Berliner Zeitung 13.09.2019

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Berliner Zeitung · N ummer 213 · F reitag, 13. September 2019 – S eite 20 * ························································································································································································································································································· Sport MaximilianFranzreb, Nummer 30, 23 Jahre, Torwart „Speziell an ihm ist, dass man manchmal denkt, dass das ganze Tor weit offen ist, und in der nächsten Sekunde hat er den Puck mit dem Handschuh weggefischt. Er ist ein Wettkämpfer. Im Sommer hat er sechs,sieben Kilo abgenommen, um besser zu sein. Das steht ihm gut. Franzi ist sonst ein ruhiger Typ, mit dem man entspannt ein Bier trinken kann.“ Sebastian Dahm, Nummer 32, 32 Jahre, Torwart „Er ist ein typischer Skandinavier: sehr nett, kommunikativ und einfach jemand, den man um sich haben möchte. Anders als wir Nordamerikaner hat er sich nicht nur im Team, sondern auch in der Stadt sehr schnell eingelebt.“ Marvin Cüpper, Nummer 39, 25 Jahre, Torwart „Erwill der Beste sein. Pariert er einen Schuss von dir, lässt er dich das wissen und schreit dir hinterher. Er zelebriert diese Momente, imSpiel, im Training. Trifft man zu oft gegen ihn, kann er richtig sauer werden und redet eine Weile nicht mit dir. Doch am Ende albern wir wieder miteinander herum.“ KaiWissmann, Nummer 6, 22 Jahre, Verteidiger „Erist verdammt groß und sein Stock wahnsinnig lang. Zuweilen denkt man, das Tor fast erreicht zu haben, doch dann nimmt er dir irgendwie den Puck ab. Erhat einen harten Schuss. Erdenkt wie ein erfahrener Profi. Er ist intelligent, interessiert sich für Dinge, die über reines Eishockey hinausgehen.“ FrankHördler, Nummer 7, 34 Jahre, Verteidiger „Erist der Godfather, kümmert sich um alle. Frank geht immer mit gutem Beispiel voran, hat nie schlechte Laune. Wenn er zum Training kommt, ist die Stimmung bei allen besser. Man kann nichts machen, damit er sauer auf dich ist –anders als auf dem Eis.“ Eric Mik, Nummer 12, 19 Jahre, Verteidiger „Ericist ein guter Eishockey-Spieler. Erhat Talent, versteht das Spiel und hat immer den Kopf oben. Aber er ist erst 18 Jahre alt. Wir waren alle einmal jung und haben Fehler gemacht. Es dauert etwas, bis man lernt, dass es ein Beruf ist, bei dem nicht viel Zeit für andere Dinge bleibt. Für einen 18-Jährigen ist das ein harter Umbruch, der nicht immer Spaß macht.“ JonasMüller, Nummer 18, 23 Jahre, Verteidiger „Er ist ein wirklich guter Skater. Beiihm sieht Hockey nicht nach Anstrengung aus. Er achtet sehr auf seine Mitspieler und hat eine gute Spielwahrnehmung. Dazu einen harten Schuss. Mit Sicherheit hat er das Potenzial, einer der besten Spieler der Liga zu werden. Privat ist er bei allem dabei.Wenn du essen oder etwas trinken gehen willst, sagt er ja. Er ist einfach ein Mannschaftstyp.“ John Ramage, Nummer 55, 28 Jahre, Verteidiger „John und ich waren schon zusammen im Hockey-Camp, und ich habe ihn sofort gemocht. Er ist er ein guter Typund Anführer. So wie er auf dem Eisist, ist er privat. Bei ihm bekommt man das, was man sieht. Keiner arbeitet härter an sich als er. Das würde er allerdings niemandem auf die Nase binden. Inzwischen findet er sich gut in der Stadt zurecht. Er hat sogar ein Fahrrad und wirdzum richtigen Berliner.