STAHL + TECHNIK 04/2019
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88 | PANORAMA<br />
Eisen praktisch vollständig abhängig war,<br />
leistete die AIAG einen entscheidenden<br />
Beitrag zur Sicherung der Rohstoffversorgung<br />
des Landes. Die unentbehrlichen Stoffe<br />
wurden nämlich „hauptsächlich aus den Guthaben<br />
für Aluminium bezahlt“. [25]<br />
„Rückbau“ nach dem Krieg<br />
Nach Kriegsende wurden zahlreiche kriegsbedingte<br />
Entwicklungen rückgängig gemacht.<br />
Die Stahlgießerei in Singen hatte<br />
Georg Fischer noch während des Kriegs<br />
geschlossen. Der Stahlgussabsatz von GF<br />
beschränkte sich wieder weitgehend auf<br />
das Inland, und das Umsatzschwergewicht<br />
verlagerte sich zurück zum „Friedensartikel“<br />
Fittings. Eine ähnliche Rückverschiebung erfolgte<br />
bei der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft<br />
SIG. Definitiv durchgesetzt hatte<br />
sich hingegen der Elektrostahlguss: Die von<br />
GF übernommenen Elektrostahlgießereien<br />
in Schaffhausen und Giubiasco wurden nach<br />
dem Krieg – 1919 und 1924 – zwar stillgelegt,<br />
doch deren Öfen verwendete man<br />
fortan in den anderen Schaffhauser Werken,<br />
wo sie Siemens-Martin-Öfen und Bessemer-<br />
bzw. Thomas-Konverter ersetzten.<br />
Das Elektrostahlgussverfahren war vor<br />
dem Krieg oft belächelt und bisweilen auch<br />
verunglimpft worden. „Jede kleine Schwierigkeit<br />
wurde aufgebauscht und weiter verbreitet,<br />
und neben dummem Geschwätz<br />
gab es leider auch Urteile kompetent zu<br />
nennender Fachleute, die dem Elektro ofen,<br />
soweit er der Herstellung von Stahlformguss<br />
diente, jede Existenzfähigkeit absprachen“,<br />
heißt es in einer Publikation der Firma<br />
Oehler, die zu den Pionieren des Elektrostahlgusses<br />
gehörte. „Die Folge solcher<br />
Urteile war die Kreditkündigung vonseiten<br />
einer heute nicht mehr bestehenden Bank,<br />
mit welcher man vorwiegend verkehrte.“<br />
[26] Der basische Elektrostahl konnte auch<br />
qualitätsmäßig mithalten, wies der doch<br />
gegenüber dem sauren Stahl aus dem<br />
Martin- und Konverterofen den Vorteil auf,<br />
dass sein Phosphor- und Schwefelgehalt<br />
geringer war, was zu weniger Rissen in den<br />
Gussstücken führte. [27]<br />
Enttäuscht wurden Erwartungen, dass<br />
man in der Nachkriegszeit (weiterhin) vom<br />
neutralen Status der Schweiz profitieren<br />
könne. 1921 stellte der GF-Techniker Fritz<br />
Stämpfli in einem Bericht fest, dass „auch<br />
die Entente-Staaten heute schon wieder als<br />
Käufer in Deutschland auftreten und also<br />
aus der Schweizerischen Drehscheibe,<br />
die wir uns zwischen den siegenden und<br />
besiegten Mächten gedacht haben, nichts<br />
geworden ist“. [28]<br />
• Adrian Knoepfli, Wirtschaftshistoriker,<br />
Zürich<br />
LITERATUR<br />
[1] Konzernarchiv der Georg Fischer AG, Schaffhausen,<br />
GFA 1, 11/1. WK 3, Brief Homberger<br />
an die Verwaltungsratsmitglieder, 14.10.1914.<br />
Zur Entwicklung bei Georg Fischer im Detail<br />
siehe Knoepfli, Adrian: „... das äusserste herausgeholt“:<br />
Die Eisen- und Stahlwerke Georg<br />
Fischer im Ersten Weltkrieg. In: Rossfeld, Roman;<br />
Straumann, Tobias (Hrg.): Der vergessene<br />
Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im<br />
Ersten Weltkrieg. Zürich 2008, S. 171/199.<br />
[2] Historische Statistik der Schweiz, HSSO, 2012. Tab.<br />
L.11a. hsso.ch/2012/l/11a.<br />
[3] Geering, Traugott: Handel und Industrie der Schweiz<br />
unter dem Einfluss des Weltkriegs, Bd. 3, Basel<br />
1928, S. 574.<br />
[4] Konzernarchiv der Georg Fischer AG, Schaffhausen,<br />
GFA 2, Protokoll Aufsichtsrat Nr. 68, 21.6.1905.<br />
[5] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1914, S. 102. Geering, S. 134/142.<br />
[6] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1915, S. 101.<br />
