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Berliner Zeitung 08.06.2019

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8 8./9./10. Juni 2019<br />

INSEKTEN<br />

VonSabine Rohlf<br />

OLD SCHOOL<br />

VonChristoph Dallach<br />

Gärtnern<br />

Dave Goulson hat eine Leidenschaft für Insekten:<br />

Als Biologieprofessor forscht, lehrt<br />

und publiziert erseit vielen Jahren über sie.<br />

Er ist einer der bekanntesten Wildbienenschützer<br />

Großbritanniens und gründete den<br />

englischen Hummelschutzbund. Seine Bücher<br />

sind unterhaltsam, oft lustig und immer<br />

sehr informativ,einige davon sind Bestseller.<br />

Das neueste stellt das besorgniserregende<br />

Verschwinden seiner Lieblingstiere in den<br />

Mittelpunkt –und das, was wir dagegen tun<br />

können. Ausgehend vonseinem eigenen Naturgarten<br />

in Sussex beschreibt er,wie ein insektenfreundliches<br />

Stück Land aussehen<br />

muss. Ohne Kunstdünger und pestizidgetränkte<br />

Pflanzen, dafür mitWildkräutern, ein<br />

bisschen Unordnung und einem Rasen, auf<br />

dem Löwenzaun und Wiesenschaumkraut<br />

blühen. Er beschreibt, wie das perfekte Insektenhotel<br />

aussieht oder warum schon der<br />

kleinste Tümpel Arten rettet, gibt Tipps für<br />

Ohrwurm-freundlichen Obstgärten, für bienenfreundliche<br />

Rosensorten und Blütenformen.<br />

Er erklärtganz genau, warum Insekten-<br />

Oasen hinterm Gartenzaun dringend nötig<br />

sind, die Daten, die er dabei präsentiert, sind<br />

nicht schön. Undererzählt Geschichten über<br />

Bienen, Hummeln<br />

und Co., ganz entspannt<br />

und wie immer<br />

vergnüglich.<br />

Imkern<br />

Dave Goulson:Wildlife<br />

Gardening. DieKunst, im<br />

eigenen Garten die Welt zu<br />

retten.Deutsch vonElsbeth<br />

Ranke. Hanser,München<br />

2019. 301 S.,24Euro.<br />

Sarah Wiener hat als Köchin, Unternehmerin,<br />

Autorin, TV-Küchenfee und frisch gewählte<br />

EU-Parlamentsabgeordnete für Österreichs<br />

Grüne eigentlich alle Hände voll zu<br />

tun. Dass sie nun auch noch ein Bienenbuch<br />

veröffentlichte, wäre, denkt man sich, eigentlich<br />

nicht nötig gewesen. Zumal gerade<br />

alle Welt über Bienen redet und schreibt. Wer<br />

entsprechend skeptisch zu lesen beginnt,<br />

wird angenehm überrascht. Denn hier äußert<br />

sich eine Enthusiastin und zwar nicht<br />

übers ImkernimAllgemeinen, sondern, und<br />

das liest man dann doch nicht so oft, über die<br />

wesensgemäße Bienenhaltung, also sozusagen<br />

avancierte Bioimkerei. Um deren Logik<br />

zu verstehen, braucht es eine Menge Wissen<br />

über Bienen, das breitet Wiener aus. Sie beschreibt,<br />

sichtlich fasziniert, wie ein Volk als<br />

Ganzes funktioniert, und was einzelne Tiere<br />

leisten, wie die Arbeitsteilung zwischen Arbeiterinnen,<br />

Drohnen, Königin funktioniert. Sie<br />

zeigt, dass sich die Imkerei oft ein gutes Stück<br />

vonden Bedürfnissen der summendenVölker<br />

entfernt hat und wie sich das ändern ließe.<br />

Natürlich erzählt sie von ihren eigenen Bienen,<br />

von Stichen und weltbestem Honig. Da<br />

sie mit ihnen (noch) in Brandenburg lebt<br />

und sich dortmit imkernden<br />

Nachbarn<br />

befreundete, erfährt<br />

man dabei auch einiges<br />

übers Imkern in<br />

der DDR.<br />

SarahWiener: Bienenleben.<br />

VomGlück, Teil der Natur<br />

zu sein. Aufbau,Berlin<br />

2019. 281 S.,22Euro.<br />

Wererzählt, lebt noch: In den Erzählungen der Alten in Sarajevo steckt eine funkelnde Schönheit, die den Jungen und Emsigen unbekannt ist.<br />

Die Freiheit vor dem Tod<br />

Dunkel, traumhaft und schön –Dževad Karahasans Erzählungsband „Ein Haus für die Müden“<br />

