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6 8./9./10. JUNI 2019<br />
Als vor einigen Wochen der Deutsche<br />
Filmpreis verliehen wurde,<br />
sah die Wand hinter dem roten<br />
Teppich anders aus als in den Jahren<br />
zuvor. Wo sonst nur die Logos der<br />
Sponsoren aufgedruckt waren, hingen<br />
diesmal Grünpflanzen, eine dicht neben<br />
der anderen. Schauspieler und Preisträger<br />
posierten vor dem grünen Teppich für die<br />
Fotografen. Offenbar hatten auch die Organisatoren<br />
der Preisverleihung gemerkt:<br />
Pflanzen sind in.<br />
Auch anderswo ist es unübersehbar: In<br />
vielen Restaurants und Cafés, inBüros und<br />
Coworking-Spaces stehen Topfpflanzen.<br />
Blumenläden eröffnen, die nur Zimmerpflanzen<br />
anbieten, keine Schnittblumen.<br />
Unter Hashtags wie #urbanjungle, #plantlover,<br />
#indoorplant oder #houseplant sieht<br />
man auf Instagram und Facebook, wie Gewächse<br />
den Wohnraum erobern. Inzwischen<br />
gibt es sogar „Plantfluencer“, die sich darauf<br />
spezialisiert haben, das Grünzeug gekonnt<br />
zum Teil der Einrichtung zu machen. Dieaktuelle<br />
Heimbegrünung hat nämlich nichts<br />
mehr mit der obligatorischen Yucca-Palme,<br />
dem Ficus oder dem Bogenhanf zu tun, die<br />
Zimmerecken und Treppenhäuser bewachten.<br />
Ihr spießiges Image haben die Pflanzen<br />
überwunden. Jetzt geht es darum, sie in<br />
Szene zu setzen.<br />
Und das ist schon Teil der Erklärung für<br />
die neue Lust an der Pflanze: Sie sehen einfach<br />
gut aus –und das qualifiziert sie für die<br />
sozialen Medien. Die exotischen Lebensformen,<br />
die sich als Zimmerpflanzen eignen,<br />
von Sukkulenten über Kakteen bis hin zur<br />
breitblättrigen Monstera, sind faszinierende<br />
Hingucker, und die teilt man gern mit der<br />
Welt. Die Zimmerpflanzen als It-Piece.„Damit<br />
ist es wie mit anderen Dingen“, sagt die<br />
Architektin Hanni Schermaul, „mein Haus,<br />
mein Auto – und nun eben auch meine<br />
Pflanze.“<br />
Schermauls Geschäft The Botanical<br />
Room wirkt vonaußen schlicht, nur die großen<br />
Kakteen im Schaufenster sind ungewöhnlich.<br />
Drinnen lenkt, abgesehen von<br />
den ausgefallenen Töpfen, nichts von den<br />
vielen Pflanzen ab, die die Regale an den<br />
Wänden besiedeln. „Pflanzen als Dekoration<br />
sind einfach der momentane Interieur-<br />
Trend“, erklärt Hanni Schermaul, und geht<br />
gleich ins Detail: „Ein eher minimalistischer,<br />
kühler Stil entsteht zum Beispiel durch<br />
Pflanzen in Kombination mit Metall, Glas<br />
und glatten Oberflächen. Verwendet man<br />
hingegen Pflanzen in Keramik und Terrakotta<br />
als Dekoration, geht es in Richtung<br />
Hygge,eswirdalso gemütlich.“<br />
Hanni Schermaul hat den Trend gewissermaßen<br />
erspürt, bevor er einer war. Sie<br />
mochte Pflanzen, vermisste aber stilbewusste<br />
Möglichkeiten, sie zu präsentieren.<br />
Sie gründete den Onlinehandel The Botanical<br />
Room, dortverkauft sie Zimmerpflanzen<br />
und Übertöpfe aus Keramik, die gemeinsam<br />
zum Design-Ensemble werden. DerLaden in<br />
der Kreuzberger Manteuffelstraße kam ein<br />
paar Jahre später dazu. Der neueste Trend<br />
seien Pflanzen mit stark gemusterten Blättern,<br />
sogenannte Blattschmuckpflanzen wie<br />
