Industrielle Automation 5/2015
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02 Das Turbinenrad besteht aus einer<br />
schweren, hochfesten Nickellegierung<br />
03 Oben li.: Infrarotbild mit Span (Chip),<br />
Werkstück (Work Piece) und Schnittkante<br />
(Cutting Edge), oben re.: der Bereich, den das<br />
Standardmodell von Komanduri & Hou etwas<br />
anderes erwarten ließ, daraus ergab sich das<br />
modifizierte Model links unten<br />
der Bearbeitung Probleme in den Materialeigenschaften<br />
fest, kann die Weiterverarbeitung<br />
abgebrochen werden, was hohe<br />
Folgekosten verhindert.<br />
Komplexe Aufgabenstellung<br />
Was sich zunächst nach einem idealen Einsatzgebiet<br />
für die Thermografie anhören<br />
mag, entpuppte sich als hochkomplexe<br />
Aufgabe, bei der viele Herausforderungen<br />
gelöst werden mussten. „Vom Beginn der<br />
Versuche mit einer Thermografie-Kamera<br />
bis zum ersten auswertbaren Wärmebild<br />
vergingen vier Wochen“, erklärt Matthias<br />
Brockmann vom Werkzeugmaschinenlabor<br />
der RWTH Aachen, um die Schwierigkeiten<br />
zu verdeutlichen, die das Team lösen<br />
musste. Das war zum einen die exakte Kalibrierung<br />
der Kamera, die von den niedrigen<br />
Emissionsgraden der Nickel-Legierungen<br />
bestimmt war. Jedes Material strahlt oberhalb<br />
des absoluten Nullpunkts Wärmestrahlung<br />
aus. Der Emissionsgrad eines<br />
Körpers gibt an, wie viel Strahlung er im<br />
Vergleich zu einem idealen Wärmestrahler<br />
(einem so genannten schwarzen Strahler)<br />
abgibt. Verschiedene Materialien geben<br />
Wärmestrahlung unterschiedlich stark wieder<br />
ab. „Übliche“ Emissionsgrade liegen bei<br />
0,81 (z. B. Kohle) oder 0,94 (zum Beispiel<br />
Buchenholz). Blanke oder gar polierte Metalloberflächen<br />
verfügen oft über besonders<br />
niedrige Emissionsgrade von zum Teil 0,3.<br />
Derart niedrige Emissionsgrade erschweren<br />
die Ermittlung der tatsächlichen Oberflächentemperatur<br />
trotz Einsatz einer leistungsfähigen<br />
Wärmebildkamera.<br />
„Außerdem haben wir es hier mit einem<br />
Hochgeschwindigkeitsprozess zu tun, d. h.<br />
die Thermografie-Kamera muss in der Lage<br />
sein, in einer Sekunde mehrere Hundert<br />
Bilder aufzunehmen (im konkreten Fall<br />
800 Bilder), um den tatsächlichen Moment<br />
der Zerspanung überhaupt zu erwischen“,<br />
fügt sein Kollege Sascha Gierlings hinzu.<br />
„Da der Span bei den Versuchen oft nur<br />
wenige Mikrometer dick ist (im Beispiel<br />
etwa 15 µm), benötigt man außerdem ein<br />
Makro-Objektiv, das in der Lage ist, feinste<br />
Strukturen darzustellen.“<br />
Geeignete Kamera für<br />
Forschung und Entwicklung<br />
Alle diese Faktoren waren für die Auswahl<br />
der Wärmebildkamera ausschlaggebend.<br />
Beim WZL entschied man sich 2010 für<br />
die Flir SC7600. Die Kamera ist ausgestattet<br />
mit einem gekühlten Photoquantendetektor<br />
mit 640 × 512 Pixel und verfügt über die<br />
nötige Geschwindigkeit, die hohe Auflösung<br />
und ein optionales Makroobjektiv. Die<br />
hohe Genauigkeit, wie sie nur eine gekühlte<br />
Wärmebildkamera mit ihrem Indium-Antimonid-Detektor<br />
(InSb) erreicht, ihre hohe<br />
Auflösung und die Fähigkeit zum Teilbild-<br />
Modus für hohe Bildwiederholgeschwindigkeiten<br />
waren dabei die ausschlaggebenden<br />
Auswahlkriterien.<br />