“ Ryan McKiernan, Nummer 58, 30 Jahre, Verteidiger „Im Training schenkt er dir keinen Meter. Daskann mitunter etwas viel werden. Es ist manchmal lustig zu beobachten, wie hart Mac seine Gegenspieler rannimmt. Auch privat verliert ernicht gern. Wenn die Jungs ab und zu im Bus Karten spielen, geht es da ganz schön zur Sache. Dawird esauch mal lauter.“ Florian Kettemer, Nummer 69, 33 Jahre, Verteidiger „Er fliegt förmlich über das Eis. Er kann scheinbar überall aushelfen. Ich habe damals ungern gegen ihn gespielt, weil er dich nie in Ruhe lässt. Trotz seiner 33 Jahresieht er aus wie Anfang 20. Aber ich glaube, Die Eisbären Berlin starten in die DEL Saison. „Godfather kümmert s ich um Ein Team, 27 Spieler.Wer ist der Gute-Laune-Bär? Das Training im Wellblechpalast ist schon seit fast 45 Minuten vorbei. Für ein paar Fotos und einen kurzenPlausch mit Fans war Constantin Braun noch einmal kurz aus der Kabine gekommen. Die harte Arbeit ist dem Verteidiger der Eisbären Berlin an seinen durchgeschwitzten Trainingsklamotten anzusehen. Für das geplante Gespräch wollen Braun und sein Teamkollege James Sheppardlogischerweise erst einmal unter die Dusche.Dortwar Offensivmann Sheppardoffenbar schneller und kommt als Erster,Constantin Braun er kümmertsich auch besonders um Körper und Geist. Er ernährtsich gesund und beschäftigt sich mit der mentalen Seite des Spiels.“ Constantin Braun, Nummer 90, 31 Jahre, Verteidiger „Brauni ist ein interessanter Mensch. Nicht nur wegen seiner Tätowierungen. Wenn es darum geht, sich in das Spiel hineinzudenken, ist er einer der Besten. Er ist ein sehr intelligenter Verteidiger. Das sieht man jedes Mal imPowerplay, aber auch in anderen Situationen. Dass er schon eine Menge in seinem Leben durchgemacht hat und immer noch da ist, ist nicht zu unterschätzen. Vielleicht ist er dadurch sogar noch stärker geworden. Er gehörtzuden Älteren, die die Jüngeren unter ihre Fittiche nehmen. Vorallem durch sein Auftreten.“ Charlie Jahnke, Nummer 15, 21 Jahre, Angreifer „Er ist ein sehr fleißiger und junger Spieler. Charlie ist absoluter 90er-Jahre- Musikfan. Bei dem läuft Scooter rauf und runter. Wenn unser DJ Sean Backman nicht dabei ist, so wie beim letzten Test in Pardubice, dann darf Charlie auflegen. DieJungs haben gefeiert.“ Werbestimmt die Musik? Und wer fährt neuerdings Rad? Zwei der Eishockeyprofis wissen die Antwort VonCarolin Paul und Christian Kattner VincentHessler, Nummer 16, 21 Jahre, Angreifer „Er hat sich leider zu Beginn der Vorbereitung verletzt. Vincent ist ein bulliger Stürmertyp, der seinen Körper einzusetzen weiß. Er wird, wenn er gesund ist, seinen Weg in die erste Mannschaft machen.“ schickt hingegen erst einmal die Tochter vor. DieVorstellung eines Teils der Eisbären-Mannschaft übernimmt er dann auf einer Bank im Vorraum des Wellblechpalastes selber. Und damit sich auch James Sheppard ordentlich konzentrieren kann und nicht abgelenkt wird, nimmt er im Wellis, der anliegenden Sportsbar, einen Platz ein. Es gibt diesmal viele neue Spieler, aber auch ein paar alte Hasen vorzustellen. Offensivmann Sheppardstellt seine Torhüter und die Verteidiger vor, Abwehrspieler Braun plaudert über die Spieler in den Angriffsreihen. AustinOrtega, Nummer 21, 25 Jahre, Angreifer „Austin ist für mich unser technisch versiertester Spieler. Was der mit der Scheibe macht und wie er teilweise Jungs stehen lässt, trotz seiner kleinen Körpergröße, ist überragend. In der Kabine ist er relativ ruhig, aber es kommt immer darauf an, welches Thema man gerade hat. Er macht auch mal einen lustigen Spruch.