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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 213 · F reitag, 13. September 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
PetraKohse über die<br />
Wirkung des Protest-<br />
Videos „Susamam“<br />
Seite 23<br />
„Mit Klimamärschen beruhigen wir unser schlechtes Gewissen.“<br />
Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer über sein neues Buch „Wir sind das Klima!“ Seite 22<br />
EU und Kultur<br />
Jugend und<br />
Innovation<br />
Harry Nutt<br />
sieht in Ursula vonder Leyen<br />
eine Luhmann-Schülerin.<br />
Als der Soziologe Niklas Luhmann<br />
1997 in Berlin über das Verhältnis<br />
von Kultur und Unternehmen<br />
sprach, schickte er ohne Umschweife<br />
voraus, dass er Probleme<br />
mit der Kultur habe. Sie sei „kein eigenes<br />
System und komme zu oft<br />
vor“. In seiner groß angelegten Systemtheorie<br />
befasst er sich zwar ausführlich<br />
mit der Kunst der Gesellschaft,<br />
eine Auseinandersetzung mit<br />
der Kultur aber war in Luhmanns<br />
früh ausgebreitetem Werkplan nicht<br />
vorgesehen. Für ihn blieb Kultur ein<br />
fragwürdiger Begriff, der aus dem<br />
Wort Agricultura, dem Ackerbau,<br />
hervorgegangen war.<br />
Es war bislang nicht bekannt,<br />
dass die neue EU-Kommissionschefin<br />
Ursula von der Leyen eine Anhängerin<br />
der Luhmann’schen Systemtheorie<br />
ist, aber bei der neuen<br />
Zusammensetzung der Kommission<br />
hat sie sich zumindest in dieser Hinsicht<br />
als beflissene Schülerin des<br />
Bielefelder Soziologen erwiesen. Das<br />
Ressort Bildung und Kultur ist erstmals<br />
seit 1999 nicht eigens vergeben<br />
worden, an dessen Stelle rangiert<br />
nun die Abteilung Innovation und<br />
Jugend. DieEmpörung unter Kulturschaffenden<br />
ist groß. Nach dem Kulturrat<br />
haben nun auch der Deutsche<br />
Musikrat und der Deutsche Bühnenverein<br />
gegen die provozierende Vernachlässigung<br />
und Marginalisierung<br />
der Kultur protestiert.<br />
Man könnte nun ketzerisch fragen,<br />
was denn die bisherigen Kulturkommissare<br />
anErfolgen vorzuweisen<br />
haben, wo doch schon die Bezeichnung<br />
Kommissar wenig kulturnah<br />
klingt. Interessanter aber dürfte<br />
dasWirkungsfeld des neu entstandenen<br />
Ressorts sein, das mit Jugend<br />
und Innovation verheißungsvoll<br />
überschrieben ist, zugleich aber den<br />
bösen Verdacht schürt, dass die beiden<br />
Attribute in allen anderen Bereichen<br />
womöglich fehlen. Sollte nicht<br />
auch Wirtschaft, Wettbewerb, Handel<br />
und Soziales von Jugend und Innovation<br />
bestimmt sein? Bisauf weiteres<br />
gilt: Wer Kultur will, wird sie<br />
sich überall erobernmüssen.<br />
An der Schnittstelle zwischen Skulptur,Fotografie und Architektur:Blick in Pousttchis Ausstellung „InRecent Years“ im Landesmuseum Berlinische Galerie.<br />
Es ist fünf vor zwei<br />
Zur Art Week in der Berlinischen Galerie: Bettina Pousttchi schärft unser Raum-Zeit-Gefühl<br />
VonIngeborg Ruthe<br />
Alle Zeiger stehen auf fünf<br />
vor zwei, sämtliche der 24<br />
altmodischen mit römischen<br />
Ziffernblättern und<br />
modernen Uhren, die Bettina<br />
Pousttchi in den Metropolen der<br />
Welt fotografierte und nun in<br />
Schwarz-Weiß-Großaufnahmen an<br />
eine Wand der Berlinischen Galerie<br />
„transformierte“. Gleich denkt man<br />
an die legendäre Hillvalley-Turmuhr<br />
aus Zemeckis Kultfilm „Zurück in die<br />
Zukunft“. Da ging es ums Anhalten<br />
