Berliner Zeitung 07.12.2018
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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 286 · F reitag, 7. Dezember 2018<br />
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Feuilleton<br />
Wer Mitte der 60er-Jahre<br />
in der Bundesrepublik<br />
aufwuchs und sich zur<br />
undogmatischen Linken<br />
zählte, der war begeistert von<br />
Noam Chomsky. Esgab kaum einen<br />
Wissenschaftler, der sich mit ähnlicher<br />
Energie gegen den Vietnamkrieg<br />
aussprach. Ich kannte keinen,<br />
der sich als sozialistischen Anarchisten<br />
bezeichnete und zugleich Mitglied<br />
bei der legendären 1905 gegründeten<br />
Organisation der „Industrial<br />
Workers of the Earth“ war.<br />
Gleichzeitig aber fanden einige<br />
von uns Chomskys Vorstellung von<br />
einer dem Menschen eingeborenen<br />
Fähigkeit zur Sprache reaktionär.<br />
Ersuchte nach Tiefenstrukturen.<br />
Wir predigten das „weiße<br />
Blatt“. Freiheit konnte es, sodachten<br />
damals manche, nicht geben,<br />
wenn wir in vielem schon vor aller<br />
Erziehung festgelegt waren.<br />
Der neue Mensch, von dem viele<br />
träumten, würde so neu nicht sein<br />
können, wenn man akzeptieren<br />
müsste,dass die wesentliche Mechanik<br />
des Sprechens von vornherein<br />
und auf ewig festgelegt war. Sprechen,<br />
das wussten wir nicht zuletzt<br />
durch Chomsky,war nicht nur Kommunikation,<br />
wir waren aufs Sprechen<br />
angewiesen, wenn wir dachten,<br />
wenn wir träumten und fantasierten.<br />
Es gab kleine Lesezirkel, in denen<br />
wir unseren soziologischen Blick<br />
stark zumachen versuchten gegen<br />
die Linguistik Chomskys.<br />
Irgendwann verlor diese Auseinandersetzung<br />
an Reiz. Der<br />
Krieg Soziologie gegen Biologie<br />
wurde abgeblasen. Wohl nicht zuletzt<br />
darum, weil die Soziologie<br />
ihn verloren hatte.<br />
Noam Chomsky arbeitete und<br />
unterrichtete an einer der Kaderschmieden<br />
der naturwissenschaftlichen<br />
Intelligenz der USA, am Massachusetts<br />
Institute of Technology<br />
(MIT)inCambridge,Massachusetts.<br />
Aufdessen Website erhält man einen<br />
Überblick über Chomskys wissenschaftliche<br />
Veröffentlichungen.<br />
Der US-amerikanische Linguist und selbst ernannte sozialistische Anarchist Noam Chomsky<br />
Seit den 60er-Jahren veröffentlichte<br />
Chomsky auch Aufsätze und<br />
Bücher zur Außenpolitik der USA.<br />
Er hielt auch am MIT Vorlesungen<br />
zu diesem Thema. In einem langen<br />
Gespräch mit Noam Chomsky, das<br />
2015 geführt wurde und auf You-<br />
Tube zu sehen und zu hören ist, erzählt<br />
der Physiker und Kosmologe<br />
Lawrence M. Krauss,geboren 1954,<br />
wie er in den 70er-Jahren statt Physikvorlesungen<br />
zu besuchen, lieber<br />
in Chomskys Veranstaltungen ging,<br />
die ihm die Augen öffneten für die<br />
wirkliche Geschichte und Gegenwartder<br />
USA.<br />
Er tut das seit einem halben Jahrhundert.<br />
Er ist unermüdlich, wenn<br />
es darum geht, daran zu erinnern,<br />
dass die Väter der amerikanischen<br />
Unabhängigkeitserklärung Sklavenhalter<br />
waren, die vehement die Vernichtung<br />
der indigenen Bevölkerung<br />
betrieben. Das hinderte sie nicht<br />
daran zu erklären: „Wir halten diese<br />
Wahrheiten für ausgemacht, dass<br />
alle Menschen gleich erschaffen<br />
wurden, dass sie vonihrem Schöpfer<br />
mit gewissen unveräußerlichen<br />
Rechten versehen wurden, worunter<br />
sind Leben, Freiheit und das Bestreben<br />
nach Glück.“<br />
Widersprüche nicht nur auszuhalten,<br />
sondern ihnen nachzugehen,<br />
gehört zur Grundausstattung<br />
Noam Chomskys.Wer über die Entwicklung<br />
seiner linguistischen Ansichten<br />
liest, wirdmerken, wie er immer<br />
wieder Kritik aufnahm und sie<br />
Neugierig auf<br />
jeden Irrtum<br />
Zum 90. Geburtstag des<br />
Sprachwissenschaftlers und<br />
Gesellschaftskritikers Noam Chomsky<br />
VonArnoWidmann<br />
DPA/ULI DECK<br />
veränderte. Er weiß, dass er irren<br />
kann. Dass macht ihn nicht vorsichtig,<br />
sondern esgibt ihm die Kraft, zu<br />
seiner Überzeugung zu stehen. Biser<br />
widerlegt wird.<br />
Er scheut keine Kontroverse. Er<br />
setzte sich für die Freiheit von Holocaustleugnernein,<br />
den Holocaust zu<br />
leugnen. Der am7.Dezember 1928<br />
in Philadelphia als Sohn mitteleuropäischer<br />
Juden geborene Noam<br />
Chomsky ist einer der schärfsten Kritiker<br />
der israelischen Politik. Er begreift<br />
schon die Schaffung des Staates<br />
Israel als einen Akt des europäischen<br />
Kolonialismus. Die Be- und<br />
Verdrängung der Palästinenser stehe<br />
in dieser Tradition.<br />
Noam Chomsky hat mehr als<br />
einhundert Bücher veröffentlicht.<br />
Er ist unermüdlich. DieRede,die er<br />
im Mai des Jahres hielt, dauerte<br />
eine Stunde. Man kann sie ebenfalls<br />
auf YouTube sehen. Er spricht<br />
über Donald Trump, über die gewaltigen<br />
Unterschiede zwischen<br />
arm und reich –inden USA und<br />
weltweit. Er spricht über Klimawandel,<br />
Korea, die EU, China und<br />
die Gefahr eines Atomkrieges. Ein<br />
Überblick über die Weltlage.<br />
Es könnte die Rede eines Präsidenten<br />
sein. Aber je länger man<br />
ihm zuhört, desto stärker wird der<br />
Eindruck: Der Mann, der so ruhig<br />
am Pult steht, der keine Spur von<br />
Erschöpfung zeigt, hält diese Rede<br />
in dem Bewusstsein, dass es vielleicht<br />
seine letzte sein könnte, sein<br />
Testament also.<br />
Er will uns unsereLage vorAugen<br />
halten. Er zeigt damit auch, dass<br />
man das kann. Die Welt mag komplex<br />
sein, aber sie ist zu begreifen. Sie<br />
ist nicht unübersichtlich, sondern<br />
im Gegenteil immer wieder erschütternd<br />
voraussehbar und transparent.<br />
Lüge und Wahrheit bilden keinen<br />
undurchdringlichen Dschungel,<br />
sondernlassen sich leicht voneinander<br />
lösen. Vorausgesetzt, man macht<br />
sich die Mühe und schreckt nicht davor<br />
zurück, Anstoß bei denen zu erregen,<br />
die das Sagen haben.<br />
DieStudenten, die ihn fragen, wie<br />
man ankommen soll gegen die<br />
Mächtigen, lächelt er an. „Als ich so<br />
alt war wie ihr,herrschte in den Südstaaten<br />
noch Rassentrennung.<br />
Frauen hatten zu tun, was ihreMänner<br />
sagten. Das ist alles anders geworden.<br />
Ihr lebt in einem freien<br />
Land. Ihrkönnt euch ein eigenes Bild<br />
machen. Ihrkönnt euch zusammentun<br />
mit anderen und etwas ändern.<br />
Das ist ein ungeheures Privileg, ein<br />
großes Glück. Nutzt es.“<br />
Strommasten und Siedlungen im Nirgendwo<br />
Zum Tode des Konzeptualisten, fotografischen Ethnographen und einstigen Beuys-Schülers Lothar Baumgarten<br />
VonIngeborg Ruthe<br />
Inden letzten Jahren pendelte Lothar<br />
Baumgarten zwischen Berlin<br />
und New York. Manchmal tauchte<br />
der asketisch wirkende Künstler mit<br />
den frühzeitig weiß gewordenen<br />
Haaren über der hohen Denkerstirn<br />
sporadisch auf einer der zahllosen<br />
Vernissagen in Mitte,Kreuzbergoder<br />
Tiergarten auf. Meist war der Anlass<br />
eine Ausstellung ehemaliger, konzeptuell<br />
arbeitender Studenten aus<br />
seiner Zeit als Professor an der Universität<br />
der Künste bis 2006.<br />
Nun erreicht uns die Nachricht,<br />
dass Lothar Baumgarten vor wenigen<br />
Tagen gestorben ist, genauere<br />
Informationen zum Todestag fehlen<br />
noch. Der Künstler, 1944 in Rheinsberggeboren,<br />
jung in denWesten gegangen<br />
und zuerst an der Akademie<br />
Karlsruhe als Maler und Fotograf<br />
ausgebildet, hat seine Schüler geprägt,<br />
so wie ihn an der Düsseldorfer<br />
Kunstakademie einst Joseph Beuys<br />
mit seiner Utopie von der<br />
„sozialen Skulptur“ und einem<br />
anthropologisch-ethnologischen<br />
Ansatz beeinflusst<br />
hatte. Berlin ehrte<br />
Baumgarten 2003 mit dem<br />
Kunst-am-Bau-Preis für<br />
sein Gesamtkonzept im Innenhof<br />
des Bundespräsidialamtes.<br />
Seine Arbeiten<br />
sind in zahlreichen internationalen<br />
Sammlungen vertreten,<br />
darunter im Guggenheim Museum i<br />
Lothar Baumgarten<br />
(1944–2018)<br />
DPA/REGINA KÜHNE<br />
NewYork, in der Tate ModernLondon<br />
und der Fondation<br />
Cartier Paris. Seit<br />
1972 war er mehrmals<br />
Teilnehmer der Kasseler<br />
Documenta, bekam 1984<br />
auf der Biennale Venedig<br />
den Goldenen Löwen.<br />
Monatelang hatte er<br />
bei den Yanomami-Indios<br />
im venezolanisch-brasilianischen<br />
Grenzgebiet gelebt, Filme<br />
gedreht, Bilder gemalt und natürlich<br />
fotografiert. Seine komplette ethnographische<br />
Sammlung samt Dokumentationen<br />
schenkte er dem Folkwang<br />
Museum Essen. Zu seinem<br />
prägnanten Nachlass gehört auch<br />
das Fotobuch „Carbon“: Auf den<br />
Spuren der Pionierezog Baumgarten<br />
1989 für vier Monate durch die endlose<br />
Weite der USA, immer entlang<br />
der ersten Eisenbahnlinien. Er erfasste<br />
die industriellen Spuren, die<br />
vonder Eroberung des Westens blieben:<br />
Bilder von überwucherten<br />
Bahngleisen, Güterzügen, lädierten<br />
Strommasten, ausgestorbenen Siedlungen<br />
und Kreuzungen im Nirgendwo.<br />
Mitunter zitiert Baumgarten<br />
auf seinen menschenleeren Fotos<br />
zugleich die Frühzeit der Landschaftsfotografie.<br />
Und ihr Heute: An<br />
öden Stadträndernwölbt sich die zukunftsgläubige<br />
Gegenwart als betonierte<br />
Autobahnbrücke über den<br />
Schienen: Metapher des amerikanischen<br />
Traums, dessen Erfüllung<br />
schon immer in weiter Fernelag.<br />
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