11/2016
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
Massnahmen zum Schutz des Kindes.»<br />
So steht es in Artikel 307,<br />
Absatz 1 des Zivilgesetzbuches. So<br />
lautet der gesetzliche Auftrag der<br />
Kindesschutzbehörde. Wie schwierig<br />
es sein kann, diesen Auftrag auszuführen,<br />
zeigt sich in der 10-Uhr-<br />
Sitzung, in der die aktuellen<br />
Ent scheide der KESB diskutiert und<br />
formell erlassen werden. Die erste<br />
und entscheidende Frage lautet:<br />
«Machen wir überhaupt etwas?»<br />
Vermutungen sind keine Fakten<br />
Eine Gefährdungsmeldung einreichen<br />
kann jeder. Amtspersonen,<br />
welche die Gefährdung in der Ausübung<br />
ihres Amtes feststellen, sind<br />
dazu verpflichtet. So geschehen im<br />
Fall, den Franziska Voegeli vorträgt.<br />
Die Gefährdungsmeldung kam von<br />
der Schulkommission, welche häusliche<br />
Gewalt im Fall von vier Geschwistern<br />
im Alter zwischen neun<br />
«Beim Verdacht, dass Eltern<br />
regelmässig ihre Kinder<br />
verprügeln, müssen wir handeln.»<br />
und zwei Jahren vermutet. Die Kinder<br />
sind verhaltensauffällig, schlagen<br />
andere Kinder und erzählten in der<br />
Schule von Schlägen mit Stöcken<br />
und Gürteln. Die Eltern sagten bei<br />
einer Anhörung, sie würden keine<br />
Unterstützung bei der Erziehung der<br />
Kinder brauchen, allfällige Verletzungen<br />
seien auf das Spielen im Freien<br />
zurückzuführen.<br />
«Schwierig», meint Markus<br />
Engel. «Im Moment wissen wir einfach<br />
zu wenig.» Der Entscheid: Die<br />
Eltern werden angewiesen, bei einer<br />
Intensivabklärung vor Ort aktiv mitzumachen.<br />
Mehr kann und will die<br />
Behörde derzeit nicht machen.<br />
Franziska Voegeli atmet tief durch.<br />
Sozialarbeit heisst manchmal auch,<br />
Unsicherheiten aushalten zu müssen.<br />
Die Juristen wollen es genau wissen.<br />
Wenn die Vermutung naheliegt, dass<br />
Eltern regelmässig ihre Kinder verprügeln,<br />
muss man handeln. Aber<br />
eben: Vermutungen sind keine<br />
Fakten.<br />
Viele der Männer und Frauen, die<br />
hier arbeiten, sind selbst Eltern.<br />
Auch Markus Engels Bürowände<br />
zieren zahlreiche Kinderzeichnungen,<br />
die Ablagen diverse Star-Wars-<br />
Figuren. «Dass wir mehr Distanz zu<br />
den Klienten haben als vorher die<br />
Vormundschaftsbehörde, >>><br />
beiden Kinder umbrachte, um sie nicht<br />
zurück ins Heim bringen zu müssen?<br />
Totale Fassungslosigkeit, Bestürzung und<br />
Betroffenheit!<br />
Können Sie sich erklären, warum man in<br />
dem Fall nicht den Grosseltern das<br />
Sorgerecht gab?<br />
Da wir zum Glück nicht in den Fall involviert<br />
waren, ist das sehr, sehr schwer zu beurteilen.<br />
Grundsätzlich wird aber immer zuerst nach<br />
einer Lösung im familiären Umfeld gesucht.<br />
Von KESB-Gegnern wird Ihnen immer<br />
wieder Bürokratie vorgeworfen.<br />
Wir bemühen uns sehr, so unbürokratisch wie<br />
möglich zu sein. Aber ein gewisses Mass an<br />
Bürokratie ist nötig. Schliesslich müssen wir<br />
unsere Entscheide auf juristische Grundlagen<br />
stützen.<br />
Es heisst, die KESB sei total überlastet.<br />
Wir sind sehr gut ausgelastet, das stimmt.<br />
Dennoch gelingt es den KESBs, ihre Arbeit<br />
trotz der Ressourcenknappheit gut zu<br />
erledigen.<br />
Können Sie die Argumente der Gegner<br />
nachvollziehen – beispielsweise man sei<br />
einem übermächtigen Verwaltungsapparat<br />
ausgeliefert, der weit weg vom Alltag der<br />
Menschen agiere?<br />
Ein Stück weit schon. Viele können sich aber<br />
kaum vorstellen, was wir machen. Am meisten<br />
ärgere ich mich über den Vorwurf, wir seien<br />
nur an Machtausübung interessiert. Das ist<br />
das Letzte, was wir wollen. Wir sind im Übrigen<br />
sehr offen und transparent, auch den Medien<br />
und der Politik gegenüber.<br />
Wie gehen Sie privat mit den teilweise<br />
harten Schicksalen um, mit denen Sie<br />
jeden Tag konfrontiert werden?<br />
Es gibt schon Einzelfälle, die mir an die Nieren<br />
gehen. Auch Drohungen – mit Selbstmord<br />
oder gegen mich und meine Mitarbeitenden<br />
– belasten. In der Regel kann ich aber nach<br />
Feierabend gut abschalten. Das muss man in<br />
diesem Beruf können.<br />
Wie erklären Sie Ihren Kindern, was Sie<br />
beruflich machen?<br />
Ich sage ihnen, dass ich versuche, Leuten zu<br />
helfen, die sich selbst nicht helfen können. Die<br />
machen das ja nicht extra. Und ganz wichtig:<br />
Mich interessiert nicht, wer schuld ist an der<br />
Situation, sondern nur, wie die Betroffenen da<br />
wieder herauskommen.<br />
Zur Person<br />
Charlotte Christener-Trechsel ist Anwältin<br />
und seit Mai 2014 für die KESB tätig; seit<br />
<strong>2016</strong> ist sie Präsidentin der KESB der Stadt<br />
Bern. Zuvor arbeitete sie 16 Jahre lang für<br />
das Kantonale Jugendamt Bern. Sie ist<br />
verheiratet und Mutter eines zehnjährigen<br />
Sohnes und einer siebenjährigen Tochter.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
November <strong>2016</strong>65