und Zurückdrehen der Zeit.<br />
DieSerie „World Time Clock“, das<br />
sind Bahnhofsuhren, Rathausuhren,<br />
Turmuhren –Zeitanzeiger im Stadtraum,<br />
von Frankfurt und Berlin, von<br />
Rio bis Alaska, vomMoskauer Kreml<br />
bis nach Taschkent und Hongkong.<br />
Unübersehbar geht es der 1971 in<br />
Mainz geborenen, an der Kunstakademie<br />
Düsseldorf ausgebildeten,<br />
heute in Berlin lebenden Bildhauerin<br />
und Fotografin um Zeit und damit<br />
um kulturelle Sinnbilder im öffentlichen<br />
Raum. Daslässt sie schon<br />
mit ihrer realistisch Illusionen erzeugenden<br />
Fassadenarbeit an der Berlinischen<br />
Galerie wissen. Dergläserne<br />
Eingangsbereich besteht aus netzartigen,<br />
hybriden Architekturmustern.<br />
Digital bearbeitete Fotos von Fachwerkhäusern<br />
liegen dem zugrunde.<br />
„Sehr deutsch, sehr europäisch, damit<br />
abendländisch“, sagt die Tochter<br />
eines Iraners fein ironisch. Aber sie<br />
ordnete die Muster in einer Art und<br />
Weise an, dass man<br />
diese ganz leicht dem<br />
morgenländischen,<br />
dem vorderasiatischen<br />
Kulturraum zuordnen<br />
kann. So möchte sie,<br />
sagt sie, eine Verbindung<br />
zwischen den<br />
Kulturen schaffen. Sie<br />
nennt das auch „transnationale<br />
Muster“, um<br />
bildhaft zu machen,<br />
wie untrennbar alles<br />
auf dieser Welt und in<br />
Zeit und Raum miteinander<br />
verbunden ist.<br />
Für die zeitliche<br />
Konstante auf allen Ziffernblättern,<br />
dieses fünf vorzwei–oder 13.55 Uhr<br />
–über alle Zeitzonen hinweg bin ich<br />
der Künstlerin dankbar.Zuabgegriffen<br />
ist die dauer-ignorierteWarnung,<br />
dass es für unserebedrohte Welt tatsächlich<br />
fünf vorzwölf sei. Pousttchi<br />
verzichtet auf Klischees, will mit ihrer<br />
Kunst keine Kassandra sein,<br />
Bettina Pousttchi vor<br />
einem ihrer Fotomotive –<br />
einer alten Bahnhofsuhr<br />
keine Moralistin. Siebezieht sich aus<br />
ihrer entgrenzten Perspektive, wie<br />
sie sagt, lieber auf die Geschichte eines<br />
urbanen Ortes, egal wo auf der<br />
Welt. Es geht um Erinnerung. Gerade<br />
auch in den aus Leitplanken gebogenen<br />
Skulpturen im vorderen Hallenbereich<br />
des Landesmuseums.<br />
Signalrot,<br />
feierlich bordeauxrot<br />
und anthrazitfarben<br />
ragen und kragen die<br />
mit äußerster Kraft und<br />
Präzision verbogenen<br />
Stahlteile wie bizarr-<br />
JIM RAKETE<br />
schöne Paarungen<br />
oder Dreier-Beziehungen<br />
in den Museumshimmel.<br />
Als fast surreale<br />
Gestalten bedienen<br />
und verstören sie<br />
die klassischen Bildhauer-Prinzipien<br />
von<br />
Tragen und Lasten, von<br />
Vertikalem und Horizontalem. Und<br />
vonder antiken Ponderation.<br />
Diebis zu vier Meter hohen farbigen<br />
Metallgebilde stehen alle auf<br />
winzigen Kipp-Punkten, die Erdung<br />
geben. Sozusagen Spitz’ auf Knopf.<br />
DieBalance ist fragil. Manche Skulpturen,<br />
ein paar Schritte weiter sind es<br />
farbige oder chromblitzende, stark<br />
BG/NORBERT MIGULETZ<br />
verformte Fahrradbügel oder Straßenabsperrungen,<br />
versinnbildlichen<br />
Versperrungen, die sich, derart<br />
mechanisch ihrer Funktion beraubt,<br />
dem Zugang unserer Fantasie,unserenEmotionen<br />
öffnen.<br />
Deutbar sind sie auch als Metaphern<br />
für Innigkeit. Andere, im Abknicken,<br />
im Stürzen begriffen, werden<br />
von stabiler stehenden Planken<br />
gehalten. Lesbar vondieser Abstraktion<br />
