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Berliner Zeitung 08.06.2019

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4 8./9./10. JUNI 2019<br />

Als mein Vater von der Arbeit kam,<br />

rannte ich zur Tür und fiel ihm in<br />

die Arme. Das machte ich jeden<br />

Abend. Und wie an jedem Abend<br />

roch er nach Rasierwasser, und seine Bartstoppeln<br />

kratzten mich an den Wangen, obwohl<br />

er sie am Morgen erst abrasiert hatte.<br />

Ich freute mich auf die Gute-Nacht-Geschichte,<br />

die er mir gleich erzählen würde.<br />

Doch dann spürte ich, dass an diesem Abend<br />

etwas anders war. Meine Eltern warfen sich<br />

Blicke zu, die ich nicht deuten konnte.<br />

Als ich im Bett lag, setzten sie sich zu mir<br />

und sagten: „Nächste Woche ziehen wir um.<br />

Nach Ost-Berlin.“<br />

Ich verstand erst einmal gar nichts. Wir<br />

lebten in Mariendorf, tief im Westen. Klar,<br />

mein Vater arbeitete in Ost-Berlin, das<br />

wusste ich, er war Kulturattaché am ägyptischen<br />

Kulturbüro, das an die Botschaft angebunden<br />

war,und besaß den Diplomatenstatus.Erpendelte<br />

jeden Tagüber die Grenzein<br />

die Friedrichstraße.Auch das wusste ich.<br />

Im Osten hatte er eine Zweitwohnung,<br />

spärlich eingerichtet, im zehnten Stock eines<br />

Hochhauses am Hackeschen Markt, die ihm<br />

die Botschaft zur Verfügung stellte. Manchmal<br />

übernachteten wir dort. Doch das waren<br />

immer nur kurze Besuche, die nie länger als<br />

einen Tagdauerten.<br />

Wenn ich an Ost-Berlin dachte, sah ich<br />

graue Häuser mit Einschusslöchern inden<br />

Fassaden vor mir. Ich konnte mir nicht vorstellen,<br />

dort zu leben. Wo würde ich zur<br />

Schule gehen? Würde ich meine Freunde<br />

nicht mehr sehen?<br />

Dienächsten Tage verbrachte ich mit dem<br />

Versuch, meine Eltern umzustimmen. Ich<br />

stritt, ich bettelte, ich kreischte und weinte.<br />

Doch es half alles nichts. Meine Mutter erklärte<br />

mir, dass mein Vater so öfter bei uns<br />

sein könne. Meine Kindersachen wurden in<br />

Kisten verstaut, mein Vater brachte eine<br />

nach der anderen in den Osten. Ich schwor,<br />

dass ich diesen Umzug meinen Eltern nie<br />

verzeihen würde –vor allem nicht meinem<br />

Vater,der ja schuld war an allem.<br />

Erst viel später verstand ich, dass die Botschaft<br />

auf einen Umzug gedrängt hatte,mein<br />

Vater war schließlich ein Repräsentant Ägyptens<br />

in Ost-Berlin, es machte sich bei Staatsempfängen<br />

nicht gut, wenn zur Sprache<br />

kam, dass er mit seiner Familie im Westen<br />

wohnte.<br />

Es gab vieles,was ich erst später verstand.<br />

Zum Beispiel, warum meine Mutter durchsetzte,<br />

dass ich weiterhin in West-Berlin zur<br />

Schule gehen konnte. Sie wollte mich nicht<br />

aus meiner vertrauten Umgebung reißen. Sie<br />

glaubte nicht daran, dass wir lange in Ost-<br />

Berlin bleiben würden. Der Umzug sollte<br />

eine Übergangslösung sein –eswar das Jahr<br />

1986, wir blieben bis nach der Wende.<br />

Ich bekam ein Dauervisum für Angehörige<br />

des Diplomatischen Dienstes. Damit<br />

durfte ich an der Grenze den Diplomatenübergang<br />

nutzen und konnte fast ohne Kontrolle<br />

von Ost nach West und zurück pendeln.<br />

Ich war sieben Jahre alt, ich wohnte<br />

jetzt also in Ost-Berlin –und ging in West-<br />