“ Pierre-Cédric Labrie, Nummer 23, 32 Jahre, Angreifer „PC ist für mich die beste Verpflichtung dieses Jahres. Der kommt jeden Tag mit einem Lachen in die Kabine. Erhat so viel Bock auf Berlin, auf die Eisbären und darauf, mit uns zu spielen. PC ist ein absoluter Gute-Laune-Bär, großer Typ, tiefe Stimme,immer positiv.“ André Rankel, Nummer 24, 34 Jahre, Angreifer „Mit Ranks spiele ich jetzt seit 14 Jahren zusammen. Wenn du dem die Scheibe vorne im Slot gibst, ist sie einfach drin. Mit der Körpergröße und mit dem Gewicht ist er eine absolute Waffe.“ alle“ ARCHIV, CITY-PRESS (27) Florian Busch, Nummer 26, 34 Jahre, Angreifer „Buschi ist in der Mannschaft mein bester Compadre, wir teilen uns auch seit diesem Jahr bei Auswärtsfahrten ein Zimmer. Er weigert sich, Hochdeutsch zu sprechen. Ich verstehe zum Glück Bayrisch. Wenn er Spaß auf dem Eishat, ist er einer der besten deutschen Spieler in der Liga. Er hat Übersicht, kann schießen, ist brandgefährlich.“ MaximLapierre, Nummer 40, 34 Jahre, Angreifer „Der Typist ein Phänomen. Wo der die Energie hernimmt, nach 35 Sekunden im gegnerischen Drittel hin und her zu rennen und dann noch zurückzulaufen, das ist Wahnsinn. Dergeht dem Gegner immer auf den Sack, weil er immer mittendrin, nur am Reden ist, und kann dazu auch noch Eishockey spielen. Er hat nicht umsonst so viele Spiele in der NHL gemacht.“ Louis-MarcAubry, Nummer 41, 27 Jahre, Angreifer „Er hatte zuletzt leider wieder Knieprobleme, aber er kam in einer Top-Verfassung aus dem Sommer.ImTraining schießt er alles kaputt, jetzt muss bloß noch der Groschen fallen, dass es im Spiel auch wieder funktioniert. Auf dem Eis hat er eine relativ kurze Zündschnur, was aber nicht unbedingt negativ ist. Außerhalb des Feldes ist er sehr entspannt.“ LukasReichel, Nummer 44, 17 Jahre, Angreifer „Luke ist in dem Alter so weit, da hätte ich in seinem Alter nur von geträumt. Er hat Übersicht, gute Hände,erspielt auf einem ganz anderen Niveau in dem Alter als der Rest der Liga. Wenn der weiter an sich arbeitet und noch ein paar Kilo drauflegt, kann das ein ganz ganz Großer werden. Er ist noch ein etwas ruhigerer Typ, aber mehr muss er ja auch noch nicht machen, außer mit seinem Gitter vor dem Gesicht rumzulaufen. Natürlich hat er ein paar klassische Rookie-Aufgaben bekommen, muss die Scheiben sammeln.“ SeanBackman, Nummer61, 33 Jahre,Angreifer „Durch seine Geschwindigkeit und die Art, wie er spielt, ist er ein ganz giftiger Gegenspieler.Erhat einen Torriecher wie fast kein anderer. Undinder Kabine ist er unser DJ.“ Sebastian Streu, Nummer81, 19 Jahre,Angreifer „Ein sehr fleißiger Spieler, aber man merkt, dass es sein erstes Profijahr ist. Er ist noch ein bisschen nervös, muss noch ein bisschen lernen. Aber er ist hochtalentiert, ein Spieler,der alles mitbringt.“ FabianDietz, Nummer 87, 20 Jahre, Angreifer „Dietzi ist körperlich weiter als Sebastian Streu und hat im vergangenen Jahr in der 2. Liga gezeigt, dass er es kann.