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2008-04

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Weihnachten<br />

Ein ungewöhnlicher Weihnachtsmorgen<br />

Es war ein kalter, aber freundlicher Dezembertag. Die<br />

Sonne ließ die vielen kleinen Kristallsterne, die in der Nacht<br />

zu Boden gefallen waren, funkeln, wie tausend Diamanten<br />

es nicht schöner vermögen. Es war der Tag vor Heiligabend.<br />

Voller Vorfreude machten die Menschen in Reichenbach<br />

und Engelbach ihre letzten Besorgungen, grüßten einander<br />

freundlich und zogen weiter ihres Weges. Es war ein Tag<br />

wie kein anderer im Jahr, voller Stimmung und Frieden,<br />

und selbst die Tiere schienen gebannt von dieser bezaubernden<br />

Atmos phäre .<br />

Doch dann zerbrach ein markerschütternder Schrei die<br />

weihnachtliche Stille, die Zeit schien für einen Moment zu<br />

erstarren, und das Gefühl des Schreckens überfiel Mensch und<br />

Tier wie ein Eiseshauch. In diesem Augenblick fuhr Engel Gabriel,<br />

genauso erschrocken, aus seinem Himmelsthron hoch.<br />

Ahnungsvoll ging er eiligen Schrittes zur weihnachtlich,<br />

prunkvoll geschmückten Himmelspforte. Weit öffnete er<br />

das Tor. Eisiger Wind und dichtes Schneetreiben schlugen<br />

ihm ins Gesicht. Sie ließen kaum einen Blick zur Erde zu.<br />

Verzweifelt wollte er das Tor wieder schließen, doch seine<br />

Kräfte verließen ihn. Ehe er sich versah, packte eine gewaltige<br />

Windböe eine unter ihm schwebende Wolke und ließ<br />

ihn trudeln, wie in einem aufgewühlten Meer. Voller Angst<br />

versuchte er der mächtigen Gewalt Herr zu werden und<br />

steuerte auf eine riesige Wolkenwand zu, die ihn im letzten<br />

Moment wie eine Schutzhülle umgab.<br />

Wie von Geisterhand gestoppt ließ der Sturm nach. Vorsichtig<br />

setzte er einen Schritt vor den anderen. und lauschte.<br />

Unheimliche Stille umfing ihn. Plötzlich teilte sich eine<br />

Wolke unter ihm und ließ den Blick zur Erde frei. Das, was<br />

er sah, ließ ihn erstarren. Im hellen Schein der Sterne sah er<br />

die goldene Himmelsleiter. Vereist und kaum begehbar.<br />

Wollte nicht heute das Christkind zur Erde?, dachte er.<br />

Alle goldenen Schlitten, mit sechs weißen Hirschen bespannt,<br />

waren im Einsatz! Es musste also die Himmelsleiter<br />

nehmen, um pünktlich zum Fest die Pakete auszuliefern!<br />

Ich muss zur Erde!, hämmerte es in ihm. Es muss etwas<br />

Schreckliches passiert sein! Sein verzweifelter Hilfeschrei<br />

Am Dicken Turm<br />

Peter Müller | Kölner Straße 48 | 57072 Siegen | 0271 53616<br />

ging durchs gesamte Himmelreich, der von den vielen<br />

kleinen Engeln, die im Weihnachtslagerraum arbeiteten,<br />

vernom men wurde. Urplötzlich war Engel Gabriel von<br />

einer großen Engelschar umgeben. Entsetzen machte sich<br />

auf den kleinen, zarten Gesichtern breit, als sie die vereiste<br />

Himmelsleiter erblickten.<br />

„Ja, das Christkind wollte heute zur Erde!“, bestätigten<br />

sie erschüttert. „Nach Reichenbach und Engelbach!“ Ungestüm<br />

liefen sie zu ihren Wolkenkammern, schlüpften in<br />

ihre weichen, weißen Fellmäntelchen und setzten sich auf<br />

ihre zugeteilten Wolken. Engel Gabriel nahm ebenso auf<br />

einer Wolke Platz und steuerte auf das große, hell erleuchtete<br />

Himmelstor zu. Ein leichter Windhauch trug sie, der<br />

goldenen Himmelsleiter entlang, zur Erde.<br />

Vor einem tief verschneiten Wäldchen in Engelbach<br />

schwebten sie auf eine Lichtung. Erschrocken hielten sie inne.<br />

Überall im Schnee verstreut lagen bunt verpackte Päckchen.<br />

Leises Wimmern war zu hören. Engel Gabriel erstarrte.<br />

Da lag doch vor seinen Füßen im weichen Pulverschnee, rot<br />

angefroren, fast leblos, das Christkind. Behutsam hob er es<br />

heraus und setzte es auf seine Wolke. Leise kamen die anderen<br />

Engel hinzu und rieben die kleinen, erkalteten Glieder mit<br />

ihren Händen warm. Langsam öffnete es seine Äuglein und<br />

schaute erstaunt um sich. Zaghaft fasste es an seine goldenen<br />

zerzausten Flügel und strich über sein völlig zerknittertes<br />

goldbestäubtes Kleidchen. Sein zartes, mit feinen Locken<br />

umrahmtes Gesichtchen, lächelte. „Gott sei Dank!“, riefen<br />

die Engel erleichtert, „unser Christkind lebt!“ Aber was war<br />

geschehen? Ehe Engel Gabriel fragen konnte, erzählte das<br />

Christkind, dass es von der vereisten Himmelsleiter gefallen<br />

war. „Ich muss doch meine Aufgabe erfüllen! In diesem Jahr<br />

muss ich so viele Kinder bescheren, dass ich bei jedem Gang<br />

zur Erde mehr mitgenommen habe als ich eigentlich tragen<br />

kann!“, entschuldigte es sich leise. „Wir werden dir helfen,<br />

liebes Christkind! Wir bringen die Pakete zur Weihnachtssammelstelle,<br />

und das Verteilen der Geschenke übernehmen<br />

wir auch, dann kannst du dich etwas ausruhen!“, meinten die<br />

Engel spontan. Gemeinsam gruben sie die Päckchen aus dem<br />

glitzernden Schnee, luden sie auf ihre weichen, flauschigen<br />

Wolken und schwebten zur Sammelstelle, die ganz verborgen<br />

hinter dem Wäldchen lag.<br />

Glücklich nahm Engel Gabriel das noch ein wenig<br />

erschöpfte Christkind in den Arm, und beide folgten der<br />

himmlisch singenden Engelschar. Ihre zarten Stimmen<br />

klangen so rein, so überirdisch schön, dass die Men schen<br />

und Tiere, die sie in ihrem Ohr vernahmen, sich aus ihrer<br />

starren Schreckenshaltung lösten und andächtig lauschten.<br />

Der stimmungsvolle weihnachtliche Frieden kehrte langsam<br />

in ihre Herzen zurück.<br />

Und die Menschen in Reichenbach und Engelbach<br />

verbrachten ein Weih nachtsfest, wie es nicht schöner und<br />

glanzvoller hätte sein können. Edith Maria Bürger<br />

8 durchblick 4/<strong>2008</strong>

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