Berlin zur Schule. Jeden Morgen und jeden<br />

Nachmittag lief ich allein durch die Diplomatenschleuse<br />

des Grenzübergangs im Tränenpalasts.Und<br />

ich hasste es jeden Tag.<br />

WIE SCHWER DIE ENTSCHEIDUNG, IN DEN<br />

OSTEN ZU ZIEHEN, meinen Eltern gefallen<br />

sein muss,vor allem meiner Mutter,auch das<br />

begriff ich erst viele Jahre später. Mein Vater<br />

und meine Mutter lernten sich in der DDR<br />

kennen. Es waren die späten 70er-Jahre,<br />

mein Vater, der in Leipzig promoviert hatte,<br />

arbeitete in Kairoals Rechtsanwalt, als er für<br />

einen Vortrag inseine alte Studentenstadt<br />

eingeladen wurde. Erstieg in Ost-Berlin in<br />

den Zug, im Abteil begegnete er meiner Mutter,einer<br />

hübschen Germanistikstudentin.<br />

Sie verliebten sich, doch war von Anfang<br />

an klar, dass sie keine Beziehung führen<br />

durften. Der Vater meiner Mutter war Offizier,<br />

als Ingenieur wartete er die Triebwerke<br />

der Regierungsstaffel Honeckers. Ägypten<br />

war in den 70er-Jahren eines der modernsten<br />

arabischen Länder und orientierte sich<br />

mehr und mehr Richtung Westen. Meine<br />

Mutter und mein Vater hätten nicht einmal<br />

miteinander reden dürfen.<br />

Als die Stasi ihreBeziehung entdeckte,begann<br />

für meine Familie eine schwere Zeit.<br />

Mein Großvater verlor seine Position als Offizier,<br />

weil er sich weigerte, seine Tochter nie<br />

wiederzusehen. Meine Mutter wurde tagelang<br />

verhört, an der Uniwurde ihr zunächst<br />

untersagt, die Diplomprüfung abzulegen,<br />

und als sie dagegen erfolgreich Widerspruch<br />

einlegte, ließ man sie durch die Prüfung fallen.<br />

„Ein Diplom brauchen Siejanicht mehr,<br />

da Sie einen Ausländer aus dem Westen heiraten<br />

wollen“, gab der Prüfer ihr mit auf den<br />

Weg. „Ich gehe davon aus, dass die DDR für<br />

Siekeine Heimat mehr darstellt.“<br />

Doch meine Mutter war schon immer<br />

eine hartnäckige Frau, Siesetzte durch, dass<br />

sie die Prüfung doch noch ablegen konnte<br />

und bestand diese mit Auszeichnung.<br />

Das Mädchen mit dem blau<br />

Suzanne Salem war sieben Jahre<br />

alt, als ihre Familie von Westnach<br />

Ost-Berlin zog. Zur Schule<br />

aber ging sie weiter in Mariendorf.<br />

Bis zur Wende lief sie jeden Tag<br />

durch den Grenzübergang<br />

Tränenpalast –eine kleine Pendlerin<br />

zwischen den Systemen<br />

VonSuzanne Salem<br />

Suzanne Salem bei ihrer Einschulung in Mariendorf<br />

1985. PRIVAT<br />

Siebekam eine Stelle als Lehrerin an einer<br />

Schule in Schöneweide und wurde schwanger.Regelmäßig<br />

bestellte die Stasi sie jetzt in<br />

das Amt für Volksbildung im Plänterwald, so<br />

erzählte sie es mir später. Man setzte sie unter<br />

Druck, malte ihre –und meine –Zukunft<br />

in düsteren Farben.<br />

Meine Mutter bekam große Angst, man<br />

würde sie verhaften oder mich ihr wegnehmen,<br />

sie litt unter Panikattacken, der Schuldirektor<br />

nannte sie nur noch „Frau Staatsfeindin“,<br />

und ihr wurde klar, dass sie in diesem<br />

Land keine Perspektive mehr hatte.<br />

Nach meiner Geburt beschlossen meine Eltern,<br />

nach Ägypten zu gehen.<br />

Für meine Mutter wurde das Leben dort<br />

nicht leichter. Die deutsche Schule in Kairo,<br />

an der sie sich bewarb,erkannte ihr DDR-Diplom<br />