“ James Sheppard, Nummer 88, 31 Jahre, Angreifer „Man denkt immer,dass er alles so larifariund locker macht, aber der ist so clever und hochintelligent, dass er das genau so spielen kann.Wenn man mal beobachtet, wie viel der mit seinem Schläger macht und wie er aus gewissen Situationen rauskommt, ist das beeindruckend. Er ist sich aber auch nicht zu schade, 38 Cross-Checks zu kassieren und am Ende schießt er das Tor.“ MarkOlver, Nummer 91, 31 Jahre, Angreifer „Mark gibt immer Vollgas. Es ist ihm egal, ob sein Körper dabei draufgeht. Er ist so ein kleiner giftiger Spieler.Wenn es brennt, ist er mittendrin.“ Marcel Noebels, Nummer 92, 27 Jahre, Angreifer „Noebi ist in Berlin angekommen. Im vorigen Jahr war es vielleicht, weil er nicht für die NHL genommen wurde. Ich kenne keinen, der die Scheibe in engen Räumen so gut abdecken kann.“ LeonhardPföderl, Nummer 93, 26 Jahre, Angreifer „Der Leo muss natürlich erst einmal hier ankommen. Wenn man aus so einem kleinen Ort wie Nürnberg nach Berlin kommt. (lacht) Nürnberghat ja die letzten Jahre komplett passiv gespielt, da gab es kein Anrennen. Leo fuchst sich hier jetzt gerade rein und ist für uns Deutsche und auch in der Kabine eine absolute Bereicherung. Er sitzt neben Buschi, da können sie Bayrisch reden und es versteht niemand.“
Berliner Zeitung · N ummer 213 · F reitag, 13. September 2019 – S eite 21 ························································································································································································································································································· Feuilleton PetraKohse über die Wirkung des Protest- Videos „Susamam“ Seite 23 „Mit Klimamärschen beruhigen wir unser schlechtes Gewissen.“ Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer über sein neues Buch „Wir sind das Klima!“ Seite 22 EU und Kultur Jugend und Innovation Harry Nutt sieht in Ursula vonder Leyen eine Luhmann-Schülerin. Als der Soziologe Niklas Luhmann 1997 in Berlin über das Verhältnis von Kultur und Unternehmen sprach, schickte er ohne Umschweife voraus, dass er Probleme mit der Kultur habe. Sie sei „kein eigenes System und komme zu oft vor“. In seiner groß angelegten Systemtheorie befasst er sich zwar ausführlich mit der Kunst der Gesellschaft, eine Auseinandersetzung mit der Kultur aber war in Luhmanns früh ausgebreitetem Werkplan nicht vorgesehen. Für ihn blieb Kultur ein fragwürdiger Begriff, der aus dem Wort Agricultura, dem Ackerbau, hervorgegangen war. Es war bislang nicht bekannt, dass die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen eine Anhängerin der Luhmann’schen Systemtheorie ist, aber bei der neuen Zusammensetzung der Kommission hat sie sich zumindest in dieser Hinsicht als beflissene Schülerin des Bielefelder Soziologen erwiesen. Das Ressort Bildung und Kultur ist erstmals seit 1999 nicht eigens vergeben worden, an dessen Stelle rangiert nun die Abteilung Innovation und Jugend. DieEmpörung unter Kulturschaffenden ist groß. Nach dem Kulturrat haben nun auch der Deutsche Musikrat und der Deutsche Bühnenverein gegen die provozierende Vernachlässigung und Marginalisierung der Kultur protestiert. Man könnte nun ketzerisch fragen, was denn die bisherigen Kulturkommissare anErfolgen vorzuweisen haben, wo doch schon die Bezeichnung Kommissar wenig kulturnah klingt. Interessanter aber dürfte