Calathea oder Maranta. DieMaranta hat fein<br />
gegliederte handtellergroße Blätter, man<br />
möchte sie soforthaben.<br />
Ihre Kundschaft bestehe aus den unterschiedlichsten<br />
Menschen, sagt Hanni Schermaul.„Vom<br />
75-jährigen Kakteensammler bis<br />
zur 20-jährigen Studentin, die die erste<br />
Pflanzefür ihreWohnung kauft.“<br />
Auch Giorgia Gamba vonTillairplant sagt:<br />
„Bei uns kaufen die unterschiedlichsten<br />
Menschen, vonganz kleinen Kindernbis hin<br />
zu alten Damen. Es passiert sogar, dass Obdachlose<br />
an unseren Stand kommen und etwas<br />
über die Pflanzen erfahren möchte oder<br />
sogar eine kaufen.“ Es muss also,abgesehen<br />
von ihrer Präsentierbarkeit in den sozialen<br />
Medien, noch etwas anderes geben, das Zim-<br />
„Natur ist uns ein Grundbedürfnis“, sagt die Landschaftsarchitektin Marie Henze, die das Café The Greens in Mitte gestaltet hat.<br />
Alles so schön grün hier<br />
Die Yucca-Palme in<br />
der Ecke war gestern<br />
–die neuen<br />
Zimmerpflanzen<br />
schmücken<br />
Wohnungen, Büros<br />
und Cafés als<br />
Designobjekte.<br />
Über den Trendzur<br />
Natur im Topf<br />
VonIrini Kolias<br />
Vonder Münzfabrik zur grünen Oase: Zwei Kakteen<br />
vor The Greens, das Café und Zimmerpflanzengeschäft<br />
in einem ist.<br />
THE GREENS<br />
merpflanzen die Herzen erobern lässt.<br />
„Pflanzen machen, wie alles Lebendige,eine<br />
gemütliche Atmosphäre, sind aber nicht so<br />
kompliziert wie Haustiere“, sagt Giorgia<br />
Gamba.<br />
DasNeuköllner Studio der Italienerinnen<br />
Giorgia Gamba und Francesca Pietrobon ist<br />
winzig, von hier koordinieren sie ihren Onlineshop<br />
Tillairplant, und hier arbeiten sie,<br />
THE GREENS<br />
Ohne Bodenhaftung: Giorgia Gamba (li.) und Francesca<br />
Pietrobon von Tillairplant haben sich auf Tillandsien<br />
–Luftpflanzen –spezialisiert. @CHEZ.AMELIE<br />
wenn sie nicht gerade bei einem der fünf<br />
Märkte sind, auf denen sie jede Woche einen<br />
Stand haben. Sie verkaufen ganz besondere<br />
Pflanzen: Tillandsien, oder auch Luftpflanzen.<br />
Es handelt sich um knollenartige Gewächse,<br />
die in Zentral- und Südamerika unter<br />
Baumkronen und an Strommasten zu finden<br />
sind, sie halten sich mit ihren Wurzeln<br />
daran fest. Ihre Blätter erinnern anTentakeln.<br />
Sie sehen wirklich sehr lebendig aus<br />
und fühlen sich auch fast so an –als würden<br />
sie jeden Moment wegkrabbeln oder sich bewegen,<br />
sobald man nicht hinguckt. Das Besondere<br />
andiesen Pflanzen ist, dass sie keinen<br />
Boden zumWachsen brauchen, sondern<br />
nur viel Licht und ein klein wenig Wasser.<br />
Dasmacht sie sehr pflegeleicht und, da man<br />
sie aufhängen kann, zu einem interessanten<br />
Designobjekt. Tillandsien sind quasi die modernen<br />
Kakteen. Die beiden Italienerinnen<br />
behandeln jede einzelne Pflanze mit Hingabe.<br />
„Es sind Lebewesen, das wird einem<br />
bewusst, wenn man jeden Tagmit ihnen zu<br />
tun hat“, sagt Francesca Pietrobon. Ein Mitbewohner,aber<br />
ein genügsamer.Die Pflanze<br />
lebt, aber ist nicht fordernd, wodurch sie<br />
mitunter auch mal vergessen wirdund einen<br />
Dursttod stirbt. DasstörtGiorgia Gamba und<br />
Francesca Pietrobon, sie findet, dass wir uns<br />
viel mehr bewusst machen sollten, dass<br />
