12/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Monatsinterview<br />
Odder südlich von Aarhus im Osten<br />
Dänemarks. Eine Kleinstadt mit knapp<br />
<strong>12</strong> 000 Einwohnern. Einzige Sehenswürdigkeit:<br />
die Odder-Kirche von 1150<br />
n. Chr., die älteste Gemeindekirche<br />
des Landes.Jesper Juul wohnt in<br />
einem Backsteinhaus im dritten Stock.<br />
Die Besucher gelangen über eine<br />
Aussentreppe nach oben. Auf der<br />
Dachterrasse stehen Kräuterbeete. An<br />
der grauen Wohnungstür ist ein Schild<br />
angebracht: Jesper Juul.<br />
Die Tür öffnet sich automatisch.<br />
Jesper Juul rollt in seinem elektrischen<br />
Rollstuhl heran. Der Familientherapeut<br />
lebt allein. Die Wohnung ist<br />
rollstuhlgängig, hell, aufgeräumt,<br />
modern. Parkett, kaum Möbel, viele<br />
Dachschrägen. Auf dem Esstisch<br />
liegen Medikamente, an einer Wand<br />
hängen Bilder von seinen Enkelkindern.<br />
Jesper Juul kann nicht am<br />
Tisch arbeiten. Er hat sich ein Tablett<br />
auf den Schoss gelegt. Darauf ist sein<br />
Notebook. So schreibt er seine Bücher<br />
und Kolumnen.<br />
Es ist kurz nach 18 Uhr. Die Medikamente<br />
wirken und machen Jesper Juul<br />
müde. Er hat Mühe, sich zu konzentrieren.<br />
Trotzdem hört er aufmerksam zu,<br />
beantwortet geduldig unsere Fragen.<br />
Erzählt von seiner Hoffnung auf weniger<br />
Schmerzen. Und seiner Idee, seinen<br />
70. Geburtstag im nächsten Frühjahr<br />
mit vielen Freunden zu feiern.<br />
Herr Juul, für viele Eltern sind Sie<br />
Europas bedeutendster Pädagoge,<br />
eine Art Übervater der Erziehung.<br />
Wie fühlt sich das an?<br />
Es ist nichts, was ich anstrebe. Als<br />
ich 1975 mit Familien zu arbeiten<br />
begann, hat niemand über Erziehungsmethoden<br />
gesprochen. Deshalb<br />
unterscheidet sich mein Ansatz<br />
auch von jenen der anderen Experten.<br />
Meine Gedanken entspringen<br />
der Ansicht, dass nicht ich, sondern<br />
die Millionen Mütter und Väter auf<br />
der Welt die besten Experten für ihre<br />
Kinder sind. Sie verdienen diesen<br />
Titel mehr als ich.<br />
Also all jene, die Ihren Rat suchen und<br />
Ihre Bücher kaufen.<br />
Sie sind es, die täglich ihr Bestes<br />
geben. Genau deshalb interessieren<br />
mich die rein intellektuellen Debatten<br />
über Erziehung nicht. Wir sind<br />
alle grundverschieden. Wir sind von<br />
unserer eigenen Geschichte, von<br />
unserer Herkunftsfamilie, von Konventionen,<br />
Kultur und Gesellschaft<br />
beeinflusst. Stellen Sie in einer Familie<br />
eine Kamera auf und beobachten<br />
Sie die Eltern, wenn sie jeweils alleine<br />
mit ihren Kindern sind. Sie werden<br />
staunen! Nicht einmal innerhalb<br />
«Europas<br />
bedeutendster<br />
Pädagoge?<br />
Millionen Mütter<br />
und Väter<br />
verdienen diesen<br />
Titel mehr als ich.»<br />
der Familie ist man sich über Erziehung<br />
einig, selbst wenn man dieselben<br />
Wertvorstellungen hat und sich<br />
auf der gleichen intellektuellen Ebene<br />
befindet. Wie soll man da allgemeingültige<br />
Ratschläge geben?<br />
Man bezeichnet Sie auch als Familienflüsterer.<br />
Diese Bezeichnung mag ich. Ich verstehe<br />
sie als ein Kompliment.<br />
Für einige klingt sie provokativ.<br />
Mein Ding ist die Provokation. Darin,<br />
glaube ich, bin ich erfolgreich. Ich<br />
provoziere, weil ich mir erhoffe, dass<br />
Erzieher und Eltern so über den eigenen<br />
Tellerrand blicken und eine<br />
andere Perspektive einnehmen können.<br />
Im Englischen nennt man dies<br />
«out of the box»-Denken.<br />
Sie bedauerten Kinder, die von ihren<br />
Eltern nach dem juulschen Gedankengut<br />
erzogen würden, sagten Sie in<br />
einem Interview. Warum?<br />
Weil ich stark der Meinung bin, dass<br />
zwischen zwei Menschen, die sich in<br />
einer liebesbasierten Beziehung zueinander<br />
befinden, keine intellektuel-<br />
le Methode stehen soll. Auch keine<br />
Juul-Methode. Ich möchte gar keine<br />
Methode. Ich glaube vielmehr, dass<br />
wir spontan im Hier und Jetzt agieren<br />
und aus unseren ureigenen<br />
Erfahrungen lernen sollten. Wollen<br />
wir uns verändern und etwas lernen,<br />
müssen wir unser Tun reflektieren<br />
und in einen Dialog treten mit den<br />
Personen, die wir lieben.<br />
Sie sagten einmal, es sei furchtbar<br />
gewesen, Kind zu sein. Was war an<br />
Ihrer Kindheit furchtbar?<br />
Furchtbar war, dass weder meine<br />
Eltern noch meine Lehrpersonen<br />
sich für mich interessierten; dafür,<br />
wer ich war und wie ich mich fühlte,<br />
was ich dachte und welche Ideen ich<br />
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