dasWirkungsfeld des neu entstandenen Ressorts sein, das mit Jugend und Innovation verheißungsvoll überschrieben ist, zugleich aber den bösen Verdacht schürt, dass die beiden Attribute in allen anderen Bereichen womöglich fehlen. Sollte nicht auch Wirtschaft, Wettbewerb, Handel und Soziales von Jugend und Innovation bestimmt sein? Bisauf weiteres gilt: Wer Kultur will, wird sie sich überall erobernmüssen. An der Schnittstelle zwischen Skulptur,Fotografie und Architektur:Blick in Pousttchis Ausstellung „InRecent Years“ im Landesmuseum Berlinische Galerie. Es ist fünf vor zwei Zur Art Week in der Berlinischen Galerie: Bettina Pousttchi schärft unser Raum-Zeit-Gefühl VonIngeborg Ruthe Alle Zeiger stehen auf fünf vor zwei, sämtliche der 24 altmodischen mit römischen Ziffernblättern und modernen Uhren, die Bettina Pousttchi in den Metropolen der Welt fotografierte und nun in Schwarz-Weiß-Großaufnahmen an eine Wand der Berlinischen Galerie „transformierte“. Gleich denkt man an die legendäre Hillvalley-Turmuhr aus Zemeckis Kultfilm „Zurück in die Zukunft“. Da ging es ums Anhalten und Zurückdrehen der Zeit. DieSerie „World Time Clock“, das sind Bahnhofsuhren, Rathausuhren, Turmuhren –Zeitanzeiger im Stadtraum, von Frankfurt und Berlin, von Rio bis Alaska, vomMoskauer Kreml bis nach Taschkent und Hongkong. Unübersehbar geht es der 1971 in Mainz geborenen, an der Kunstakademie Düsseldorf ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Bildhauerin und Fotografin um Zeit und damit um kulturelle Sinnbilder im öffentlichen Raum. Daslässt sie schon mit ihrer realistisch Illusionen erzeugenden Fassadenarbeit an der Berlinischen Galerie wissen. Dergläserne Eingangsbereich besteht aus netzartigen, hybriden Architekturmustern. Digital bearbeitete Fotos von Fachwerkhäusern liegen dem zugrunde. „Sehr deutsch, sehr europäisch, damit abendländisch“, sagt die Tochter eines Iraners fein ironisch. Aber sie ordnete die Muster in einer Art und Weise an, dass man diese ganz leicht dem morgenländischen, dem vorderasiatischen Kulturraum zuordnen kann. So möchte sie, sagt sie, eine Verbindung zwischen den Kulturen schaffen. Sie nennt das auch „transnationale Muster“, um bildhaft zu machen, wie untrennbar alles auf dieser Welt und in Zeit und Raum miteinander verbunden ist. Für die zeitliche Konstante auf allen Ziffernblättern, dieses fünf vorzwei–oder 13.55 Uhr –über alle Zeitzonen hinweg bin ich der Künstlerin dankbar.Zuabgegriffen ist die dauer-ignorierteWarnung, dass es für unserebedrohte Welt tatsächlich fünf vorzwölf sei. Pousttchi verzichtet auf Klischees, will mit ihrer Kunst keine Kassandra sein, Bettina Pousttchi vor einem ihrer Fotomotive – einer alten Bahnhofsuhr keine Moralistin. Siebezieht sich aus ihrer entgrenzten Perspektive, wie sie sagt, lieber auf die Geschichte eines urbanen Ortes, egal wo auf der Welt. Es geht um Erinnerung. Gerade auch in den aus Leitplanken gebogenen Skulpturen im vorderen Hallenbereich des Landesmuseums. Signalrot, feierlich bordeauxrot und anthrazitfarben ragen und kragen die mit äußerster Kraft und Präzision verbogenen Stahlteile wie bizarr- JIM RAKETE schöne Paarungen oder Dreier-Beziehungen in den Museumshimmel. Als fast surreale Gestalten bedienen und verstören sie die klassischen Bildhauer-Prinzipien von Tragen und Lasten, von Vertikalem und Horizontalem. Und