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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 213 · F reitag, 13. September 2019 5<br />
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Politik<br />
Ganz oben auf das Blatt Papier<br />
hat jemand ein rotes<br />
Herz gemalt. „Wir schließen<br />
am Sonntag.Wirwerden<br />
euch alle vermissen“, steht darunter.<br />
Der Zettel hängt an der Tür<br />
von Nese’s Country Café. Ende Juli<br />
gab es hier zum letzten Mal Spiegeleier<br />
mit Corned Beef und Fleischwurst-Sandwiches.Seither<br />
ist der Diner<br />
an der Salt Springs Road geschlossen<br />
und der große Parkplatz<br />
vor dem schlichten Backsteinbau<br />
verwaist.<br />
„Die haben früher guten Umsatz<br />
gemacht“, sagt Arno Hill: „Aber ohne<br />
Laufkundschaft geht es einfach<br />
nicht.“ Derrepublikanische Politiker<br />
weiß, wovonerspricht: Er ist Bürgermeister<br />
von Lordstown, einem<br />
3000-Seelen-DorfimNordosten des<br />
Bundesstaats Ohio, und sein Büro<br />
liegt schräg gegenüber des verlassenen<br />
Restaurants.InkurzerHose und<br />
Sandalen empfängt Hill den Besucher.<br />
Der 66-Jährige mit schütterem<br />
Haar und Knollennase ist ein Lokalpolitiker<br />
der alten Schule. Seine E-<br />
Mails checkt er nur alle zwei Tage,<br />
aber seine Gemeinde hat er stets im<br />
Blick –und die Ausfallstraße nach<br />
Youngstown hinter seinem Fenster.<br />
„Kein Verkehr mehr“, antwortet Hill<br />
knapp auf die Frage,was sich verändert<br />
hat, seit General Motors sein<br />
Werk dichtgemacht hat.<br />
Der Todesstoß nach mehr als 50<br />
Jahren kam am 6. März. Die Stilllegung<br />
der größten Autofabrik der USA<br />
war nicht der erste Schlag für die Region.<br />
Keine 20 Minuten fährt man<br />
von Lordstown ins benachbarte<br />
Youngstown, die größte Stadt im Mahoning<br />
Valley. Einst schlug hier das<br />
industrielle Herz Amerikas.Die boomende<br />
Kohle- und Stahlindustrie<br />
lockte im 19. Jahrhundert so viele<br />
Einwanderer aus Europa an, dass es<br />
zeitweise sogar eine deutschsprachige<br />
Tageszeitung gab. Nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg hatte Youngstown<br />
170 000 Einwohner. Doch von der<br />
Schließung der Hochöfen Ende der<br />
1970er-Jahre hat sich der Ort, dem<br />
Bruce Springsteen eine bittereElegie<br />
widmete, nie mehr erholt. Inzwischen<br />
ist er auf rund ein Drittel seiner<br />
einstigen Größe geschrumpft.<br />
Kaum irgendwo hat der Rost den<br />
amerikanischen Traum so angefressen<br />
wie hier.<br />
Versetzung, Rente oder Entlassung<br />
Rostiges Herz<br />
„Verkauft eure Häuser nicht. Wirholen die Jobs zurück!“,<br />
versprach US-Präsident Donald Trumpden Bewohnern<br />
der Industrieregion um Youngstown.<br />
Dann schlossen das Autowerk, das Krankenhaus<br />
und die <strong>Zeitung</strong>. Ein Ortsbesuch<br />
VonKarlDoemens, Youngstown<br />
„Rettet die Jobs hier“, forderndie Beschäftigten des GM-Werks in Lordstown noch am Tagder Schließung.<br />
Immerhin gab es General Motors<br />
(GM), das 2010 vor den Toren der<br />
Stadt mit der Fertigung des Mittelklassemodells<br />
Chevrolet Cruze begann.<br />
Drei Schichten mit 4500 Menschen<br />
schafften rund um die Uhr.<br />
Die Hoffnung auf eine Renaissance<br />
der industriellen Vergangenheit<br />
