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BERLINER KURIER, Sonntag, 2. Juni 2019<br />
In ihrer Erinnerung ist es<br />
Sommer. Da ist das<br />
Schwimmbecken daheim in<br />
dem wilden Garten.<br />
Jede Minute verbringt Anna<br />
von Boetticher als kleines Mädchen<br />
in dem Wasser. Es ist ihr<br />
Ozean. Sie malt sich die Farben<br />
des Meeres aus, die bodenlose<br />
Tiefe, das Unergründbare.<br />
Sie zieht sich ihre orangefarbene<br />
Taucherbrille auf, nimmt einen<br />
tiefen Atemzug und taucht<br />
unter. Immer länger hält sie es<br />
aus. Die Arme werden schwer, die<br />
Beine ebenso.<br />
Alles in ihr will atmen. Sie ignoriert<br />
es. Bis schwarze Pünktchen<br />
vor ihren Augen tanzen. „Etwas<br />
sagte mir dann, dass das die Grenze<br />
ist“, erzählt sie, „dass ich jetzt<br />
aufhören muss.“<br />
Anna von Boetticher lächelt.<br />
Wir treffen sie in einem Café in<br />
Friedrichshain. Hier lebt die 48-<br />
Jährige, wenn sie nicht gerade<br />
auf Zypern oder den Bahamas ist<br />
oder beliebter Gast in Talkshows.<br />
Es ist das Atemlose,<br />
mit dem siei die<br />
Menschen in<br />
den Bann<br />
zieht. Sie<br />
lebt vor,<br />
wie man<br />
zu mentaler<br />
Stärke<br />
finden,<br />
wie man<br />
in extremen<br />
Situationen<br />
die<br />
Ruhe<br />
bewahren<br />
und<br />
ganz bei sich bleiben kann. Anna<br />
von Boetticher ist inzwischen eine<br />
der erfolgreichsten Apnoe-<br />
Taucherinnen der Welt.<br />
Sie ist eine Freitaucherin, die<br />
immer wieder erprobt, wie tief ihr<br />
Körper sinken, wie lange sie mit<br />
nur einem Atemzug unter Wasser<br />
bleiben kann. Das Wort Apnoe<br />
leitet sich vom griechischen apnoia<br />
ab und wird mit „Windstille“<br />
und „Atemlosigkeit“ übersetzt.<br />
Ihr Rekord im Apnoe-Tauchen<br />
liegt bei 125 Metern in drei Minuten.<br />
Sie hält es auch sechs Minuten<br />
ohne Atem aus –allerdings<br />
nur, wenn sie sich nicht bewegt.<br />
Insgesamt stellte sie in zehn<br />
Jahren 33 deutsche Rekorde und<br />
einen Weltrekord auf. Bei vier<br />
Weltmeisterschaften holte sie<br />
„Die meisten<br />
von uns<br />
limitieren<br />
sich selbst.“<br />
dreimal Bronze.<br />
Was sie damals als Kind alleine<br />
im Pool wagte, bezeichnet sie inzwischen<br />
als sehr gefährlich. „Das<br />
war sehr wahrscheinlich die<br />
größte Lebensgefahr, in die ich<br />
mich mal gebracht habe.“<br />
Heute rät sie jedem, weder in<br />
der Badewanne, im Pool oder im<br />
Meer die Luft anzuhalten, wenn<br />
man ungeübt und niemand in der<br />
Nähe ist.<br />
Anna von Boetticher ist 1970 in<br />
München geboren. Sie wächst auf<br />
dem Land auf, genießt „uneingeschränkten<br />
Platz“ mit Haustieren,<br />
dem Garten und dem Pool,<br />
sieht im Winter die schneebedeckten<br />
Berge –und träumt sich<br />
in einenoch weitere Welt hinaus.<br />
Sie ist fasziniert von dem<br />
Schnee, aber auch vom Meer. Als<br />
sie mit ihren Eltern und Geschwistern<br />
auf Segelreise um die<br />
Ionischen Inseln in Griechenland<br />
ist, fällt Besteck ins Wasser. Sie<br />
holt es wieder hoch –16Meter<br />
tief vom Meeresgrund.<br />
„Ich habe früh gemerkt, dass ich<br />
das Tauch-Gen habe“, sagt sie.<br />
Mit 17 macht sie einen Tauch-<br />
Lehrgang und -Schein. Später<br />
entdeckt sie ihre Leidenschaft für<br />
das Freitauchen. Vorher studierte<br />
sie Literatur- und Theaterwissenschaften.<br />
„Ich lese für mein Leben<br />
gern.“ Bis vor kurzem hatte sie<br />
noch eine Buchhandlung in Berlin.<br />
Seit 2015 trainiert sie mit<br />
Kampfschwimmern und Minentauchern<br />
der Bundeswehr, die<br />
unter teils schwierigsten Bedingungen<br />
–ingroßer Tiefe, bei völliger<br />
Dunkelheit –die Nerven behalten<br />
müssen. „Sie dürfen unter<br />
Wasser nicht in Panik verfallen,“<br />
sagt sie.<br />
Auch dort geht es darum, Ruhe<br />
zu bewahren.<br />
Im Vorwort ihres Buches „In die<br />
Tiefe. Wie ich meine Grenzen<br />
suchte und Chancen fand“ (Ullstein<br />
Verlag, 16 Euro) wird sie als<br />
„das perfekte Beispiel“ beschrieben,<br />
dass jeder seinen Traum erfüllen<br />
kann, wenn er es nur will.<br />
Anna von Boettichers Lunge ist<br />
ein Viertel kleiner als bei anderen<br />
Frauen. Zudem schränkt eine Autoimmunkrankheit<br />
ihre Belastbarkeit<br />
ein.<br />
Sie nickt. „Die meisten von uns<br />
limitieren sich selbst, bevor sie etwas<br />
angefangen haben.“ Viele<br />
schreckten zurück, weil sie sich<br />
für zu alt, zu jung, zu dick oder<br />
einfach für unfähig hielten. Viele<br />
kleine Grenzen, um sich davon<br />
abzubringen, etwas Neues auszuprobieren.<br />
„Man muss ja nicht<br />
gleich an Superlative denken, es<br />
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