vonder antiken Ponderation. Diebis zu vier Meter hohen farbigen Metallgebilde stehen alle auf winzigen Kipp-Punkten, die Erdung geben. Sozusagen Spitz’ auf Knopf. DieBalance ist fragil. Manche Skulpturen, ein paar Schritte weiter sind es farbige oder chromblitzende, stark BG/NORBERT MIGULETZ verformte Fahrradbügel oder Straßenabsperrungen, versinnbildlichen Versperrungen, die sich, derart mechanisch ihrer Funktion beraubt, dem Zugang unserer Fantasie,unserenEmotionen öffnen. Deutbar sind sie auch als Metaphern für Innigkeit. Andere, im Abknicken, im Stürzen begriffen, werden von stabiler stehenden Planken gehalten. Lesbar vondieser Abstraktion her, und auf menschliche Gestalten übertragen, als anthropomorphe Gleichnisse für Lebensformen, für Wachstumformen. Für humanes, zivilisiertes Verhalten: Zuwendung, Solidarität. Auch in ihrer zweiten Schau im Neuköllner Kindl-Zentrum, wo eine gigantische architekturbezogene Fotoinstallation zu sehen ist, schärft Pousttchi unser Raum-Zeit-Gefühl und die Gewissheit, Teil der ganzen Welt zu sein. Die Zeit ist ein Fluss ohne Ufer, sagen ihre Uhren und metaphorischen Skulpturen. Und Grenzen zwischen Kulturen und Nationalitäten sind fließend. Berlinische Galerie. Alte Jakobstr.124–128. Bis 6. April2020. Mi–Mo 10–18 Uhr. Kindl- Zentrum, am Sudhaus 3, Kesselhaus. Bis 10. Mai 2020, Mi–So 12–18Uhr NACHRICHTEN Grüttersweist Bericht über Kostenexplosion zurück Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat am Donnerstag Angaben zurückgewiesen, wonach sich die Baukosten für das Museum der Moderne am Potsdamer Platz verdreifachen könnten. Viele der in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung genannten Zahlen seien spekulativ bzw.unzutreffend. Am Montag wirdKulturstaatsministerin Grütters zuerst den Abgeordneten des Haushaltsausschusses Kostenrechnungen mit belastbaren Zahlen vorstellen, ließ eine Sprecherin der Kulturstaatsministerinauf Anfrage der Berliner Zeitung mitteilen. Anschließend werdeGrütters die Öffentlichkeit informieren. DieZeitung hatte gemutmaßt, dass ausgewählte Journalisten vorabinformiertwürden. (BLZ) Roberto Ciulli erhält den „Faust“ für sein Lebenswerk DerRegisseur,Schauspieler und Theaterleiter Roberto Ciulli (85) erhält den Deutschen Theaterpreis „Faust“ für sein Lebenswerk. MitCiulli ehreman einen Theatermacher, der wie kein anderer für eine offene Gesellschaft stehe,erklärte die Jury. Der„Faust“ wirdvon der Kulturstiftung der Länder,der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und dem Deutschen Bühnenverein in Köln vergeben. In diesem Jahr sind Hessen und Kassel Partner. (dpa) Der Autor Rainer Schedlinski mit 63 Jahren gestorben DerLyriker und Essayist Rainer Schedlinski ist am Freitag nach schwerer Krankheit mit 63 Jahren in Berlin gestorben. Dasbestätigte HugoVelarde vomBasisdruck-Verlag der Berliner Zeitung. Schedlinski, als Sohn eines LPG-Vorsitzenden und einer Finanzbuchhalterin in Magdeburggeboren,zog in den Achtzigern nach Prenzlauer Berg,woerAnschluss an die Dichterszene um Sascha Anderson fand und wie dieser als Inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig war.Seine letzten Texte erschienen in der Zeitschrift Abwärts.Am19. September,11Uhr, wirdSchedlinski inWeißensee,Roelckestraße 51 beigesetzt. (use.) UNTERM Strich Kleingarten Mit Bäumen reden? VonSabine Rohlf Ich habe gerade einen jungen Apfelbaum gegossen, das tue ich schon das ganzeGartenjahr.Wieso denn das, höre ich Sie fragen, es gab doch Gewittergüsse und fiel nicht neulich einen ganzen Taglang Wasser vom Himmel? Ja das stimmt, leider war es nicht genug, zumindest nicht in Berlin, nur wer Pflanzen zu versorgen hat, scheint es zu bemerken. Alle anderen beginnen nach zwei Tagen wechselnder Bewölkung zu seufzen. Und wenn auch noch das Internet ruft„Der Herbst ist da, wollen Sienicht Gummistiefel kaufen?