keimte auf. Dann kam Donald<br />
Trump. Erversprach, Amerika wieder<br />
groß zu machen. Die Stimmen<br />
der „Blue-Collar-Worker“ verhalfen<br />
ihm zur Präsidentschaft. Im traditionell<br />
urdemokratischen Wahlbezirk<br />
rund um das Autowerk legte der Republikaner<br />
gewaltige 13 Prozentpunkte<br />
zu und triumphierte mit 51,1<br />
Prozent der Stimmen. „Lass mich<br />
Euch etwas sagen“, rief der Präsident<br />
bei einer Kundgebung im Sommer<br />
2017 den 7000 jubelnden Anhängern<br />
in Youngstown zu: „Verkauft<br />
eure Häuser nicht! Macht das nicht!<br />
Die werden im Wert steigen. Wir holen<br />
die Jobs zurück!“<br />
Es kam anders. Erst stoppte General<br />
Motors die Produktion. Dann<br />
machten die Zulieferer dicht. Dann<br />
ein großes Krankenhaus.Inzwischen<br />
droht Youngstown die staatliche Finanz-Zwangsaufsicht.<br />
Ende August<br />
folgte der vorerst letzte,hochsymbolische<br />
Akt des Trauerspiels: Nach 150<br />
Jahren wurde die Lokalzeitung The<br />
Vindicator eingestellt. Das Verlagsgebäude<br />
mit der erst kürzlich angeschafften<br />
neuen Druckmaschine<br />
mitten in der Innenstadt steht zum<br />
Verkauf. „Sale“ steht auch in dem<br />
Herrenbekleidungsgeschäft um die<br />
Ecke. Doch nicht die altmodischen<br />
Anzüge im Schaufenster sind reduziert.<br />
DasganzeGeschäft wirdpreisgeboten.<br />
„Trump ist ein Betrüger, ein<br />
Hochstapler, ein Bauernfänger“,<br />
wettertBill Adams.DerVize-Chef der<br />
örtlichen Autogewerkschaft UAW<br />
1112 ist auf den Präsidenten nicht<br />
gut zu sprechen. Doch noch empörter<br />
ist er über seinen ehemaligen Arbeitgeber<br />
General Motors: „Wir sind<br />
für die nur eine Nummer. Entweder<br />
du lässt dich versetzen, du gehst in<br />
Ruhestand oder du stirbst.“ Im Gewerkschaftshaus<br />
unweit der einstigen<br />
Autofabrik hält der Mann mit<br />
dem weißen Kinnbärtchen mit zwei<br />
Kolleginnen einsam die Stellung.<br />
„Lordstown – Heimat des Cruze“<br />
steht in großen Lettern noch an der<br />
Geisterfabrik. Auf dem leeren Parkplatz<br />
sprießt das Unkraut durch den<br />
brüchigen Bodenbelag. Viel zu tun<br />
hat Adams gerade nicht. Zuletzt waren<br />
1500 Arbeiter bei GM beschäftigt<br />
gewesen. Jeder hat ein Versetzungsangebot<br />
erhalten. Rund zwei<br />
Drittel sind inzwischen der Arbeit<br />
nach Kentucky in Tennessee oder gar<br />
ins 2000 Kilometer entfernteWerk in<br />
Texas gefolgt, dem Rest wurde gekündigt.<br />
Adams selbst hatte nach 32 Jahrengenug<br />
und ging in Frührente.Für<br />
seinen jüngeren Bruder war das<br />
keine Option. Derpendelt nun jeden<br />
Sonntag viereinhalb Stunden nach<br />
Michigan und jeden Freitag dieselbe<br />
Strecke zu seiner Familie zurück.Wer<br />
sich das nicht antun wollte und hier<br />
geblieben ist, muss den Gürtel enger<br />
schnallen. Zwar haben einige Ex-<br />
Kollegen in einem Logistikzentrum<br />
und bei einer Aluminiumfabrik neue<br />
Jobs gefunden. Doch werden dort<br />
nicht 30 Dollar Stundenlohn gezahlt<br />
wie bei GM, sondern18oder 20, und<br />
es gibt weder Krankenversicherung<br />
noch Betriebsrente.<br />
„Es ist ein<br />
Absturz“, urteilt<br />
Adams: „Es wird nie<br />
mehr so sein, wie es<br />
war.“<br />
Das sieht James<br />
Dignan ähnlich, obwohl<br />
der Chef der regionalen<br />
Handelskammer<br />
