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Berliner Kurier 07.07.2019

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REPORT 21<br />

Rentner<br />

und<br />

begeisterte<br />

Gartenfreunde:<br />

Winfried<br />

und<br />

Brigitte<br />

König.<br />

Manche finden den Ortwunderbar:<br />

Ein Graffiti an einer Hauswand.<br />

pro Tag. Die<br />

Zahl kommt<br />

von Volker<br />

Toparkus. Er<br />

hat sie mit<br />

Stolz erwähnt.<br />

Noch<br />

so ein Missverständnis.<br />

Ob noch jemand<br />

Platt<br />

spricht? Ich<br />

klingle bei<br />

Zühlsdorf, die<br />

sollen schon<br />

lange hier<br />

wohnen. Die<br />

Frau in der geblümten<br />

Kittelschütze, die mir<br />

aufmacht, winkt ab.<br />

„Wir sind 1945 aus Danzig gekommen.“<br />

Sie schickt mich zu<br />

Frau Stier. Die spricht noch<br />

Platt, sie unterrichtet diese Sprache<br />

an einer Schule in Parchim.<br />

Ehrenamtlich. Sie kommt aus<br />

der Gegend von Wismar.<br />

Frau Stier bringt mich zu Winfried<br />

König. Er rollt zwar das R,<br />

aber Platt kann er nicht. Er und<br />

seine Frau laden mich in ihren<br />

Garten ein, da gibt es eine Sitzgruppe<br />

aus Holz. Und Lübzer<br />

Bier, Lübz liegt in der Nachbarschaft.<br />

Winfried und Brigitte König<br />

sind Rentner, er erzählt, dass<br />

er früher als Kraftfahrer für die<br />

LPG „Befreites Land Rom“ gearbeitet,<br />

die Arbeiter von den Feldern<br />

in die Gaststätte gebracht<br />

hat. Jetzt weiß ich, für wen der<br />

große Saal dort bestimmt war.<br />

Fahren muss Winfried König<br />

noch immer. Zum Einkaufen<br />

nach Parchim, zur Ärztin nach<br />

Siggelkow, zum Friseur, zum Bäcker.<br />

„Wenn wir nicht mehr Auto<br />

fahren können, müssen wir in<br />

die Stadt ziehen“, sagt er und<br />

lacht. Seine Frau lacht auch. Vorstellen<br />

können sich das beide<br />

nicht. Und wie das Platt verschwand,<br />

können sie auch nicht<br />

sagen. Sie wissen nicht, ob der<br />

Lehrer ihren Eltern nahegelegt<br />

hat, mit den Kindern lieber<br />

Hochdeutsch zu sprechen wie<br />

bei uns in Westdeutschland. Das<br />

Platt war einfach weg irgendwann.<br />

Es ist jetzt abends um acht. Im<br />

„Römer“ bestelle ich das einzige<br />

Gericht, das als lokale Spezialität<br />

zu erkennen ist: Mecklenburger<br />

Rippenbraten gefüllt mit Backpflaumen<br />

und Äpfeln. Ein mächtiges<br />

Gericht. Kalorien für<br />

schwer arbeitende Bauern. Man<br />

isst es eigentlich im Winter,<br />

dann, wenn auf den Höfen geschlachtet<br />

wurde, lese ich später<br />

auf der Webseite meck-pommhits.de.<br />

Ich sitze draußen, direkt an der<br />

Bundesstraße, auf der jetzt mehr<br />

Verkehr ist. Pendler wahrscheinlich.<br />

Die Abendsonne<br />

sorgt für eine friedliche Stimmung.<br />

Auf der Wiese hinter der<br />

Gaststätte quaken Frösche. Ich<br />

traue mich später sogar, bei gekipptem<br />

Fenster zu schlafen. Im<br />

Neuköllner Norden unmöglich.<br />

Und auch hier ein Fehler.<br />

Morgens um fünf werde ich<br />

wach. Klar, es ist Montag. Die<br />

nächste Pendlerwelle. Im Gastraum<br />

machen sie mir um acht eine<br />

Kanne Tee in einer Thermoskanne.<br />

Auf den Fensterbänken<br />

stehen Orchideen, auf dem Boden<br />

liegen Dielen aus Laminat.<br />

Es riecht nach Mittagessen.<br />

Draußen vor der Tür lädt Fred<br />

Rzehorz schwarze Styroporbehälter<br />

in den Transporter: Essen<br />

auf Rädern für Rentner, heute<br />

Hähnchenkeule mit Rotkraut<br />

und Salzkartoffeln. Die Namen<br />

stehen auf den Behältern. Beliefert<br />

werden auch zwei Kindergärten<br />

und drei Schulen, außerdem<br />

die Schichtarbeiter der<br />

Brauerei in Lübz.<br />

Fred Rzehorz hat für die<br />

Brauerei 25 Jahre lang gearbeitet,<br />

zuletzt im Veranstaltungsservice.<br />

Seine Abfindung hat er<br />

dann 2010 in die Gaststätte investiert.<br />

Er ist jetzt der Chef hier,<br />

ein großer Mann, 55 Jahre alt,<br />

die Sonnenbrille hat er ins dunkle<br />

Haar geschoben. Er führt mich<br />

in den Saal, in dem einst die LPG-<br />

Mitarbeiter verpflegt wurden.<br />

Jetzt veranstaltet er hier an zwei<br />

Sonntagen im Monat Tanztee,<br />

Hochzeiten finden hier statt,<br />

zweimal im Jahr gibt es Line<br />

Dance. Mit dem Restaurant allein<br />

wäre es nicht zu machen.<br />

„20 Essen verkaufe ich an einem<br />

Sonntag.“ Dass die Leute aus<br />

dem Dorf zum Frühschoppen<br />

kamen, zu einem Feierabendbier,<br />

hat er als Wirt gar nicht<br />

mehr erlebt. In den drei Zimmern<br />

übernachten manchmal<br />

Radtouristen, auch wenn es in<br />

Rom keinen Radweg gibt,<br />

manchmal Handwerker.<br />

Im Eingang zur Gaststätte<br />

steht auf einer Tafel geschrieben,<br />

dass der „Römer“ eine Servicekraft<br />

sucht. Ob so jemand<br />

leicht zu finden ist? Fred Rzehorz<br />

schüttelt den Kopf. „Hartz<br />

IVmüsste man abschaffen“, sagt<br />

er. „Eine Grundrente von 300<br />

Euro einführen. Dann hätte ich<br />

welche.“ Am Nachbartisch warten<br />

vier junge Leute auf ihn.<br />

Gymnasiasten aus Parchim, es<br />

geht um den Abiball. „Es geht<br />

immer weiter“, sagt Fred Rzehorz.<br />

Als ich zurückradele zum<br />

Bahnhof, weiß ich, warum die<br />

Korn- und Mohnblumen nur am<br />

Rand der Felder wachsen. Dort<br />

kommt das Glyphosat nicht hin.<br />

Hatte ich nie drüber nachgedacht.<br />

Susanne Lenz (Text und Fotos)

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