11/2016
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
«Wir lassen uns nicht von<br />
Kritik beeinflussen. Und schon<br />
gar nicht einschüchtern.»<br />
Mittwochmorgen,<br />
8.30 Uhr. Vor der<br />
Kaffeemaschine<br />
der kleinen<br />
Küche der KESB<br />
an der Berner Weltpoststrasse hat<br />
sich eine Schlange gebildet. Charlotte<br />
Christener, die Chefin, steht an<br />
wie alle anderen auch. «Charlotte,<br />
hast du kurz Zeit für Frau Sonderegger?<br />
Sie ist am Telefon.» Christine<br />
Brauchle, die Leiterin des Sekretariats,<br />
streckt den Kopf zur offenen<br />
Tür herein, kaum steht Christener<br />
zuvorderst. Sie nickt, zuckt die<br />
Schultern. Der Kaffee muss warten.<br />
Zwei Minuten später schlendert sie<br />
mit einem Headset auf dem Kopf<br />
durch die Gänge. «Ja, ich rechne<br />
auch noch mit einer Anzeige. Aber<br />
was will man machen?», sagt sie.<br />
Leute, die der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde<br />
KESB im Allgemeinen<br />
und ihrer Chefin im<br />
Besonderen nichts Gutes wünschen,<br />
gibt es zur Genüge. Kaum eine<br />
Woche vergeht ohne Schlagzeilen<br />
wie «Sozial-Irrsinn bei der KESB»,<br />
«Mahnwache gegen KESB-Willkür»<br />
oder «Schafft endlich die KESB ab».<br />
Charlotte Christener und ihr<br />
Team haben gelernt, damit zu leben.<br />
Egal ist die Kritik den Menschen, die<br />
hier täglich Entscheidungen über<br />
das Privatleben anderer Leute treffen,<br />
nicht. «Oft können wir uns nur<br />
noch aussuchen, von welcher Seite<br />
wir den Klapf wollen», wird Christeners<br />
Stellvertreter Markus Engel<br />
im Laufe des Tages sagen. Beeinflussen<br />
lassen will man sich davon nicht.<br />
Einschüchtern schon gar nicht.<br />
Meistens geht es um Konflikte<br />
in der Familie<br />
9 Uhr. Das erste Meeting des Tages.<br />
Bei der informellen interdisziplinären<br />
Sitzung diskutiert die Behörde,<br />
bestehend aus insgesamt sieben Personen<br />
– Juristinnen, Sozialarbeitern<br />
und einem Psychologen –, ihre<br />
schwierigen Fälle. Markus Engel trägt<br />
sein erstes «Sorgenkind» vor.<br />
Die Mutter, Akademikerin mit<br />
Migra tionshintergrund, und der<br />
Vater, Lebenskünstler vom Lande,<br />
haben zwar das gemeinsame Sorgerecht<br />
für das zweijährige Kind, aber<br />
sie haben dermas sen unterschiedliche<br />
Ansichten über Kindererziehung<br />
und das Leben im Allgemeinen,<br />
dass der Vater sich nach<br />
diversen Streitereien an die KESB<br />
wandte. Diese setzte für das Kind,<br />
das bei der Mutter lebt, einen begleitenden<br />
Beistand ein. Bei den meisten<br />
Kindesschutzfällen geht es um<br />
Konflikte zwischen den Eltern.<br />
Charlotte Christener lächelt: «Da<br />
haben wieder einmal zwei komplette<br />
Gegensätze zueinander gefunden.»<br />
Die Mutter hat bei der KESB<br />
einen Antrag gestellt, mit dem Kind<br />
ihre Verwandten in der Heimat<br />
besuchen zu dürfen. Der Vater<br />
erhebt Einspruch: Angst vor Kindesentführung.<br />
«Was machen wir?»,<br />
fragt Engel und schielt über seinen<br />
Brillenrand. «Die Eltern sind nicht<br />
verheiratet?», fragt Sozialarbeiterin<br />
Franziska Voegeli.<br />
Markus Engel nickt: «Mutter und<br />
Kind tragen denselben Namen und<br />
haben gültige Pässe. Wenn sie es<br />
entführen wollte, könnte sie doch<br />
einfach mit dem Kind ins Flugzeug<br />
steigen und hätte wohl kaum Vater<br />
und Beistand vorgängig informiert.»<br />
«Was sind die Fakten?», will<br />
Charlotte Christener wissen. Die<br />
Frage der Juristin. Und die unterschwellige<br />
Angst vor den Folgen<br />
eines übereilten Entscheides. «Wir<br />
können nicht einfach über den Daumen<br />
gepeilt davon ausgehen, dass<br />
die schon wieder kommt mit dem<br />
Kind. Was, wenn nicht? Dann sind<br />
wir s Poulet!» Markus Engel soll die<br />
Mutter zu den Einwänden des Vaters<br />
Stellung nehmen lassen. Dann wird<br />
nochmals über die Sache verhandelt.<br />
Eine Heimplatzierung ist vertretbar<br />
Im nächsten Fall geht es um zwei<br />
Buben, 15 und 16 Jahre alt, mit<br />
Schleppern aus Afrika in die Schweiz<br />
gekommen und bei der Tante in Bern<br />
aufgewachsen. Diese zog mit den<br />
Buben in einen anderen Kanton um,<br />
was sie aus ausländerrechtlichen<br />
Gründen nicht hätte tun dürfen. Die<br />
Buben hauten ab, möchten lieber in<br />
der Hauptstadt in einem Kinderheim<br />
leben als bei der Tante in der für sie<br />
fremden Umgebung. «Sie hat den<br />
62 November <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi