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Immer wieder<br />
einmal<br />
taucht in<br />
meinen Erinnerungen<br />
eine<br />
kleine, ja beinahe<br />
zierliche<br />
Frau auf, die<br />
in den Nachkriegsjahren<br />
eine wichtige<br />
Rolle für viele<br />
Leidgeprüfte<br />
einnahm. Edith<br />
Langner – so<br />
hieß sie – war<br />
ebenso wie<br />
meine Familie<br />
aus Schlesien<br />
geflohen. Ehe<br />
ich einiges aus<br />
der Geschichte<br />
ihres Lebens berichte, will ich vorab schildern, wie es damals<br />
den Geflüchteten im Siegerland erging.<br />
Das erste Hauptdurchgangslager für ganz Nordrhein-<br />
Westfalen gründete die britische Militärregierung auf dem<br />
Wellersberg in Siegen. In der dortigen Kaserne wurden<br />
deutsche Kriegsflüchtlinge und Heimatvertriebene erfasst<br />
und weiterverteilt. Es war die erste wichtige Station für<br />
viele Zuwandernde in ein neues Zuhause. Größtenteils<br />
stammten sie aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen.<br />
Meistens wurden ältere oder ganz junge Einzelpersonen<br />
sowie ältere Ehepaare in Familien der einheimischen Bevölkerung<br />
untergebracht. Diejenigen innerhalb der Siegerländer<br />
Einwohnerschaft, die in den letzten Kriegsjahren nicht<br />
ausgebombt worden waren, mussten zusammenrücken und<br />
Platz für Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Das ging nicht<br />
immer ohne Schwierigkeiten vonstatten. Die vielen Fremden,<br />
die aus den verlorenen Ostgebieten gekommen waren,<br />
verschreckten die Ortsansässigen. Sie sprachen nicht nur<br />
einen anderen Dialekt, man wusste auch sonst kaum etwas<br />
über sie. Der größere Teil der zu Verteilenden bestand aus<br />
Frauen mit einem oder mehreren Kindern. Diese mussten<br />
das Flüchtlingslager in der Fischbacherberg-Kaserne beziehen.<br />
Auch wir, mein Bruder, unsere Mutter und ich, waren<br />
dort mit 75 Personen in einem großen Saal des Blocks F<br />
untergebracht. Dieser hatte früher dem Militär als Veranstaltungsraum<br />
gedient. Die Schlafstätten waren Doppelstock-<br />
Betten, die ziemlich dicht beieinander standen. Die Lagerleitung<br />
hatte für jeden zwei Wolldecken zur Verfügung<br />
Historisches<br />
Die Kümmerin vom Fischbacherberg<br />
Erinnerungen an die Landtagsabgeordnete Edith Langner<br />
gestellt. Die Ernährung organisierten die Briten unter dem<br />
damals üblichen Schlagwort „Quäkerspeisung“ aus ihren<br />
Armeebeständen.<br />
Der Winter 46/47 war besonders streng. Die meisten<br />
Scheiben der Kasernenfenster waren bei den Großangriffen<br />
am 16. Dezember 1944 und am 1. Februar 1945 zerstört worden.<br />
Man hatte sie mit Pappe und anderen Materialien notdürftig<br />
geflickt. Viele Frauen hatten in ihrem Fluchtgepäck<br />
Skihosen mitgebracht, denn diese waren auch in ihrer verflossenen<br />
„kalten Heimat“ wichtig gewesen. Jetzt aber waren<br />
sie noch notwendiger geworden. Die Frauen hatten sich<br />
mittels eines Bezugscheins eine Säge besorgt. Damit gingen<br />
sie nachts in die Wälder, um Bäume aus schlagreifen Haubergsbeständen<br />
umzusägen. Trockene Äste oder am Boden<br />
liegendes Reisig gab es längst nicht mehr. Der Waldboden<br />
sah aus wie mit einem Teppich belegt. Die größeren Kinder<br />
gingen nachts mit in den Wald. Sie sollten die Frauen warnen,<br />
wenn irgendwo der Förster auftauchte. Dieser kontrollierte<br />
die Wälder regelmäßig, denn Holzraub fand immer statt.<br />
Gleichzeitig war einer der älteren Männer in die zerstörte<br />
Stadt Siegen hinunter gegangen, um dort einen Kanonenofen<br />
samt Ofenrohren aus den Trümmern zu graben. Diesen<br />
Ofen schleppte er samt Zubehör dann den Berg hinauf ins<br />
Lager, um ihn dort betriebsbereit zu machen. Das Ofenrohr<br />
führte durch ein Fenster in den Garten. Nachdem die Frauen<br />
das geschlagene Holz zum Lagerkeller befördert und zersägt<br />
hatten, konnte der Kanonenofen ausprobiert werden. Er<br />
erwärmte sich so stark, dass er zu glühen begann. Angelockt<br />
durch die sich ausbreitende Wärme setzten sich Frauen und<br />
Kinder in einem Kreis um den Ofen herum und begannen<br />
zu singen. Es erklangen die Lieder: „Kein schöner Land<br />
in dieser Zeit“, „Die Gedanken sind frei“, „Es klappert die<br />
Mühle am rauschenden Bach“, „Im schönsten Wiesengrunde“,<br />
„Der Mond ist aufgegangen“, einige weitere sowie am<br />
Schluss: „Guten Abend, gute Nacht“.<br />
Ich erinnere mich, dass sich plötzlich Frieden und Gemütlichkeit<br />
im Lager ausbreitete. Später gingen alle still zu<br />
Bett und dachten an ihre verlorene Heimat. Und so manche<br />
heimliche Träne wurde von den zwei Wolldecken aufgesogen…<br />
Der gute Geist des gesamten Lagers war in dieser<br />
Zeit die Pastorenwitwe Edith Langner. Vor knapp 50 Jahren<br />
schilderte sie gegenüber einem Reporter die wichtigsten<br />
Stationen ihrer Lebensgeschichte: „Am 23. Januar 1913<br />
erblickte ich in Posen das Licht der Welt. Als ich drei Jahre<br />
alt war siedelte meine Familie nach Schlesien über. Erzogen<br />
wurde ich in einem für politische und soziale Fragen offenen<br />
Elternhaus. Erste eigene Erfahrungen sammelte ich als<br />
Kindergärtnerin und Hortnerin in einem der ärmsten Viertel<br />
in Breslau. Anschließend war ich drei Jahre als Hauslehrerin<br />
beschäftigt.“ Die bei ihren Tätigkeiten erworbenen Kenntnisse<br />
prägten ihr gesamtes Leben. Noch wichtiger hierfür<br />
war indes ihre kurz vor Kriegsausbruch vollzogene Heirat<br />
mit dem Pfarrer Erich Langner. Als der frisch Angetraute<br />
kurz darauf zum Kriegsdienst eingezogen wurde, fackelte<br />
sie nicht lange: „Ich übernahm die Betreuung der Gemeinde<br />
meines Mannes. Dazu zählte unter anderem die Erteilung<br />
des Religionsunterrichts in der Schule, das Abhalten des<br />
Gottesdienstes einschließlich der Taufen. Daneben musste<br />
ich auch Zeit für die Bedrängten der Gemeinde finden.“<br />
1944 wurde ihr Mann in Russland als vermisst gemeldet.<br />
Er sollte nie wiederkehren. Edith Langner: „Anfang 1945<br />
musste ich zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester<br />
fliehen, meine fünfjährigen Zwillingssöhne Wolf-Dietrich<br />
und Hans-Winfried an der Hand. Die große Wanderung mit<br />
dem Schrecken im Nacken begann. Sie führte schließlich<br />
in eine als Notquartier eingerichtete Kaserne in Siegen. Nur<br />
wenige Habseligkeiten waren mir geblieben.“ Zum Jammern<br />
fand sie freilich keine Zeit. Ein neuer Anfang musste gemacht<br />
werden, Zuversicht und Lebenskraft waren ungebrochen.<br />
Innerhalb des Lagers suchten rasch Leidgeprüfte Hilfe<br />
und Rat bei der jungen Pfarrfrau. Sie konnte energisch zupacken,<br />
wenn es galt, schnell zu helfen. Auch die Koordination<br />
zwischen der Stadt Siegen und dem Flüchtlingslager<br />
wurde von ihr wie selbstverständlich übernommen. Trotz<br />
aller Nöte und Entbehrungen dachte Edith Langner in ihrem<br />
späteren Leben gerne an jene Tage zurück: „Die Menschen<br />
rückten einander näher, der Umgang war offen und herzlich.“<br />
Und ihr abschließendes Resümee überrascht beinahe:<br />
„Es war eine gesegnete Zeit!“<br />
Auch bei vielen anderen hatte der Lebensmut nicht nachgelassen.<br />
Die Menschen suchten sich nach und nach, wo immer<br />
es möglich war, eine Arbeit. Die meisten Flüchtlingsfrauen<br />
gingen putzen. Die allererste Tätigkeit unserer Mutter bestand<br />
darin, auf dem gesamten Fischbacherberg die Lebensmittelkarten<br />
auszutragen. Auch ansonsten normalisierte sich das<br />
Leben allmählich. Die Soldatenstuben der Kaserne waren in<br />
kleine Wohnungen mit Flürchen und Toilette umgewandelt<br />
worden. Jede Familie konnte eine solche Wohnung beziehen.<br />
Gedenktafel für Edith Langner – leider<br />
z.Zt. beschmiert).<br />
Fotos: Nicole Scherzberg<br />
Es gab eine einklassige Schule für alle Altersstufen. Zwei<br />
Frauen hatten sich mit Lebensmittelgeschäften in verschiedenen<br />
Blocks ebenso wie eine Frisörin selbstständig gemacht.<br />
Für Edith Langner hingegen waren zunehmend Aufgaben<br />
und Pflichten über die Grenze des Lagers hinausgewachsen.<br />
Nachdem sie 1947 Mitglied der CDU geworden und vier<br />
Jahre lang als Bürgervertreterin in kommunalen Ausschüssen<br />
tätig gewesen war, zog sie 1952 als Stadtverordnete in den<br />
Rat der Stadt ein. Hier übernahm sie im Vertriebenenrat sogleich<br />
den Vorsitz. Die sozialen Probleme bildeten nach wie<br />
vor das Hauptfeld ihres nimmermüden Engagements. Und<br />
sie machte es gerne: „Wenn niemand mehr zu mir kommen<br />
sollte, um sein Herz auszuschütten, dann habe ich wohl etwas<br />
falsch gemacht und meine Aufgabe verfehlt, glaube ich.“<br />
In zahlreichen Frauenvereinigungen ihrer Partei – bis hin<br />
zum Hauptausschussmitglied der CDU-Bundesfrauenvereinigung<br />
- mischte sie mit. Sie übernahm nach wie vor aber<br />
auch kirchliche Aufgaben wie zum Beispiel den Vorsitz der<br />
evangelischen Frauenhilfe auf dem Fischbacherberg; später<br />
wurde sie Presbyterin der Kirchengemeinde Siegen. Edith<br />
Langners Werdegang erlebte im Jahr 1966 eine entscheidende<br />
Wende. Ihren Job als Sozialhelferin bei der Inneren<br />
Mission musste sie aufgeben, denn sie war über die CDU-<br />
Landesliste in den Düsseldorfer Landtag gewählt worden.<br />
Dass sie auch hier wieder in einem Ausschuss mitwirkte, der<br />
mit Sozialem sowie Angelegenheiten der Flüchtlinge und<br />
Vertriebenen befasst war, versteht sich beinahe von selbst.<br />
Bevor Edith Langner 1975 aus dem NRW-Landtag ausschied,<br />
verriet sie ihre geheimsten Wünsche: „Ich möchte<br />
sehr gern wieder musizieren oder hin und wieder genüsslich<br />
ein Buch lesen. Große Reisen möchte ich machen in andere<br />
Länder.“ Bis zu ihrem Tod am 7. Dezember 1986 blieben ihr<br />
noch elf Jahre Zeit hierzu.<br />
Auf dem Fischbacherberg begann man Mitte der Siebziger<br />
Jahre mit dem Abriss der alten Kasernengebäude, die einem<br />
Wohnpark Platz machten. Lediglich der rot verputzte Block F<br />
blieb erhalten. Und neben diesem Block errichtete man ein<br />
Denkmal für Frau Edith Langner. Erna Homolla<br />
Der frühere Block F, das einzig erhaltene Gebäude der Kaserne<br />
auf dem Fischbacherberg.<br />
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