Monatsinterview
Monatsinterview Jesper Juul leidet an einer Entzündung des Rückenmarks. Die Krankheit kam ohne Vorwarnung. >>> die Geburt des eigenen Kindes im Gebärsaal miterlebte. Das war eine sehr lehrreiche und prägende Erfahrung für mich! Sicher hatte meine Entscheidung, als Vater zu Hause zu bleiben, damit zu tun. Sie sind zu Hause geblieben? Als mein Sohn zehn Monate alt wurde, blieb ich tagsüber zu Hause bei ihm. Zwei Jahre lang. Meine Frau studierte damals noch und ging zur Universität. Sie kam gegen 15 Uhr nach Hause. Meine Arbeit in einem Kinderheim begann um 16 Uhr und dauerte bis 23 Uhr. Was war das für ein Kinderheim? Dort wurden Kinder platziert – von der Gemeinde oder vom Staat – , die nicht mehr zu Hause bei den Eltern bleiben und auch keine Regelschule besuchen konnten. Sie waren zwischen 9 und 15 Jahre alt und blieben 8 bis 24 Monate. «Ich provoziere, weil ich mir erhoffe, dass Erzieher und Eltern so über den Tellerrand blicken.» Sie und Ihre damalige Frau haben Ihren Sohn gemeinsam erzogen. War das für Sie stimmig? Zum damaligen Zeitpunkt war es stimmig. Aber ich war nie zufrieden mit meiner Vaterrolle. Warum? Ich war ein weicher, vielleicht sogar fauler Vater – in dem Sinne, dass ich viel weniger eingriff, als man das von Vätern erwartet hätte. Ich erkannte, dass Nicolai Dinge für sich selbst herausfand, wenn ich ein paar Minuten wartete. Oder ein paar Stunden. Oder Tage. Ohne meine Besserwisserei entstanden Konflikte gar nicht erst. Ich hatte allerdings auch Angst, dass ich Nicolai schaden könnte. Deshalb war ich sicher manchmal passiver, als ich es hätte sein sollen. Inwiefern? Mein Sohn war ein talentierter Badmintonspieler. Er trat auch bei Turnieren an. Doch plötzlich wollte er nicht mehr spielen, weil sein Trainer ihn zu sehr unter Druck setzte. Damals verstand ich seine Gründe. Heute glaube ich, ich hätte ihn stärker überzeugen sollen, weiterzumachen. Aber ich hatte eben Angst, den Druck, den er eh schon gespürt hatte, noch zu verstärken. Wie haben Sie Ihren ganz persönlichen «Erziehungsstil» gefunden? Wie alle Eltern: nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Also die Methode, bei der so lange zulässige Lösungsmöglichkeiten ausprobiert werden, bis die gewünschte Lösung gefunden wird. Oder sich die eigene Sicht auf das Ganze verändert hat. Fehlschläge gehören dazu. Was bei uns noch hinzukam, war der Wunsch, es besser zu machen als die Generation vor uns. Gibt es etwas, das Sie heute als Vater anders machen würden? Ich würde in den ersten Jahren weniger tyrannisch sein. Wie meinen Sie das? Wenn wir in den ersten drei bis vier Jahren mit unseren Dickköpfen aneinandergeraten sind, habe ich meinen Sohn hart am Arm gepackt. Ich war auch zornig und laut. Diese Jahre waren für mich sehr lehrreich – für Nicolai eher weniger, fürchte ich. Was ist das Beste, das Ihnen im Leben passiert ist? Ich mache in meinem Leben keine Unterscheidungen zwischen gut und schlecht. Jede Erfahrung war und ist wertvoll und hat mein Leben bereichert. Auch die schmerzvollen. Sie haben über zwei Dutzend Bücher geschrieben, in denen Sie Eltern Erziehungsratschläge geben. Ich gebe keine Ratschläge. Ich plädiere für Dasein, nicht für Pädagogik. Ich habe oft gesehen, dass Eltern ihre eigenen Maximen einfach durch meine Werte und Prinzipien ersetzt haben. Das ist nie meine Absicht gewesen. Welches Buch möchten Sie unbedingt noch schreiben? Ich möchte unbedingt eine neue Version meines 1996 erschienenen Buches «Das kompetente Kind» verfassen. Ein Buch über Selbstwert und Selbstvertrauen liegt mir ganz be «Ich will nicht, dass Eltern ihre eigenen Maximen durch meine Werte und Prinzipien ersetzen.» sonders am Herzen. Beides sind ganz essenzielle Fähigkeiten in der heutigen Gesellschaft und wichtige Voraussetzungen für die psychische Gesundheit. Ihre Kolumnen, auch in diesem Magazin, sind nach wie vor sehr gefragt. Wie schwer fällt Ihnen heute, angesichts Ihrer Krankheit, das Schreiben? Kolumnen oder Texte zu verfassen, die Fragen von Eltern zu beantworten, die Alltagssituationen oder Probleme betreffen, ist für mich nie anstrengend. Auch heute nicht. Sie haben nur noch wenig persönlichen Kontakt zu Eltern und Kindern. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Ihre Tipps und Empfehlungen «aktuell» sind? Die grösste Veränderung ist, dass immer mehr Eltern Erziehung nicht mehr nach dem Prinzip Belohnung und Strafe verstehen. Das bedeutet, dass sie ganz tief innen interessiert sind, neue Wege zu gehen und eine neue Sprache mit ihren Kindern zu sprechen. Sie sind also an einem sehr kreativen und fruchtbaren Punkt angelangt, in dem Inputs wie meine nicht einfach per se abgelehnt werden, sondern auf mehr Interesse stossen. Nur so wird ein Perspektivenwechsel möglich. >>> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Dezember <strong>2017</strong> / Januar 201837