. Der zeitliche Rahmen<br />

der Werke spannt sich über vier Jahrzehnte und zeigt dadurch auch exemplarisch<br />

die Entwicklung des Genres. Abschließend werden die Erkenntnisse der


Einzelanalysen zusammengefasst und Grundaussagen formuliert. Folgende<br />

Besonderheiten lassen sich beschreiben: Zwar ist die Heimkehr Ausdruck einer<br />

Suche nach Heimat und Identität, was der klassischen Motivverwendung entspricht,<br />

allerdings zeigt sich, dass das Heimkehrmotiv in der Anti-Heimat-<br />

Literatur von herkömmlichen, bekannten Verläufen abweicht. Weiters zeigt sich,<br />

dass das Motiv eine zentrale handlungs- und spannungsauslösende Funktion<br />

einnimmt. Das Motiv löst jedoch nicht nur Handlung aus, sondern auch einen<br />

Reflexionsprozess, der einen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />

ermöglicht. Weiters wird mit Hilfe des Heimkehrmotivs nicht, wie in den<br />

klassischen Heimkehrergeschichten, auf Veränderungen, sondern auf Kontinuitäten<br />

beziehungsweise Stillstände hingewiesen. Der Verlauf zeigt eskalatorische<br />

Tendenzen, die zur Verschärfung der Krisen der Heimkehrerer führen und<br />

bewirken, dass die Rückkehr nur von kurzer Dauer ist. Für die Heimkehrer erweist<br />

sich Heimat als Utopie. Bereits vorhandene, im Gedächtnis der Rezipienten<br />

gespeicherte Heimkehrschemata decken sich nicht mit dem Schema der<br />

Heimkehr in der Anti-Heimat-Literatur. Die Identitätskrisen der Protagonisten,<br />

die mitverantwortlich <strong>für</strong> die Entscheidung zur Rückkehr sind, können durch<br />

eine Heimkehr nicht bewältigt werden, in weiterer Folge führt die Heimkehr entweder<br />

in den Tod oder zu einem abermaligen Verlassen der Heimat. Das Heimkehrmotiv<br />

in der Anti-Heimat-Literatur dient in erster Linie dazu, anhand des<br />

Scheiterns der Heimkehrer die Heimat kritisch zu beleuchten. Durch die Heimkehr<br />

zeigt sich, dass es unter den gegebenen Umständen nicht möglich ist,<br />

Heimat zu finden, da die Voraussetzungen, wie sie auch zu Beginn der Arbeit<br />

definiert wurden, nicht erfüllt sind. Weiters zeigt sich, dass erst durch das Heimkehrmotiv<br />

eine Verortung der Werke im Genre möglich ist, da es dazu beiträgt,<br />

dessen Grundaussagen zu vermitteln.<br />

121


122<br />

Lebenslauf<br />

Persönliche Daten<br />

Name Rene Peinbauer<br />

Geburtsdatum 18.08.1980<br />

Geburtsort Linz<br />

Staatsbürgerschaft Österreich<br />

Schulbildung<br />

1986 – 1990 Volksschule Oepping/OÖ<br />

1990 – 1998 BRG Rohrbach/OÖ<br />

Studium<br />

09/2000 – 03/2004 Studium der Sozialarbeit, Bundesakademie<br />

<strong>für</strong> Sozialarbeit, Wien<br />

seit 03/2001 Diplomstudium Psychologie, Universität<br />

Wien<br />

10/2004 – 12/2007 Diplomstudium <strong>Germanistik</strong>, Universität<br />

Wien<br />

Berufliche Tätigkeiten<br />

Seit 2000 Hauptsächlich beschäftigt im Sozialbereich,<br />

vor allem niedrigschwellige Drogen-<br />

und Obdachlosensozialarbeit

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!