nicht an. Siesaß mit einem Kleinkind in<br />

einem fremden Land, dessen Sprache sie<br />

nicht verstand, dessen Frauenbild nicht zu<br />

dem passte, was sie aus der DDR gewohnt<br />

war. Auch hier hatte sie keine Zukunft,<br />

schließlich beantragte sie Asyl in West-Berlin.<br />

Ich hatte eine glückliche Kindheit in Mariendorf,<br />

ich erinnere mich an das viele<br />

Grün, an die Spielplätze, alles war sehr beschaulich.<br />

Der Umzug nach Ost-Berlin riss<br />

mich aus meiner kleinen Kinderwelt. Ichverstand<br />

damals nicht, wie groß dieser Schritt<br />

erst für meine Mutter gewesen sein musste,<br />

und auch nicht, warum sie mich um keinen<br />

Preis in eine Schule in der DDR geben wollte,<br />

deren System sie so tief enttäuscht hatte.<br />

IN DEM HOCHHAUS IN DER ROCHSTRAßE 9,<br />

das wegen seines Grundrisses Windmühle<br />

genannt wurde, wohnten damals auch andere<br />

Diplomaten. Die Museumsinsel, das<br />

Rote Rathaus und der Fernsehturm waren<br />

nicht weit. Vonmeinem Kinderzimmerfenster<br />

aus sah ich auf die S-Bahngleise und den<br />

Schulhof der Schule nebenan. Die Kinder,<br />

die dort spielten, kannte ich nicht. Ich stieg<br />

jeden Morgen am Bahnhof Marx-Engels-<br />

Platz, der heute Hackescher Markt heißt, in<br />

die S-Bahn und fuhr bis zur Friedrichstraße,<br />

bis zum Grenzübergang im Tränenpalast.<br />

Vorden hohen Fenstern der Abfertigungshalle<br />

drängte ich mich durch die Menschenmassen,<br />

jeder wollte der Erste in der<br />

Schlange sein, niemand kümmerte das Kind<br />

mit blauem Schulranzen, das allein im Gedränge<br />

stand. Ich bekam im Laufe der Jahre<br />

viele Ellenbogen an Kopf und Schulter.<br />

Hatte ich es endlich in den Tränenpalast<br />

geschafft, passierte ich die quälend langsame<br />

Gepäckkontrolle. Jede Tasche wurde<br />

geöffnet und durchsucht. Gleich daneben<br />

gab es einen schmalen Gang, der immer leer<br />

war. Das war mein Gang. Die ersten Male<br />

ging ich ihn an der Hand meiner Mutter hinunter.Sie<br />

lief die Strecke mit mir gemeinsam<br />

ab, um sicherzugehen, dass ich meinen<br />

Schulweg allein bewältigen konnte.<br />

Als ich zum ersten Mal allein über die<br />

Grenze ging, stellte ich mich trotzdem erst<br />

mal in die lange Schlange, eserschien mir<br />

nicht richtig, einfach daran vorbeizugehen,<br />

ich war schüchtern, ich wollte nicht auffallen.<br />

Da entdeckte mich der Grenzer und rief:<br />

„Du bist doch Diplomatin, du musst hier<br />

nicht stehen. Da vorn ist dein Durchgang!“<br />

Alle starrten mich an. Die verwunderten,<br />

teils aber auch missbilligenden Blicke<br />

brannten sich in meinen Rücken, ich spüre<br />

sie bis heute.<br />

So viele Menschen starben bei dem Versuch,<br />

aus der DDR zu fliehen. Und auch,<br />

wenn ich das damals nicht hatte wissen können<br />

–esverfolgt mich bis heute,dass ich, ein<br />

kleines Kind, einfach so an allen vorbeigehen<br />

durfte, ich wurde nicht mal richtig kontrolliert.<br />

Es war ein Privileg, das ich nicht verstand,<br />

das mir unangenehm war.Noch heute<br />

kann ich nicht gut an einer wartenden<br />

Schlange vorbeigehen, nicht am Flughafen,<br />

Der Grenzübergang an der Friedrichstraße, auch Tränenpalast genannt, am 10. November 1989: Die Schlange der Wartenden wa<br />