Pflanzen Lebewesen sind, für die wir sorgen<br />
müssen.<br />
Dabei ist gerade das vielleicht das Attraktive<br />
amPflanzenbesitz: Man hat Verantwortung,<br />
aber nur,solangeman will. Geht es den<br />
Pflanzen schlecht, bekommt man es zwar<br />
optisch zu spüren, sonst aber nicht. Ein unverbindliches<br />
Zusammenleben, man kann<br />
die Beziehung jederzeit beenden. Katzen<br />
kann man nicht wegwerfen, wenn sie krank<br />
werden oder einem nicht mehr gefallen.<br />
Pflanzen schon, zumindest haben viele<br />
Menschen da weniger Skrupel.<br />
Einvielseitiges Hobbysind sie noch dazu.<br />
Man kann mit Gleichgesinnten Stecklinge<br />
und Designideen austauschen, gemeinsam<br />
Botanische Gärten und Messen besuchen<br />
oder ein Foto vonder sonntäglichen Dusche<br />
für die Pflanzen posten, unter dem Hashtag<br />
#showersunday.<br />
Die Landschaftsarchitektin Marie Henze<br />
weiß noch einen Grundfür denneuen Trend:<br />
„Das Grüne fehlt den Leuten in der Stadt“,<br />
sagt sie. „Natur ist uns ein Grundbedürfnis.<br />
Ich glaube, das haben wir eine Zeit lang vergessen<br />
und jetzt werden wir wieder daran erinnert.“<br />
Wernicht in der Natur sein könne,<br />
der hole sie sich ins Haus. Zimmerpflanzen,<br />
die es übrigens seit etwa 400 Jahren gibt,<br />
seien ganz klar ein Phänomen der Großstadt.<br />
Marie Henze ist für das Design von The<br />
Greens verantwortlich, einem Café in der Alten<br />
Münze inMitte, das zugleich ein Zimmerpflanzengeschäft<br />
ist. Überall, an den<br />
Wänden, an der Deckeund auf den Fensterbänken,<br />
hängen und stehen Pflanzen. Einige<br />
Arten hat man schon mal gesehen, andere<br />
wirken sehr exotisch.Die Wände sind mit alten<br />
<strong>Berliner</strong> Schranktüren ausgekleidet, die<br />
hölzernenTischevon einem Künstler gezimmert.<br />
„Pflanzen sind so beliebt, weil wir ein<br />
neues Bewusstsein für die Natur entwickeln“,<br />
erklärt MarieHenze beim Treffenauf<br />
einen Hafer-Cappuccino.Die Natur,von der<br />
wir uns soweit entfernt haben, die wir zerstören<br />
und die wir doch brauchen. All das<br />
scheint der Mensch gerade immer mehr zu<br />
begreifen.<br />
Pflanzen seien außerdem ein entschleunigendes<br />
Hobby, sagt die Landschaftsarchitektin.<br />
Es gebe immer mehr Studien, die belegen,<br />
dass sie gut tun, die Gesundheit fördern<br />
undsogar kreativ machen würden. Marie<br />
Henze hat mit Freunden eine kleine<br />
Firmagegründet, Bosqueheißt sie. Sieberaten<br />
rund umden Pflanzenkauf, lassen bei<br />
Bedarf einen Gärtner nach Hause kommen<br />
und vermieten große Zimmerpflanzen für<br />
Büros.Marie Henzeist sich sicher:Der Trend<br />
zum Grün in den eigenen vier Wänden hat<br />
gerade erstbegonnen.<br />
Irini Kolias<br />
hat seit der Recherche vier neue grüne<br />
Mitbewohner.<br />
GERADE EBEN<br />
Paulus Ponizak sieht die Stadt<br />
Paulus Ponizak ist Fotograf der<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.Mit seiner Street<br />
Photographywar er zuletzt zweimal auf<br />
der ArtBasel Miami. Als einziger Deutscher<br />
ist er Finalist beider Streetfoto<br />
San Franciso 2019. An dieserStelle<br />
präsentierterregelmäßig seinen<br />
ganz persönlichen Blick auf Berlin.<br />
Botanischer Garten, Lichterfelde