In Bosnien, der Heimat des Erzählers<br />

Dževad Karahasan, waren Geschichten<br />

immer auch ein Mittel, um das Unglück<br />

und den Todzubannen. Wererzählt,<br />

lebt noch –die listige Scheherazade<br />

aus dem Morgenland hatte diesen Trick einst<br />

ersonnen. Karahasans Protagonisten sind<br />

ihrelegitimen Nachfahren. Siemonologisieren,<br />

philosophieren oder schreiben Briefe an<br />

längstVerschollene,denn dieWeltgeschichte<br />

und der Todmischen sich immer wieder bedrohlich<br />

in ihr Leben ein, rauben ihnen geliebte<br />

Menschen, Heimat, Sicherheit. Ganz<br />

schuldlos an ihrem Leid sind sie indes selten.<br />

„Ein Haus für die Müden“ heißt das neue<br />

Buch von Karahasan. Ein Band mit Erzählungen<br />

über vorwiegend ältere Menschen,<br />

die Verluste erfahren haben, vomFortschritt<br />

überrannt werden oder dem Todins Auge<br />

blicken. Doch keine Angst: Diese abgekämpften,<br />

existenziell vereinsamten Männer<br />

und Frauen sind alles andere als ermüdend.<br />

In ihren trotzigen Verweigerungen, ihren<br />

melancholischen Tagträumen, in denen sich<br />

das Alltägliche, das Fantastische und die Erinnerung<br />

mal poetisch, mal aberwitzig vereint,<br />

steckt eine funkelnde Schönheit, die<br />

den Jungen und Emsigen unbekannt ist.<br />

Karahasans Geschichten, an denen er 25<br />

Jahre gearbeitet haben soll, erstrecken sich<br />

chronologisch vom Beginn des Ersten Weltkriegs<br />

bis heute und spielen in der bosnischen<br />

Provinz und der Umgebung vonSarajevo.<br />

So bildet der Autor ein Panorama bosnischer<br />

Geschichte und Schicksale ab, die von<br />

der conditio humana erzählen.<br />

VorJahren hat der gläubige Juso,zum Entsetzen<br />

seiner Frau und Töchter, den Sohn<br />

verstoßen, weil er angeblich in einem Bordell<br />

gesehen worden war. Nie wieder hat die Familie<br />

etwas vonihm gehört, Juso bleibt unerbittlich,<br />

wartet aber insgeheim auf die Rückkehr<br />

desVerstoßenen. Bald enteignen die Sozialisten<br />

in Jugoslawien, die Juso für<br />

schlechte Schauspieler und Betrüger hält,<br />

VonMathias Schnitzler<br />

Dževad Karahasan: Ein Haus für die Müden.<br />

Ausdem Bosnischen vonKatharina Wolf-Grießhaber.<br />

Suhrkamp, Berlin 2019. 239 S.,24Euro.<br />

seine Bäckerei und bieten ihm an, Geschäftsführer<br />

zu werden –was Juso ablehnt und lieber<br />

hungert. Als die Töchter verheiratet und<br />

aus dem Haus sind, hat Juso sich von seiner<br />

einst so geliebten Frau entfremdet, sie in seinem<br />

Groll vernachlässigt und steht nun, vereinsamt<br />

und dem Todins Auge blickend, vor<br />

den Trümmern seiner Existenz. In diesem<br />

Moment, am Abend des Johannistages setzt<br />

die Geschichte „Feuergeburt“ ein. In den<br />

letzten Stunden seines Lebens weiten sich<br />

seine Gedanken und Gefühle, ihm gelingt,<br />

wenn auch zu spät, ein erlösender Befreiungsschlag.<br />

Hajrija, die Unorthodoxe, die von ihrer<br />

Mutter fortgejagt wurde und bis heute im<br />

Dorf als Schlampe beschimpft wird, hat alle<br />

Männer ihres Lebens verloren, lesen wir in<br />

„Das Abheben der Gleise“. Ihr Mann ging<br />

ohne Worte fort, ihr Geliebter ließ sie allein,<br />

GETTY/MIRZA EKINOVIC<br />

und auch der einzige Sohn ist lange in die<br />

Welt hinaus und lässt nichts von sich hören.<br />

Hajrija aber gibt nicht auf. Sie lebt allein in<br />

der Schlucht an den Gleisen, verdient ihr<br />

Geld als Köchin und schreibt und schreibt:<br />

Briefe an die Männer ihres Lebens,Briefe,die<br />

stets wieder zurückkommen, Adressat unbekannt.<br />

Als Bote benutzt sie dabei ihren einzigen<br />

Freund Reuf, der, Hajrija ahnt es wohl,<br />

schon immer heimlich in sie verliebt war.<br />

1953 geboren als Sohn muslimischer Elternimjugoslawischen<br />

Duvno und verheiratet<br />

mit einer serbisch-orthodoxen Journalistin<br />

erhielt Karahasan seine erste Bildung<br />

einst von einem Franziskaner-Mönch, der<br />

ihn Latein und Griechisch lehrte.Verwurzelt<br />

im multireligiösen und -ethnischen Sarajevo,<br />

wo Karahasan bis zu seiner Flucht lebte<br />

und und heute mit Zweitwohnsitz Graz wieder<br />

lebt, mischen sich antike und orientalische,islamische,katholische,orthodoxe<br />