her, und auf menschliche Gestalten<br />
übertragen, als anthropomorphe<br />
Gleichnisse für Lebensformen,<br />
für Wachstumformen. Für humanes,<br />
zivilisiertes Verhalten:<br />
Zuwendung, Solidarität.<br />
Auch in ihrer zweiten Schau im<br />
Neuköllner Kindl-Zentrum, wo eine<br />
gigantische architekturbezogene Fotoinstallation<br />
zu sehen ist, schärft<br />
Pousttchi unser Raum-Zeit-Gefühl<br />
und die Gewissheit, Teil der ganzen<br />
Welt zu sein. Die Zeit ist ein Fluss<br />
ohne Ufer, sagen ihre Uhren und<br />
metaphorischen Skulpturen. Und<br />
Grenzen zwischen Kulturen und Nationalitäten<br />
sind fließend.<br />
Berlinische Galerie. Alte Jakobstr.124–128.<br />
Bis 6. April2020. Mi–Mo 10–18 Uhr.<br />
Kindl- Zentrum, am Sudhaus 3, Kesselhaus.<br />
Bis 10. Mai 2020, Mi–So 12–18Uhr<br />
NACHRICHTEN<br />
Grüttersweist Bericht über<br />
Kostenexplosion zurück<br />
Kulturstaatsministerin Monika Grütters<br />
hat am Donnerstag Angaben zurückgewiesen,<br />
wonach sich die Baukosten<br />
für das Museum der Moderne<br />
am Potsdamer Platz verdreifachen<br />
könnten. Viele der in einem Bericht<br />
der Süddeutschen <strong>Zeitung</strong> genannten<br />
Zahlen seien spekulativ bzw.unzutreffend.<br />
Am Montag wirdKulturstaatsministerin<br />
Grütters zuerst den<br />
Abgeordneten des Haushaltsausschusses<br />
Kostenrechnungen mit belastbaren<br />
Zahlen vorstellen, ließ eine<br />
Sprecherin der Kulturstaatsministerinauf<br />
Anfrage der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />
mitteilen. Anschließend werdeGrütters<br />
die Öffentlichkeit informieren.<br />
Die<strong>Zeitung</strong> hatte gemutmaßt, dass<br />
ausgewählte Journalisten vorabinformiertwürden.<br />
(BLZ)<br />
Roberto Ciulli erhält den<br />
„Faust“ für sein Lebenswerk<br />
DerRegisseur,Schauspieler und<br />
Theaterleiter Roberto Ciulli (85) erhält<br />
den Deutschen Theaterpreis<br />
„Faust“ für sein Lebenswerk. MitCiulli<br />
ehreman einen Theatermacher,<br />
der wie kein anderer für eine offene<br />
Gesellschaft stehe,erklärte die Jury.<br />
Der„Faust“ wirdvon der Kulturstiftung<br />
der Länder,der Deutschen Akademie<br />
der Darstellenden Künste und<br />
dem Deutschen Bühnenverein in<br />
Köln vergeben. In diesem Jahr sind<br />
Hessen und Kassel Partner. (dpa)<br />
Der Autor Rainer Schedlinski<br />
mit 63 Jahren gestorben<br />
DerLyriker und Essayist Rainer<br />
Schedlinski ist am Freitag nach<br />
schwerer Krankheit mit 63 Jahren in<br />
Berlin gestorben. Dasbestätigte<br />
HugoVelarde vomBasisdruck-Verlag<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Schedlinski, als<br />
Sohn eines LPG-Vorsitzenden und einer<br />
Finanzbuchhalterin in Magdeburggeboren,zog<br />
in den Achtzigern<br />
nach Prenzlauer Berg,woerAnschluss<br />
an die Dichterszene um Sascha<br />
Anderson fand und wie dieser<br />
als Inoffizieller Mitarbeiter für die<br />
Staatssicherheit tätig war.Seine letzten<br />
Texte erschienen in der Zeitschrift<br />
Abwärts.Am19. September,11Uhr,<br />
wirdSchedlinski inWeißensee,Roelckestraße<br />
51 beigesetzt. (use.)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Kleingarten<br />
Mit Bäumen<br />
reden?<br />
VonSabine Rohlf<br />
Ich habe gerade einen jungen Apfelbaum<br />
gegossen, das tue ich schon das ganzeGartenjahr.Wieso<br />
denn das, höre ich Sie fragen,<br />
es gab doch Gewittergüsse und fiel nicht neulich<br />
einen ganzen Taglang Wasser vom Himmel?<br />
Ja das stimmt, leider war es nicht genug,<br />