“ kann ich nur noch die Augen verdrehen. Haben Siebei Ihremletzten Waldspaziergang nicht die vergilbten Eichen und schütter belaubten Buchen gesehen? Oder die Eiben in der Hasenheide, von denen einige schon im Frühsommer orangegelb wurden und einfach verstarben? Eigentlich können Eiben Hunderte Jahre alt werden, auf englischen Friedhöfen stehen uralte mythenumrankte Exemplare. Oder standen, wer weiß. Auch die Berliner Hainbuchen sehen miserabel aus, neben ihren Fruchtständen raschelte schon im August braunes Laub. Dietiefen Bodenschichten, die noch vom letzten Jahr ausgetrocknet waren, hatten auch in diesem keine Chance, genügend Wasser aufzusaugen. Dazu müsste es mal eine ganze Woche am Stück richtig regnen. So etwas kann es geben, sogar im Sommer, erinnern Sie sich? Oder wenigstens im CHRISTINA BRETSCHNEIDER Herbst, verbunden mit ein paar schönen Stürmen. Am besten zwei Wochen, am besten ab sofort. Ichwünsche es mir tatsächlich. So schön es ist, unter wolkenlosem Himmel bei angenehmen 21 Grad im Schrebergarten zu tippen, so satt habe ich das unerbittliche Blau. Oder die lächerlichen Tröpfchen und unentschlossenen Wolken, die hin und wieder einen Wetterwechsel antäuschen, um sich dann schnell wieder zu verziehen. Ichfreue mich auf kräftige Tiefdruckgebiete, Kühle und Regen. Weil das gemütlich ist, weil es einfach dazugehörtzueinem Jahr.Nicht nur im Schrebergarten. Ja,das hier ist Gejammer,aber die Bäume können sich ja nicht beschweren. Pflanzen sind stumm, das ist eine liebenswürdige Eigenschaft. Aber könnten sie sich äußern, wäre esein Stöhnen, Ächzen, Weinen und Schreien allüberall, lauter als jede sechsspurige Autobahn. So, nun ist gut, Öko-Rührseligkeit hilft auch nicht weiter. Zudem stelle ich mir redende Pflanzen eher vor wie die Baumhirten bei Tolkien, die sprechen tief und dröhnend Entisch und lieben die Dichtkunst. Oder wie die mit ihnen verwandten Huorns, das sind Bäume, die sich wehren lernten. Sie verabscheuen Orks, Zwerge und Menschen oder alle anderen mit einer Axt oder Säge. Heutzutage würden sie gewiss auch klimapolitische Versager angreifen. An Park-und Straßenbäume haben „Fridays for Future“-Leute Zettel gebunden: „Hilfe! Ich verdurste“, steht da. Ja ja, das ist Vermenschlichung im Förster-Wohlleben- Style. Die Flugblätter fordern dazu auf, am 20. September zustreiken, zu demonstrieren, sich aufzuregen und nicht nach ein paar Wochen Umfragehoch der Grünen so zu tun, als sei dieses Wetter schön. Oder den ganzen Ärger im Herbst, wenn die Blätter sowieso fallen, wieder zu vergessen. Natürlich haben diese Leute recht, egal, ob man einer Eibe, Eiche oder Buche eine traurige oder strenge Stimme, ein Bewusstsein oder überhaupt Leidensfähigkeit zutraut. Gießen wir also unsere Bäume, und gehen mit den Kindernauf dieStraße.
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