eigentlich dafür<br />
bezahlt wird, Optimismus<br />
zu verbreiten.<br />
Doch der gebürtige<br />
Kalifornier hat vonseinem<br />
Büroim16. Stock<br />
eines der drei Hochhäuser im Zentrum<br />
Youngstowns einen freien Blick<br />
ins Mahoning-Tal. „Wir werden älter,<br />
wir werden ärmer und wir schrump-<br />
OHIO<br />
Youngstown<br />
BLZ/GALANTY<br />
fen“, fasst er die Probleme<br />
der Region<br />
zusammen: „Diese<br />
Dynamik müssen<br />
wir brechen.“<br />
Für Trumps Industrie-Romantik<br />
hat der einstige Air-<br />
Force-Pilot, der im<br />
Laufe seiner früheren<br />
Militär-Laufbahn<br />
viel von der<br />
Welt gesehen hat,<br />
wenig übrig. „Die<br />
Tage des mächtigen<br />
industriellen Komplexes<br />
sind vorbei“,<br />
glaubt er:„Diealten Stahlwerke werden<br />
nicht wieder öffnen. Wir wollen<br />
etwas neues, die nächste Generation.“<br />
Und während der Lobbyist<br />
Bill Adams von der Autogewerkschaft.<br />
Für ihn ist Trump<br />
ein Betrüger.<br />
KARL DOEMENS<br />
GETTY IMAGES/JEFF SWENSEN<br />
über die notwendige Bündelung<br />
kommunaler Einrichtungen, den<br />
Boom im Logistik-Gewerbe und die<br />
Chancen vonSpezialstahlherstellern<br />
redet, gewinnt man einen Eindruck<br />
davon, dass sich diese Region trotz<br />
aller Rückschläge nicht einfach ihremSchicksal<br />
ergeben will.<br />
Tatsächlich gab es zuletzt kleine<br />
Hoffnungsschimmer.ImMahoning-<br />
Fluss, der durch die Kühlung der<br />
Hochöfen in den 1970er-Jahren<br />
selbst im tiefsten Winter auf 43 Grad<br />
Celsius erhitzt wurde, schwimmen<br />
erste Fische. Inder Innenstadt von<br />
Youngstown wurden Blumenbeete<br />
angelegt. Eine Freiluftbühne hat eröffnet.<br />
Und imhundert Jahre alten<br />
Stambaugh-Gebäude mit seiner<br />
stolzen Terrakotta-Fassade ist ein<br />
schickes Hotel entstanden – mit<br />
Hilfe kräftiger Steuersubventionen.<br />
Die Fenster der beiden Ladenlokale<br />
im Erdgeschoss freilich sind verhangen:<br />
Seit 14 Monaten sucht der Hilton-Konzern<br />
vergeblich nach Mietern.<br />
„Es wirdschwieriger.Aber wir haben<br />
Erfahrung mit dem Kämpfen“,<br />
sagt Todd Franko, der ehemalige<br />
Chefredakteur des Vindicator. Der<br />
52-Jährige weiß, wovon er spricht:<br />
Vorwenigen Tagen ist seine <strong>Zeitung</strong><br />
eingestellt worden. Die Konkurrenz<br />
des Internets,die durch den Wegzug<br />
vieler Einwohner dramatisch<br />
schrumpfende Leserschaft, der von<br />
der Schließung des örtlichen Kaufhauses<br />
Sears beschleunigte Einbruch<br />
des Anzeigengeschäfts –bei<br />
dem Lokalblatt haben sich die spezifischen<br />
Probleme der Region und die<br />
allgemeinen der Branche potenziert.<br />
Mit einer kleinen Mannschaft und<br />
zuletzt noch 30 000 Exemplaren Auflage<br />
hatte der Vindicator manchen<br />
lokalen Korruptionsskandal aufgedeckt.<br />
Der Wächter ist verstummt.<br />
„Es bleibt ein Loch zurück“, sagt<br />
Franko nüchtern. Aber er hat keinen<br />
Sinn für Sentimentalitäten: „Wir<br />
können uns beklagen oder wir können<br />
was Neuesmachen.“<br />
Nichtnur Franko will der Krise die<br />
Stirn bieten. „Wenn deine <strong>Zeitung</strong><br />
dichtmacht, bist du plötzlich begehrt,<br />
um andere davor zu warnen“,<br />
sagt er mit Galgenhumor. Einen<br />
neuen Job hat er gefunden: Im Auftrag<br />