zumindest nicht in Berlin, nur wer Pflanzen<br />
zu versorgen hat, scheint es zu bemerken. Alle<br />
anderen beginnen nach zwei Tagen wechselnder<br />
Bewölkung zu seufzen. Und wenn<br />
auch noch das Internet ruft„Der Herbst ist da,<br />
wollen Sienicht Gummistiefel kaufen?“ kann<br />
ich nur noch die Augen verdrehen.<br />
Haben Siebei Ihremletzten Waldspaziergang<br />
nicht die vergilbten Eichen und schütter<br />
belaubten Buchen gesehen? Oder die Eiben<br />
in der Hasenheide, von denen einige<br />
schon im Frühsommer orangegelb wurden<br />
und einfach verstarben? Eigentlich können<br />
Eiben Hunderte Jahre alt werden, auf englischen<br />
Friedhöfen stehen uralte mythenumrankte<br />
Exemplare. Oder standen, wer weiß.<br />
Auch die <strong>Berliner</strong> Hainbuchen sehen miserabel<br />
aus, neben ihren Fruchtständen raschelte<br />
schon im August braunes Laub.<br />
Dietiefen Bodenschichten, die noch vom<br />
letzten Jahr ausgetrocknet waren, hatten<br />
auch in diesem keine Chance, genügend<br />
Wasser aufzusaugen. Dazu müsste es mal<br />
eine ganze Woche am Stück richtig regnen.<br />
So etwas kann es geben, sogar im Sommer,<br />
erinnern Sie sich? Oder wenigstens im<br />
CHRISTINA BRETSCHNEIDER<br />
Herbst, verbunden mit ein paar schönen<br />
Stürmen. Am besten zwei Wochen, am besten<br />
ab sofort. Ichwünsche es mir tatsächlich.<br />
So schön es ist, unter wolkenlosem Himmel<br />
bei angenehmen 21 Grad im Schrebergarten<br />
zu tippen, so satt habe ich das unerbittliche<br />
Blau. Oder die lächerlichen Tröpfchen<br />
und unentschlossenen Wolken, die hin<br />
und wieder einen Wetterwechsel antäuschen,<br />
um sich dann schnell wieder zu verziehen.<br />
Ichfreue mich auf kräftige Tiefdruckgebiete,<br />
Kühle und Regen. Weil das gemütlich<br />
ist, weil es einfach dazugehörtzueinem<br />
Jahr.Nicht nur im Schrebergarten.<br />
Ja,das hier ist Gejammer,aber die Bäume<br />
können sich ja nicht beschweren. Pflanzen<br />
sind stumm, das ist eine liebenswürdige Eigenschaft.<br />
Aber könnten sie sich äußern,<br />
wäre esein Stöhnen, Ächzen, Weinen und<br />
Schreien allüberall, lauter als jede sechsspurige<br />
Autobahn. So, nun ist gut, Öko-Rührseligkeit<br />
hilft auch nicht weiter. Zudem stelle<br />
ich mir redende Pflanzen eher vor wie die<br />
Baumhirten bei Tolkien, die sprechen tief<br />
und dröhnend Entisch und lieben die Dichtkunst.<br />
Oder wie die mit ihnen verwandten<br />
Huorns, das sind Bäume, die sich wehren<br />
lernten. Sie verabscheuen Orks, Zwerge und<br />
Menschen oder alle anderen mit einer Axt<br />
oder Säge. Heutzutage würden sie gewiss<br />
auch klimapolitische Versager angreifen.<br />
An Park-und Straßenbäume haben „Fridays<br />
for Future“-Leute Zettel gebunden:<br />
„Hilfe! Ich verdurste“, steht da. Ja ja, das ist<br />
Vermenschlichung im Förster-Wohlleben-<br />
Style. Die Flugblätter fordern dazu auf, am<br />
20. September zustreiken, zu demonstrieren,<br />
sich aufzuregen und nicht nach ein<br />
paar Wochen Umfragehoch der Grünen so<br />
zu tun, als sei dieses Wetter schön. Oder<br />
den ganzen Ärger im Herbst, wenn die Blätter<br />
sowieso fallen, wieder zu vergessen. Natürlich<br />
haben diese Leute recht, egal, ob<br />
man einer Eibe, Eiche oder Buche eine<br />
traurige oder strenge Stimme, ein Bewusstsein<br />
oder überhaupt Leidensfähigkeit zutraut.<br />
Gießen wir also unsere Bäume, und<br />
gehen mit den Kindernauf dieStraße.