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10 8./9./10. JUNI 2019<br />
Oscar Wilde (1854–1900) Dies ist einer vonnur zwei<br />
bekannten Briefen des Autors von„Das Bildnis des Dorian<br />
Gray“ an den Autor von„Dracula“. Der jungeBram<br />
Stoker hatte zuvor,umdas Jahr 1879 herum, eine Stelle<br />
als Manager am Lyceum Theatre in London angenommen,<br />
und Wilde bat ihn, für ihn ein Ticket zu reservieren.<br />
Die beiden Iren Wilde und Stoker hatten als Studenten<br />
um dieselbe Frau konkurriert, eine jungeDublinerin<br />
namens Florence Balcombe, die Stoker später heiratete.<br />
Trotzdem wurden sie unzertrennlich. „Seien Sie versichert/Immer<br />
der Ihre/Oscar Wilde“, ist dieser Brief unterschrieben:<br />
rares Zeugnis einer wunderbaren literarischen<br />
Männerfreundschaft.<br />
Marcel Proust (1871–1922) Wenn Proust einen neuen Text entwarf, benutzte er Blätter aller Formen und Größen und sammelte<br />
sie alle. Die hier überlieferten Entwürfe zu „Im Schatten der jungen Mädchen“, dem zweiten der sieben Bände seines Opus „Auf der<br />
Suche nach der verlorenen Zeit“, wurden seinem sogenannten violetten Notizbuch entnommen. Eine Schreibkraft der Nouvelle<br />
Revue Française fügte 18 Manuskriptfragmente auf einem großen Blatt zusammen, um in die Vielzahl der Entwürfe Ordnung zu<br />
bringen. Prousts Kompositionsprozess trieb alle zur Verzweiflung: Er hatte eine Sauklaue, überarbeitete endlos, zerstörte gedruckte<br />
Korrekturen mit Streichungen und zusätzlichen Passagen und nahm auch nach Erscheinen vonBändennochÄnderungen vor.<br />
Giacomo Puccini (1858–1924) PuccinisAutografen sind<br />
so einzigartig,wie seine Musik klingt. Dieser Entwurf –aus<br />
Akt1von „Das Mädchen aus dem goldenenWesten“ –lässt<br />
auf einen jener koffein- und nikotingetriebenenKompositionsräusche<br />
schließen, die den größten Hitkomponisten der<br />
Klassik schon zu Lebzeitenlegendärmachten.<br />
Keiner schreibt mehr irgendwas mit der Hand. Dabei sagt nichts<br />
so viel über einen Menschen aus wie der Zauber der Schrift<br />
VonChristian Seidl<br />
*<br />
Sigmund Freud (1856–1939) Der Erfinder der Psychoanalyse<br />
bestand auf eine professionelle Beziehung zu seinen<br />
Patienten. Weil er glaubte, dass nur so ein Erfolg der<br />
Therapie garantiertsei –aber auch aus pragmatischen<br />
Gründen: „Ich bin immer noch gezwungen, meinen Lebensunterhalt<br />
zu verdienen“, sagte er dem befreundeten<br />
amerikanischen Neurologen RoyGrinker,der 1933 seine<br />
gesamte Familie zur Behandlung nach Wien brachte und<br />
um Preisnachlass bat. Freud berechnete den vollen Satz<br />
von100 Schilling die Stunde und stellte im Juni 1934<br />
diese Rechnung über 2000 Schilling aus.<br />
Marie Antoinette (1755–1793) Es war im September<br />
1788, ein Jahr vordem Sturmauf dieBastille, als<br />
Marie Antoinette in diesem Brief an ihre Schwester<br />
Maria Karolina einen neugeborenen Neffen begrüßte.<br />
Sie muss viele solche Briefe geschrieben haben, denn<br />
Maria Karolina gebar ihrem Mann Ferdinand I. von<br />
Neapel-Sizilien 16 Kinder.Der kleine Carlo Gennaro,<br />
Nummer 15, sollte allerdings binnen eines halben<br />
Jahres an Pocken sterben, und auch Marie Antoinettes<br />
eigenes Leben erfuhr durch die Französische Revolution<br />
eine jähe Wendung. Sie starb im Oktober 1793<br />
auf dem Schafott.<br />
Hellmuth Karasek schrieb seine Texte bis<br />
zuletzt mit der Hand. Auch John Irving<br />