einer Bostoner Stiftung wirdsich<br />
der Journalist künftig um die Spendenakquise<br />
für gemeinnützigen Lokaljournalismus<br />
kümmern.<br />
Wirtschaftsmann Dignan hofft<br />
trotz aller Schwierigkeiten auf die<br />
Ansiedlung einer große Cracker-Anlage<br />
zur Erdölverarbeitung. Und bei<br />
Bürgermeister Hill steht eine blitzblanke<br />
neue Schaufel für Spatenstiche<br />
in der Ecke des Büros bereit.„Wir<br />
haben Strom, gute Straßen und Steueranreize“,<br />
sagt er:„Ichwerde um jedenneuen<br />
Investor kämpfen.“<br />
DerGlaubeanden Wunderheiler<br />
Vielleicht ist es dieser in jahrzehntelangen<br />
Krisen gehärtete trotzige Widerstandsgeist,<br />
der viele Einwohner<br />
der Region auch weiter zu Trumpstehen<br />
lässt. „Sein Zugang zu den Themen<br />
ist manchmal etwas ungewöhnlich“,<br />
räumt Hill ein. DerSohnnorwegischer<br />
Einwanderer ist ein traditioneller<br />
Republikaner, der stolz auf<br />
seinen schuldenfreien Haushalt ist.<br />
Den Polter-Präsidenten will er trotzdem<br />
nicht kritisieren: „Jeder wusste,<br />
dass er kein Chorknabe ist.“ Undwas<br />
ist mit den fallenden Häuserpreisen?<br />
„Niemand kann die Welt in vier Jahrenändern“,<br />
wiegelt er ab.<br />
Auch der linke Gewerkschafter<br />
Adams sieht bei seinen Kollegen<br />
keine massiveAbsetzbewegung vom<br />
Präsidenten: „Seine Basis liebt ihn,<br />
weil er das sagt, was sie sich nicht<br />
traut.“ Mit seiner Schwiegermutter<br />
liegt Adams deswegen im Dauerclinch.<br />
Nichtnur an Familientischen<br />
ist die Polarisierung spürbar. Als das<br />
Aus für den Vindicator verkündet<br />
wurde, hörte Chefredakteur Franko<br />
auf seiner Mailbox neben bedauernde<br />
Nachrichten auch wüste Beschimpfungen.<br />
„Ihr bekommt, was<br />
ihr verdient!“, brüllte einer. Inden<br />
Vorgärten seiner Nachbarschaft hat<br />
Franko 14 Monate vor der Wahl<br />
schon erste „Trump 2020“-Schilder<br />
entdeckt. „Solange die Arbeiter hier<br />
das Gefühl haben, dass es Amerika<br />
insgesamt besser geht, werden sie<br />
wieder für ihn stimmen“, markierter<br />
den politischen Knackpunkt: „Selbst<br />
wenn das für sie persönlich nicht<br />
gilt.“<br />
Noch trägt der Glaube an den<br />
Wunderheiler im Weißen Haus.<br />
Doch das Vertrauensteht auf wackligem<br />
Grund: Die Konjunktur ist ins<br />
Schleudern geraten. Das Wachstum<br />
hat sich im zweiten Quartal verlangsamt.<br />
Viele Unternehmen frieren<br />
wegen des Handelskriegs mit China<br />
ihre Investitionen ein. Namhafte<br />
Ökonomen sagen einen Einbruch<br />
der Wirtschaft voraus. Für Trumps<br />
Siegeschancen ist nun entscheidend,<br />
dass eine mögliche Rezession<br />
erst nach derWahl spürbar wird. Den<br />
Menschen in der einstigen Stahlregion<br />
Ohios hingegen helfen ein paar<br />
Monate Aufschub nichts: Für sie<br />
wäreein Abschwung zu jeder Zeit fatal.<br />
„Immer, wenn die Wirtschaft eingebrochen<br />
ist, hat es uns ein bisschen<br />
härter als den Rest des Landes<br />
getroffen“, sagt der Republikaner<br />
Hill: „Und jedes Mal, wenn die Konjunktur<br />
danach wieder angezogen<br />
ist, sind wir ein Stück weiter zurückgeblieben.“<br />
Seinen Spaten könnte<br />
der Bürgermeister dann wohl endgültig<br />
einmotten.<br />
KarlDoemens<br />
sah 2012 Springsteen in<br />
Youngstown, 2017 Trump.