Motiveund<br />

Mythen in seine Texte.Das schwere<br />

Leben und die Realität in Bosnien, Krieg, Armut<br />

und Migration werden dabei aber keinesfalls<br />

vergessen, sondern sublimiert und<br />

ins Allgemeingültige gehoben.<br />

Erst im Miteinander werden die Menschen<br />

menschlich und heiter.Zugleich fügen<br />

sie sich Gewalt und Leid zu und vereinsamen.<br />

Ein Paradoxon, das Karahasan schon<br />

lange beschäftigt. Doch auch, wenn Hajrija<br />

und Juso wie tragische Narren daherkommen<br />

und aus der Zeit gefallen scheinen.<br />

Wenn der Taubenzüchter Bego seine angebetete<br />

Šefika nicht erobernkann, weil er sich<br />

zunächst nicht traut, dann hanebüchen<br />

trickst und schließlich als erster Kriegstoter<br />

vonSarajevoindie Geschichte eingeht. Oder<br />

wenn Tahir den emigrierten Eltern ein<br />

Scheinbegräbnis in Bosnien ausrichtet, weil<br />

er die Überführung der Gebeine nicht bezahlen<br />

kann: Karahasans klassische Antihelden<br />

erleben in ihrem Zerrissensein Momente<br />

von Freiheit, die man als traumhaft<br />

schön bezeichnen kann.<br />

Fabelhaft funky<br />

DerNew Yorker Rapper und Musiker Mike D,<br />

der einst mit den Beastie Boys berühmt<br />

wurde und auch für seinen Humor bekannt<br />

ist, Mike Dalso wirdernst, wenn jemand anzweifelt,<br />

dass er James Last für einen großen<br />

Musiker hält. Er kann dann ausgiebig darüber<br />

referieren wie viele Last-Tracks er auf<br />

seinem Laptop hat und welche Last-Platten<br />

in seiner Sammlung stehen. Platten die er<br />

einst in NewYorkwegen der seltsamen Cover<br />

aus Grabbelkästen zog und die ihn beeindruckten,<br />

weil die Musik darauf oft„tight“ ist,<br />

also fabelhaft funky.Weshalb der HipHopper<br />

Auszüge daraus auch schon mal sampelte.<br />

Das mag Menschen verwirren, die den in<br />

Bremen geborenen Bandleader bis heute für<br />

seinen „Happy Sound“ belächeln. Aber bei<br />

seinen immensen kommerziellen Triumphen<br />

gerät gern inVergessenheit, dass der<br />

vor vier Jahren verstorbene Jazz-Fan Last<br />

eben auch ein fabelhafter Musiker war und<br />

mit entsprechend erstklassigen Leuten gearbeitet<br />

hat. Als Beleg dient diese opulente 25-<br />

CD-Box,die jetzt zu seinem 90. Geburtstag in<br />

limitierter Auflage erschienen ist. Die ist natürlich<br />

prallvoll mit Party-Keller-Schunkel-<br />

Klassikern, bietet aber auch viele der Platten<br />

wie „Voodoo Party“ oder „Beat In Sweet“, die<br />

vonDJs gesucht werden und nicht auf jedem<br />

Flohmarkt stehen.<br />

Mike Ddürfte sich<br />

die Box längst besorgt<br />

haben.<br />

Extrem elegant<br />

James Last:<br />

The Album<br />

Collection(Box-Set)<br />

Polydor/Universal<br />

Als sich Anfang vergangenen Jahres die<br />

Nachricht vomTod des isländischen Komponisten<br />

und Musikers Jóhann Jóhannsson<br />

verbreitete, war die Bestürzung groß. Der<br />

Wahl-<strong>Berliner</strong> war nur 48 geworden und auf<br />

dem Weg zueiner große Karriere. 1969 in<br />

Reykjavik geboren, hatte Jóhannsson in allerlei<br />

Indierock-Bands gelärmt, ehe er 1999<br />

ein Label gründete, bei dem Jazz-, Elektronik-<br />

und Klassik-Produktionen erschienen,<br />

und das ihm selbst letztlich half, einen<br />

Sound zu finden, in dem das alles elegant zusammenfloss.Den<br />

inflationär genutzten Begriff<br />

der „Neo Klassik“ lehnte er ab.Seine fragilen,<br />

instrumentalen, meist hoch emotionalen<br />

Kompositionen fanden dann bald in<br />

Hollywood Gehör. Mit dem Regiestar Denis<br />

Villeneuve verband ihn eine besonders innige<br />

Beziehung, die zu überragenden<br />

Soundtracks für Filme wie „Sicario“ und „Arrival“<br />

führte.Zweimal war Jóhannsson für einen<br />

Oscar nominiert. Er hatte, was nur den<br />

wenigsten gelingt: einen eigenen Sound gefunden,<br />

und er war enorm begehrt. Sein<br />

überraschender Todbeendete alle Träume.<br />

In Erinnerung an dieses große Talent wurde<br />

jetzt ein fabelhaftes 7-CD-Set in Buchform<br />

veröffentlicht. Geboten werden klanglich<br />

aufpolierte frühe Werke, lange Aufsätze und<br />

eine unveröffentlichte<br />

Filmmusik.<br />

Teil zwei folgt hoffentlich<br />

bald.<br />

Jóhann Jóhannsson:<br />

Retrospektive I(Box-Set)<br />

Deutsche Grammophon/Universal<br />

OL

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