benötigt für seine Romane bis heute nicht<br />
mehr als Tinte und Papier und inspirierte<br />
so sogar einen Popsong:„John Irving /Wenn ich dir ein<br />
Lied sing/Legst du dann den Stift hin“, singt Judith<br />
Holofernes –voller Bewunderung übrigens, für die<br />
„Komik und Poesie“ der Bücher und die Schreibgewohnheiten<br />
des Autors gleichermaßen.<br />
Denn einerseits ist längst erwiesen, dass das Zusammenwirken<br />
von Hand und Hirn das Denkvermögen<br />
steigert und handgeschriebene Texte imZweifel<br />
mehr Tiefe haben. Andererseits schreibt kaum mehr<br />
jemand irgendwas mit der Hand –wozu gibt’s Notebooks,<br />
Tablets, Smartphones? Manuskripte, ganze<br />
Romane sowieso nicht. Aber auch keine Briefe: Nur<br />
noch sieben Prozent der täglich 70 Millionen Briefe in<br />
Deutschland gehen vonprivatanprivat–und wie wenige<br />
hiervon wiederum mit der Hand geschrieben<br />
sind, lässt sich nur schätzen. Jedenfalls nicht viele.<br />
*HANDGESCHRIEBEN VOM AUTOR<br />
Die Handschrift verschwindet also Stück für Stück<br />
aus dem Alltag, und das ist ein Jammer. Denn wenig<br />
sonst sagt so viel über einen Menschen aus.Und egal,<br />
was er sonst für Spuren hinterlässt in der Welt –die<br />
handschriftlichen Spuren sind, als unmittelbare Zeitzeugen,<br />
die intimsten und aussagekräftigsten biografischen<br />
Quellen.<br />
Die Autografen auf dieser Seite stammen aus dem<br />
Besitz desbrasilianischen Schriftstellers und Verlegers<br />
Pedro Corrêa doLago, der seit seiner Jugend Handschriften<br />
sammelt. 140 seiner 100 000 Dokumente<br />
umfassenden Sammlung präsentiert nun der Taschen-Verlag<br />
in dem Band„Zauber der Schrift“ (464 S.,<br />
30 Euro). DerTitel bezieht sich auf einen Brief vonStefan<br />
Zweig, der einst Rainer MariaRilke um das Manuskript<br />
eines seiner Versbücher bat: „Ich weiß, ich verlange<br />
sehr viel, denn ich kenne den Zauber derSchrift,<br />
ich weiß, dass man mit der Handschrift eines Buches<br />
nicht nur schenkt, sondern auch ein Geheimnis verrät.<br />
Freilich eines,das sich nur der Liebe enthüllt.“<br />
Elisabeth I. (1533–1603) Ein Hofschreiber schrieb diesen<br />
Brief, mit dem die jungeElisabeth, nur drei Tage,nachdemsie<br />
den Thron bestiegen hatte, den Richter Edward<br />
Saunders wieder als Generalstaatsanwalt einsetzte. Oben<br />
rechts gibt er an, dass diese Garantie „By the Queen“ ausgestellt<br />
wurde; oben links fügte Elisabeth ihre Signatur<br />
hinzu, schwungvoll ornamentiertund miteinem abschließenden<br />
Vierpass. Wenig später führte sie die königliche<br />
Signatur „Elizabeth R“ ein (für Elisabeth Regina) –die gleiche<br />
Form, die heute ihre Nachfolgerin und Namensvetterin<br />
auf dem englischen Thron benutzt.<br />
Gutsch<br />
Leo<br />
Liebe SPD, mein Name ist Jochen Gutsch,<br />
und ich möchte mich mit diesem Schreiben<br />
bei Dirumeine Stelle bewerben, die gerade<br />
frei geworden ist: den Parteivorsitz. Natürlich<br />
kommt dieser Schritt überraschend.<br />
Auch für mich. Aber hätte ich erst lange überlegt<br />
und mir meine Zukunft als Parteivorsitzender<br />
realistisch, vernunftgesteuert und<br />
mit allen Konsequenzen vor Augen geführt,<br />
dann wäre ich doch nur zu dem Schluss gekommen,<br />
mich lieber nicht zu bewerben. Insofern:<br />
Was braucht ein zukünftiger SPD-<br />
Chef mehr als eine ordentliche Portion Naivität,<br />
Masochismus und Gottvertrauen?<br />
Womöglich wirst Du, liebe SPD, meine<br />