[7] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1916, S. 105.<br />
[8] Kienzle, André: „Es gibt nur ein Gerlafingen!“<br />
Herrschaft, Kultur und soziale Integration in einer<br />
Standortgemeinde des Stahlkonzerns Von<br />
Roll, 1918-1939, Zürich 1997, S. 32/33. Geering,<br />
S. 137.<br />
[9] Rossfeld, Roman: „Rechte hat nur, wer Kraft hat.“<br />
Anmerkungen zur Schweizer Wirtschaft im Ersten<br />
Weltkrieg. In: Rossfeld, Roman; Buomberger,<br />
Thomas; Kury, Patrick (Hrg.): 14/18. Die Schweiz<br />
und der Grosse Krieg, Baden 2014, S. 152/161.<br />
[10] Lienhard-Rüsch, Gottlieb: 75 Jahre Eisen- und<br />
Stahlwerke Oehler & Co Aktiengesellschaft Aarau,<br />
1881-1956, Aarau 1956, S. 18.<br />
[11] Geering, S. 717.<br />
[12] Lussy, Hanspeter: Die von Moos'schen Eisenwerke<br />
in Luzern – ein möglicher Modellfall für<br />
die Historiographie der Eisen- und Stahlindustrie<br />
in der Schweiz. In: Ferrum 74/2002, S. 74/78. Von<br />
Moos: Bewahrung und Veränderung am Beispiel<br />
der Industriegeschichte. Hrg. zur Erinnerung an<br />
die Aufnahme der industriellen Stahlverarbeitung<br />
durch von Moos in Luzern vor 150 Jahren, Bern<br />
1992, S. 189.<br />
[13] Konzernarchiv der Georg Fischer AG Schaffhausen,<br />
GFA 1, 2/V 1/W 1, Lieferungen in den Jahren<br />
1914–1918 nach Deutschland, 1.2.26 Si; GFA 1, 2/V<br />
1 A-Z, Aufstellung derjenigen Firmen, an welche<br />
wir Abgüsse aus Stahlguss und Weichguss liefern,<br />
12.2.1917; GFA 1/738, Sieber, E.: Zum Jubiläum<br />
1802–1952, Erinnerungsschrift, Schaffhausen 1950,<br />
S. 11 f.<br />
[14] Jahresberichte Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1914, S. 23, und 1917, S. 15.<br />
[15] Koller, Christian: Kriegs- oder Friedensgewinnler?<br />
Die Schweizerische Industrie-Gesellschaft Neuhausen<br />
in den Jahren 1910–1925. In: Rossfeld/<br />
Straumann, S. 225/257.<br />
[16] Konzernarchiv der Georg Fischer AG, Schaffhausen,<br />
GFA 1/1580, Waeffler, Heinrich: Der Kleinstahlguss<br />
+GF+ 1900–1950, S. 93.<br />
[17] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1914, S. 80.<br />
[18] Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, IB VSM-Archiv,<br />
1.2.2.1.3395 Protokoll Vorstand Verein schweiz.<br />
Maschinen-Industrieller, 4.7.1916, S. 4/5.<br />
[19] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1916, S. 87.<br />
[20] Geering, S. 20.<br />
[21] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1918, Tabelle im Anhang.<br />
[22] Jahresbericht Verein schweiz. Maschinen-Industrieller<br />
(VSM) 1919.<br />
[23] Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Basel, Privatarchive,<br />
CH SWA PA 600 b D 2-1 I, Protokoll Aufsichtsrat<br />
6.2.1915.<br />
[24] Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Basel, Privatarchive,<br />
CH SWA PA 600 b D 2-1 II, Protokoll Aufsichtsrat<br />
22.12.1922.<br />
[25] AIAG 1888–1938, Bd. 1, Chippis 1942, S. 154. Zum<br />
Kohlenimport Geering, S. 89-108. Zur Kohle- und<br />
Eisenversorgung während und nach dem Krieg:<br />
Die Gesellschaft der L. von Roll’schen Eisenwerke<br />
und die Entwicklung der jurassischen Eisenindustrie.<br />
Geschichtliches und Statistisches, 1823–1923,<br />
Gerlafingen 1923, S. 161/188. Zum globalen Wirtschaftskrieg<br />
Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz<br />
im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 135/141.<br />
[26] Lienhard-Rüsch, S. 18.<br />
[27] Konzernarchiv der Georg Fischer AG, Schaffhausen,<br />
GFA 1/738, Schneckenburger, Alfred: Erinnerungen<br />
eines alten Betriebsleiters, 1892–1936,<br />
Oberstammheim 1944, S. 18.<br />
[28] Konzernarchiv der Georg Fischer AG, Schaffhausen,<br />
GFA 2, Protokoll Aufsichtsrat Nr. 140, 6.4.1921, Beilage<br />
Fritz Stämpfli, Technische Erwägungen über ein Projekt.<br />
<strong>STAHL</strong> + <strong>TECHNIK</strong> 1 (<strong>2019</strong>) Nr. 4