nicht nachts im Club, ich stelle mich an,<br />

selbst wenn ich auf der Gästeliste stehe.<br />

OBWOHL ICH MICH SCHÄMTE, HATTE ICH IR-<br />

GENDWANN GENUG SELBSTVERTRAUEN gesammelt,<br />

meinen Kinderausweis in der<br />

Menge hochzuhalten. Ich versuchte, dabei<br />

so lässig wie möglich auszusehen, später<br />

machte es mir sogar ein wenig Spaß. Daswar<br />

schon was, dort einfach durchzulaufen, wie<br />

eine ganz wichtige kleine Person. Die Grenzer<br />

kannten mich: Ein Kind, das den kaum<br />

besuchten Diplomateneingang zweimal am<br />

Tagpassierte,fiel eben auf. Ihre Namen hingegen<br />

erfuhr ich nie.<br />

In „meiner“ Diplomatenschleuse – so<br />

nannte ich sie, weil ich dort nie jemand anderen<br />

sah –stand ein Häuschen, in dem zwei<br />

Grenzer saßen, die sich im Schichtdienst abwechselten:<br />

Einer war hager und hatte stechende<br />

Augen, der andere war dicklich. Ich<br />

erfand Namen für sie, nannte sie Lolek und<br />

Bolek, wie die polnischen Kinderbuchfiguren,<br />

die ich immer etwas gruselig fand, oder<br />

auch der Dicke und der Dünne, wie die beiden<br />

Gendarmen in den Saint-Tropez-Filmen<br />

mit Louis de Funès.<br />

Lolek –oder Bolek –saß erhöht hinter einer<br />

Scheibe und blickte von oben auf mich<br />

herab. Ohne ein Wort von sich zu geben,<br />

schaute er mir prüfend in die Augen, dann<br />

wieder auf mein Passbild, wieder in meine<br />

Augen. Er durchblätterte meinen dreiseitigen<br />

Kinderpass Tagfür Tagaufs Neue, als<br />

gäbe es dort einen Geheimcode zu entdecken,<br />

der nur durch besonders angestrengtes<br />

Hineinschauen sichtbar gemacht werden<br />

konnte.<br />

Je älter ich wurde,desto frecher traute ich<br />

mich zu sein. Einmal fragte ich den Grenzer:<br />

„Bonjour,çava? Heuteschon jemanden verhaftet?“<br />

Ich wollte ihm eine Reaktion entlocken,<br />

irgendeine. Er aber verzog keine<br />

Miene. Esist nicht so, dass Lolek und Bolek<br />

unfreundlich waren, nur unnahbar. Tagein,<br />

tagaus sah ich die gleichen regungslosen Gesichter,die<br />

gleiche professionelle Kälte.<br />

Wenn etwas die Eintönigkeit meines<br />

Schulwegs durchbrach, war es meistens unangenehm.<br />

Einen Vorfall habe ich bis heute<br />

nicht vergessen, und ich verstand danach<br />

das erste Mal, warum die Menschen den<br />

Grenzübergang an der Friedrichstraße „Tränenpalast“<br />

nannten.<br />

Ich wollte gerade durch meine Diplomatenschleuse<br />

gehen, als die alte Frau, die neben<br />

mir an der Gepäckkontrolle stand, anfing<br />

zu schreien und zu weinen, die Grenzer<br />

hatten ihr die Durchreise in den Westen verweigert.<br />

Ich sah noch, wie sie weggeführt<br />

wurde. „Aber ich will doch nur einmal meinen<br />

Enkel sehen!“, rief sie. Der Grenzer<br />

fischte einen Bilderrahmen aus ihrem Koffer,<br />

der noch immer auf der Gepäckablage lag,<br />

und schmiss ihn in den Mülleimer.<br />

DieVerzweiflung der Frau, die Ungerechtigkeit<br />

des Ganzen und vorallem dieWillkür,<br />

all das spürte ich – nur in Worte fassen<br />

konnte ich diese Gefühle als Kind noch nicht.<br />

Wenn ich meinen Eltern abends von Situationen<br />

wie dieser erzählte, wichen sie aus,<br />

vielleicht, weil sie dachten, dass ich noch zu<br />

klein war,weil sie meine kindliche Unschuld<br />

bewahren wollten. Das führte dazu, dass in<br />

mir nach und nach eine große Wutentstand.<br />

Undspäter, alsich merkte,dass ich nichts an<br />

dieser Situation ändern konnte, eine große<br />

Resignation.<br />

NACH DER SCHLEUSE DURCHQUERTE ICH<br />

DEN TRANSITBEREICH und lief schließlich<br />

durch einen langen gekachelten Gang hinunterzum<br />

Bahnsteig derU6. Ichsehe diesen<br />

Gang noch heute in meinen Träumen. Es<br />

sind Träume, indenen ich laufe und laufe<br />

und nirgendwo ankomme. Mittlerweile ist

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