Bewerbung als anmaßend empfinden. Du<br />
hebst dein uraltes, rotes Köpfchen und<br />
krächzst: Was bildet sich der Kerl ein? Wir<br />
sind immer noch die Partei von Bebel,<br />
Brandt, Schmidt und Wehner! Ja, sicher. Ist<br />
aber auch schon eine ganze Weile her. Im<br />
Moment bist Du die Partei vonScholz, Schäfer-Gümbel<br />
und Rolf Mützenich.<br />
Liebe SPD,<br />
nimm mich!<br />
VonJochen-Martin Gutsch<br />
Deshalb möchte ich rasch zum inhaltlichen<br />
Kern meiner Bewerbung kommen. Was<br />
habe ich anzubieten, politisch? Nun, nicht<br />
viel. Aber da passen wir doch gut zusammen,<br />
oder?<br />
Wo komme ich her, politisch? Eine<br />
zeitlang war ich der gewählte Vertreter im<br />
FDJ-Gruppenrat meiner Schulklasse. Anschließend<br />
verlor die FDJ aufgrund gesellschaftlicher<br />
Umwälzungen stark anZulauf.<br />
Mit Bedeutungsverlusten von Massenorganisationen<br />
und ehemaligen sozialistischen<br />
Volksparteien kenne ich mich also sehr gut<br />
aus. Dazu bin ich Journalist bei einer Tageszeitung.<br />
Auch der stetige Untergang ist mir<br />
vertraut.<br />
Ichdenke,diese Erfahrungen können nur<br />
hilfreich sein als SPD-Vorsitzender. Erfahrungen<br />
im professionellen Politikbetrieb<br />
habe ich keine. Das ist ein Riesenvorteil. Ich<br />
bin unverbraucht und bringe den Blick „von<br />
außen“ mit. Da stehen die Leute drauf, weil<br />
sie denken, der „Blick vonaußen“ sei gleichzusetzen<br />
mit: klug, lebensnah, unabhängig.<br />
Selbst viele Journalisten glauben das und<br />
schreiben über YouTuber Rezo (nicht verwandt<br />
mit Rezzo Schlauch), auch wenn der<br />
nichts wirklich Kluges sagte. Ist aber egal.<br />
Undegales Zeug reden –das kann ich auch!<br />
Ichbringe frischen Wind in die SPD.Naja,<br />
frisch. Ichbin 47. Aber Deutschland wirdimmer<br />
älter, sowie ich auch. Wir schreiten Seit<br />
an Seit.<br />
Mein Leben lang habe ich die SPD gewählt.<br />
Fast 30 Jahre. Ichbin einer dieser Sozi-<br />
Stammwähler, von denen es immer heißt,<br />
die SPD hätte sie längst verloren. Beider Europa-Wahl<br />
stand ich in der Wahlkabine und<br />
dachte: Wieder SPD? Warum eigentlich?<br />
Dann fielen mir zwei Dinge ein. Erstens: das<br />
beruhigende Gefühl. Es gibt gerade so viel<br />
Umbruch in derWelt, dass ich es schön finde,<br />
wenn die uralte SPD immer noch da ist. Der<br />
neue Wahlslogan der SPD sollte lauten: „Wir<br />
kommen aus dem 19. Jahrhundert. Na und?“<br />
Dann dachte ich auch an Kurt Tucholsky,der<br />
mal schrieb,SPD wählen heißt: Mantut was<br />
für die Revolution und weiß, mit dieser Partei<br />
kommt sie ganz bestimmt nicht. Das trifft<br />
mein Lebensgefühl.<br />
Zweitens: Die Sehnsucht nach der Mitte.<br />
Rechts wird die AfD immer stärker. Links<br />
schießen die Grünen in die Höhe. Beide<br />
mag ich nicht leiden. Beide stehen für eine<br />
gesellschaftliche Debatte, die immer ideologischer,<br />
spaltender, aggressiver wird. Ich<br />
habe Sehnsucht nach einer klugen Stimme<br />
aus der Mitte.Wer sollte den gesellschaftlichen<br />
Versöhnungs-Onkel spielen, wenn<br />
nicht die alte Tante SPD? Genderneutral gesprochen.<br />
Mein erste Handlung als SPD-Vorsitzender:<br />
Ich führe für jeden Genossen den „Friday<br />
for Future“ ein. Wie gehen alle nicht zur<br />
Arbeit –für das Klima.<br />
Liebe SPD, ich hoffe, Dein Interesse geweckt<br />
zu haben. Antworte bitte schnell, so<br />
lange es Dich noch gibt. Undniemals vergessen:<br />
EisernUnion!