Im 1/4-Frame-Teilbild-Modus erreicht<br />
die Flir SC7600 eine Bildwiederholfrequenz<br />
von bis zu 800 Hz - das entspricht 800 Einzelbildern<br />
in einer Sekunde. Nur mit dieser<br />
hohen Geschwindigkeit können die Forscher<br />
ihre drängendsten Fragen experimentell<br />
klären. „Uns interessiert: Wohin geht die<br />
Wärmeenergie, die bei der Zerspanung freigesetzt<br />
wird? In den Span? Ins Werkstück,<br />
ins Werkzeug?“, erklärt Sascha Gierlings.<br />
Für die Analyse der Rohdaten setzen die<br />
Forscher die Flir-Software Altair ein.<br />
Der Lohn jahrelanger<br />
Forschungsarbeit<br />
Um die SC7600 optimal zu kalibrieren, verwendeten<br />
die Forscher des WZL ein speziell<br />
entwickeltes 2-Farben-Pyrometer. Mit einem<br />
besonderen Versuchsaufbau gelang es<br />
dem Team weltweit zum ersten Mal die exakte<br />
Temperaturverteilung beim Zerspanen<br />
in einer derart guten Qualität zu visualisieren.<br />
„Es ist schon ein besonderer Moment,<br />
wenn man zum ersten Mal ein Wärmebild<br />
sieht, das in jedem Physiklehrbuch steht,<br />
so aber bisher noch nie gemessen und<br />
überprüft werden konnte“, erläutert Sascha<br />
Gierlings hierzu.<br />
Und dem Team von WZL und IPT gelang<br />
sogar noch mehr als nur die Visualisierung<br />
eines postulierten Standardmodells. Aufgrund<br />
ihrer Untersuchungen konnte die<br />
Theorie an die Praxis angepasst werden.<br />
„Das Standardmodell ließ die höchsten<br />
Temperaturen etwas oberhalb der Stelle<br />
erwarten, an der sich Werkzeug und Werkstück<br />
berühren, das konnten wir in unserem<br />
Fall experimentell so nicht bestätigen.“<br />
erklärt Matthias Brockmann. Für einen<br />
Forscher im Bereich der Zerspanung liegt<br />
in solchen Erkenntnissen der Lohn von oft<br />
jahrelanger Arbeit.<br />
Definierte Prozessbedingungen<br />
schaffen Sicherheit<br />
Für Millionen von Flugpassagieren dagegen<br />
ist es ein echter Sicherheitsgewinn, wenn<br />
Turbinenräder in Zukunft unter Beachtung<br />
dieser Erkenntnisse gefertigt werden. „Dafür<br />
können wir mittlerweile exakte Prozessbedingungen<br />
definieren“, erklärt Dipl.-Ing.<br />
Roland Müller, der am Fraunhofer IPT für<br />
High Performance Cutting (Hochleistungszerspanung)<br />
verantwortlich ist und eng<br />
mit dem WZL-Team um Gierlings und<br />
Brockmann zusammenarbeitet. „Bei genauer<br />
Kenntnis der auftretenden Kräfte, der<br />
Material- und Werkzeugeigenschaften sowie<br />
den Bedingungen beim Zerspanprozess<br />
lässt sich ein realistisches Modell der Temperaturverteilung<br />
erstellen, welches die<br />
bekannten mechanischen Prozesse als Eingangsgrößen<br />
verwendet.“ Und die US-Bundesluftfahrtbehörde<br />
FAA (deren Standards<br />
sich international durchgesetzt haben) hat<br />
offensichtlich starkes Interesse an der Definition<br />
solcher Produktionsbedingungen,<br />
die letztlich der Sicherheit aller Flugpassagiere<br />
zugutekommen.<br />
Foto: Aufmacher Fotolia, 02 MTU Aero Engines GmbH<br />
www.flir.com<br />
04 Die ersten Wärmebilder waren von der<br />
Qualität dieses Thermografie-Bildes noch<br />
weit entfernt, zeigten aber bereits denselben<br />
Moment der Temperaturverteilung<br />
zwischen Werkstück (unten), Span und<br />
Werkzeug (direkt rechts neben dem Span)<br />
68 INDUSTRIELLE AUTOMATION 5/<strong>2015</strong>