Berliner Kurier 09.06.2019
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15<br />
Suzanne mit<br />
ihrem Großvater,<br />
einem einst<br />
hochrangigen<br />
DDR-Offizier,<br />
1984 in<br />
Frankfurt(Oder)<br />
Haus. Mein Vater hatte sie im<br />
Fahrstuhl getroffen und gefragt,<br />
ob sie nicht mal vorbeikommen<br />
wolle.<br />
Anja war ein ruhiges Mädchen,<br />
ein Jahr älter als ich, mit<br />
blonden langen Haaren. Sie sah<br />
aus wie Tatum O’Neal, eine<br />
Kinderschauspielerin, die ich<br />
toll fand. Ich schloss Anja<br />
gleich ins Herz. Wir konnten<br />
stundenlang auf meinem Hochbett<br />
liegen und Musik hören.<br />
Ich lud Anja oft zum Eisessen in<br />
den Palast der Republik ein. Für<br />
sie war das etwas Besonderes,<br />
als normaler DDR-Bürger stand<br />
man drei Stunden an, um einen<br />
Platz im Café zu erhalten. Mit<br />
mir konnte sie einfach an der<br />
langen Schlange vorbeigehen.<br />
Ich musste dem Portier nur sagen,<br />
ich sei Diplomatentochter<br />
und Anja mein Gast, und wir<br />
zwei Mädchen erhielten einen<br />
Tisch direkt am Fenster.<br />
Ich lud Anja immer ein, was<br />
mir nichts ausmachte – als<br />
Wessi hatte man genügend Ostgeld.<br />
Ich war überglücklich,<br />
endlich eine Freundin im Osten<br />
zu haben. Doch dann kam Anja<br />
immer seltener.<br />
Als ich sie zum letzten Mal<br />
traf, legte sie ein Geständnis ab:<br />
Als mein Vater sie im Fahrstuhl<br />
angesprochen hatte, machte ihre<br />
Mutter Meldung bei der<br />
Stasi. Die verlangte von ihr Informationen<br />
über unsere Familie.<br />
Ich erzählte Anja bereitwillig,<br />
was mein Vater so machte.<br />
Sie verpackte ihre Fragen als<br />
mädchenhafte Neugier. Und<br />
berichtete am Abend alles ihrer<br />
Mutter. Ich war geschockt und<br />
wollte sie nie wieder sehen. Ich<br />
habe mich noch lange gefragt,<br />
ob überhaupt je etwas echt an<br />
dieser Freundschaft war.<br />
Wenn ich allein in unserer<br />
Wohnung war, hatte ich immer<br />
ein beklemmendes Gefühl.<br />
Kurz bevor wir auszogen, klingelte<br />
ein Mann an unserer Tür,<br />
er sei von der staatlichen Telefongesellschaft,<br />
er müsse dringend<br />
die Funktionsfähigkeit<br />
des Telefons prüfen. Er öffnete<br />
das Gehäuse und nahm etwas<br />
Fotos: zvg(3), Nils Schwarz, akg-images/ddrbildarchiv.de<br />
heraus, das er schnell in seine<br />
Tasche steckte, und verschwand.<br />
Meine Mutter vermutet,<br />
dass wir abgehört wurden.<br />
Da wir oft im Westen waren,<br />
müssen wir ja für die Stasi<br />
interessant gewesen sein.<br />
Als unter meinem Kinderzimmerfenster<br />
die Montagsdemos<br />
begannen, war ich zehn Jahre<br />
alt. Die Stimmung am Grenzübergang<br />
war noch angespannter<br />
als sonst, die Menschen waren<br />
aggressiv, die Grenzer nervös,<br />
keiner wusste, was als<br />
Nächstes passieren würde.<br />
Den Mauerfall verfolgten wir<br />
am Fernseher. Ich konnte nicht<br />
glauben, was da geschah. Wie<br />
oft hatte ich mir genau das gewünscht!<br />
Erst als ich morgens<br />
am Grenzübergang stand, der<br />
voll war wie nie, begriff ich,<br />
dass alles real war.<br />
Meine Eltern und ich zogen<br />
nach der Wende ans obere Ende<br />
der Friedrichstraße, in den<br />
leer stehenden Gebäuden um<br />
uns herum machten Technoclubs<br />
auf. Als die dritte Großbaustelle<br />
neben unserem Haus<br />
entstand, gingen wir zurück<br />
nach Mariendorf. Da hatte ich<br />
meine Vorstadtjugend.<br />
Ich will nicht<br />
mehr weglaufen<br />
vor den Bildern<br />
aus dem<br />
Tränenpalast.<br />
Sobald ich mit der Schule fertig<br />
war, zog ich zurück nach<br />
Mitte, wo Berlin jetzt neu und<br />
aufregend war, voller Freiräume,<br />
in denen wir Partys feierten<br />
–und wo mich jede Straße an<br />
die Kindheit erinnerte, die ich<br />
hier verbracht hatte. Berlin war<br />
damals so viel ruhiger. Das vermisste<br />
ich oft. Ich zog wieder<br />
weg, als die Touristen kamen.<br />
Ich hatte das Gefühl, sie machten<br />
mir mein Mitte kaputt.<br />
Ich studierte Jura, wie mein<br />
Vater. Während meines Referendariats<br />
im Bezirksamt Mitte<br />
sollte ich die Rechtmäßigkeit<br />
des Abrisses eines Teils des<br />
Tränenpalasts prüfen. In dem<br />
Moment holte mich die Vergangenheit<br />
ein, mir wurde klar,<br />
dass ich nicht für immer weglaufen<br />
konnte vor den Bildern<br />
aus dem Tränenpalast.<br />
Ich stellte fest, wie sehr ich<br />
geprägt bin von meiner isolierten<br />
Kindheit in der DDR. Warum<br />
ich zum Beispiel oft nicht<br />
innehalten kann, mir alles zu<br />
eng wird, es mich an ferne Orte<br />
zieht, ich so eine Sehnsucht in<br />
mir trage.<br />
Jetzt, wo ich älter werde,<br />
kann ich meine Eltern besser<br />
verstehen. Nur wenn ich gefragt<br />
werde, woher ich komme,<br />
Ost oder West, tue ich mich<br />
noch immer schwer. Wer will<br />
auf eine kurze Frage hin schon<br />
seine Lebensgeschichte erzählen?<br />
Ich sage dann mal Ost, mal<br />
West, je nachdem, was gerade<br />
passt. Und für mich stimmt irgendwie<br />
beides.<br />
Suzanne Salem