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Berliner Kurier 09.06.2019

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SEITE13<br />

BERLINER KURIER, Sonntag, 9. Juni 2019<br />

Familienausflug: Suzanne<br />

im Alter vonzirka zwei<br />

Jahren mit ihrer Mutter<br />

und ihrer Großmutter am<br />

Neptunbrunnen<br />

richstraße. Vor der Abfertigungshalle<br />

warteten die Menschenmassen,<br />

niemand interessierte<br />

sich für das Kind mit dem<br />

blauem Schulranzen, das allein<br />

im Gedränge stand. Ich bekam<br />

im Laufe der Jahre viele Ellenbogen<br />

an Kopf und Schulter.<br />

Im Tränenpalast passierte ich<br />

die quälend langsame Gepäckkontrolle.<br />

Jede Tasche wurde<br />

durchsucht. Gleich daneben<br />

gab es einen schmalen Gang,<br />

der immer leer war. Das war<br />

mein Gang.<br />

Als ich zum ersten Mal allein<br />

über die Grenze ging, stellte ich<br />

mich erst mal in die lange<br />

Schlange, es erschien mir nicht<br />

richtig, einfach daran vorbeizugehen.<br />

Da entdeckte mich der<br />

Grenzer und rief: „Du bist doch<br />

Diplomatin, du musst hier nicht<br />

stehen!“ Alle starrten mich an.<br />

Die verwunderten, teils aber<br />

auch missbilligenden Blicke<br />

brannten sich in meinen Rücken,<br />

ich spüre sie bis heute.<br />

Die Grenzer<br />

kannten mich.<br />

Ihre Namen<br />

hingegen erfuhr<br />

ich nie.<br />

Suzanne bei ihrer Einschulung<br />

in MariendorfimJahr 1985<br />

dung, in den Osten zu ziehen,<br />

vor allem meiner Mutter gefallen<br />

sein muss, auch das begriff<br />

ich erst viele Jahre später.<br />

Meine Eltern lernten sich in<br />

den 70ern in der DDR kennen.<br />

Mein Vater, der in Leipzig promoviert<br />

hatte, arbeitete in Kairo<br />

als Rechtsanwalt, als er für<br />

einen Vortrag in seine alte Studentenstadt<br />

eingeladen wurde.<br />

Er stieg in Ost-Berlin in den<br />

Zug, dort begegnete er meiner<br />

Mutter, einer hübschen Germanistikstudentin.<br />

Sie verliebten sich, doch war<br />

von Anfang an klar, dass sie keine<br />

Beziehung führen durften.<br />

Der Vater meiner Mutter war<br />

Offizier, als Ingenieur wartete<br />

er die Triebwerke der Regierungsstaffel<br />

Honeckers. Ägypten<br />

war in den 70ern eines der<br />

modernsten arabischen Länder<br />

und orientierte sich Richtung<br />

Westen. Meine Mutter und<br />

mein Vater hätten nicht einmal<br />

miteinander reden dürfen.<br />

Als die Stasi ihre Beziehung<br />

entdeckte, begann für meine<br />

Familie eine schwere Zeit.<br />

Mein Großvater verlor seine<br />

Position als Offizier, weil er<br />

sich weigerte, seine Tochter nie<br />

wiederzusehen. Meine Mutter<br />

wurde verhört, sie durfte ihre<br />

Diplomprüfung erst nicht ablegen,<br />

und als sie dagegen erfolgreich<br />

Widerspruch einlegte,<br />

ließ man sie durchfallen. Doch<br />

meine Mutter war eine hartnäckige<br />

Frau, Sie setzte durch,<br />

dass sie die Prüfung wiederholen<br />

konnte und bestand mit<br />

Auszeichnung.<br />

Sie bekam eine Stelle als Lehrerin<br />

an einer Schule in Schöneweide<br />

und wurde schwanger.<br />

Regelmäßig bestellte die Stasi<br />

sie in das Amt für Volksbildung<br />

im Plänterwald. Man setzte sie<br />

unter Druck, malte ihre Zukunft<br />

in düsteren Farben.<br />

Meine Mutter bekam große<br />

Angst, man würde sie verhaften<br />

oder mich ihr wegnehmen, sie<br />

litt unter Panikattacken, der<br />

Schuldirektor nannte sie nur<br />

noch „Frau Staatsfeindin“. Ihr<br />

wurde klar, dass sie in diesem<br />

Land keine Perspektive mehr<br />

hatte. Also beschlossen meine<br />

Eltern, nach Ägypten zu gehen.<br />

Für meine Mutter wurde das<br />

Leben dort nicht leichter. Die<br />

deutsche Schule in Kairo erkannte<br />

ihr DDR-Diplom nicht<br />

an. Sie saß mit einem Kleinkind<br />

in einem fremden Land, dessen<br />

Sprache sie nicht verstand, dessen<br />

Frauenbild nicht zu dem<br />

passte, was sie aus der DDR gewohnt<br />

war. Schließlich beantragte<br />

sie die westdeutsche<br />

Staatsbürgerschaft, und wir zogen<br />

nach West-Berlin.<br />

Meine Kindheit in Mariendorf<br />

war beschaulich. Der Umzug<br />

nach Ost-Berlin riss mich<br />

jähe aus meiner kleinen Welt.<br />

Wir zogen in das Hochhaus in<br />

der Rochstraße 9, das wegen<br />

seines Grundrisses Windmühle<br />

genannt wurde. Dort wohnten<br />

auch andere Diplomaten, die<br />

Museumsinsel, das Rote Rathaus<br />

und der Fernsehturm waren<br />

nicht weit.<br />

Ich stieg jeden Morgen am<br />

Bahnhof Marx-Engels-Platz in<br />

die S-Bahn und fuhr bis zum<br />

Grenzübergang in der Fried-<br />

So viele Menschen starben bei<br />

dem Versuch, aus der DDR zu<br />

fliehen. Es verfolgt mich, dass<br />

ich, ein kleines Kind, diese Privilegien<br />

hatte. Noch heute kann<br />

ich nicht gut an einer Schlange<br />

vorbeigehen, nicht am Flughafen,<br />

nicht nachts im Club.<br />

Obwohl ich mich schämte,<br />

hatte ich irgendwann genug<br />

Selbstvertrauen, meinen Kinderausweis<br />

hochzuhalten. Später<br />

machte es mir sogar ein wenig<br />

Spaß. Das war schon was,<br />

dort einfach durchzulaufen,<br />

wie eine ganz wichtige kleine<br />

Person. Die Grenzer kannten<br />

mich: Ein Kind, das den kaum<br />

besuchten Diplomateneingang<br />

zweimal am Tag passierte, fiel<br />

auf. Ihre Namen hingegen erfuhr<br />

ich nie.<br />

In „meiner“ Diplomatenschleuse,<br />

wie ich sie nannte,<br />

weil ich dort nie jemanden anders<br />

sah, saßen abwechselnd<br />

zwei Grenzer in einem Häuschen:<br />

Einer war hager mit stechenden<br />

Augen, der andere war<br />

dicklich. Ich nannte sie Lolek<br />

und Bolek, wie die polnischen<br />

Kinderbuchfiguren.<br />

Lolek –oder Bolek –saß erhöht<br />

hinter einer Scheibe und<br />

blickte auf mich herab. Prüfend<br />

sah er mir in die Augen, dann<br />

auf mein Passbild, wieder in<br />

meine Augen. Er durchblätterte<br />

meinen dreiseitigen Kinderpass<br />

jeden Tag aufs Neue.<br />

Je älter ich wurde, desto fre-<br />

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