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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 239 · D ienstag, 15. Oktober 2019<br />
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Feuilleton<br />
In einer Welt aus Perücken und Schwall: Sosias (Joachim Meyerhoff, l.) und Merkur (Bastian Reiber) als sein Doppelgänger<br />
THOMAS AURIN<br />
Herrliche Nummern<br />
Aber es fehlt der böse Biss: Herbert Fritsch inszeniert Molières „Amphitryon“ in der Schaubühne<br />
VonDoris Meierhenrich<br />
Alles beginnt bei Herbert<br />
Fritsch mit der Musik. Das<br />
hat er oft gesagt. Im<br />
Grunde entsteht sein<br />
Theater überhaupt erst aus Rhythmus,<br />
Schwingung, Klang. Erst wenn<br />
die Körper der Spieler in eine Art<br />
Tanz abheben, ihr Sprechen in so etwas<br />
wie Singen, bekommt seinTheater<br />
Tiefe.Fritsch-Philosophie.<br />
Dass nun auch sein neuer Schaubühnen-Abend<br />
mit Musik beginnt,<br />
ist also nichts Neues.Was der Pianist<br />
Ingo Günther und die Marimba-<br />
Spielerin Taiko Saito diesmal aber<br />
gleich als Ouvertürevon den äußersten<br />
Bühnenrändern aus ins Spiel<br />
werfen, ist schon sehr besonders.Im<br />
Grunde eröffnet sie nicht nur die etwas<br />
frivole Molièresche Verwechslungskomödie<br />
„Amphitryon“, die<br />
dann folgt. Mit den erst leise anquietschenden,<br />
dann immer heftiger<br />
ratternden, rasselnden, dann melodisch<br />
schwingenden, schnellen,<br />
schönen, schiefen Sequenzen, die<br />
schließlich in Hauen und Stechen ihrer<br />
Instrumente übergehen, erzählen<br />
sie gefühlte zehn Minuten lang<br />
bereits alles, was dann knapp zwei<br />
Stunden lang noch ausklamaukt<br />
wird. Ein Schauermärchen-Sound<br />
für den Blick in eine tiefe Bühne,die<br />
in diesem Moment noch geheimnisvoll<br />
dunkel wirkt wie ein Bergwerk.<br />
Dann geht das Licht an und alles<br />
wird knallbunt. Die zehnfach geschachtelte<br />
Bühne bekommt<br />
Schicht für Schicht eine andere<br />
Farbe und aus dem Schacht wird<br />
eine papierne Spielfigurenkiste, auf<br />
der die auftretenden Moliere-Figuren<br />
ihre Bahnen ziehen. Vorund zurück<br />
schieben sie sich, von links<br />
nach rechts und umgekehrt, und natürlich<br />
geht es irgendwann auch<br />
durcheinander,aber im Großen und<br />
Ganzen spult Fritsch diesen leichtgewichtigen<br />
Molièreund seine überschaubare<br />
Handlung als Nummernrevue<br />
von Auf- und Abtritten schrill<br />
barocker Fassadenfiguren ab. Die<br />
aber können dabei –esgeht um Profilsucht,<br />
Super-Ich-Shows und Identitätsverlust<br />
– nach ihren eigenen<br />
Eingebungen richtig aufdrehen, sich<br />
krampfig verbiegen oder schlaksig<br />
entspannen, wie es gefällt. Letztes<br />
nutzt der Schaubühnenneuzugang<br />
Mit seiner klaren Artikulation und<br />
Wandlungskraft macht Meyerhoff schnell<br />
deutlich, was für ein Qualitätszuwachs<br />
er für die Schaubühne ist, auch wenn<br />
er im Körperbiegungsensemble Fritschs ein<br />
Außenseiter bleibt.<br />
Joachim Meyerhoff für seinen ersten<br />
Auftritt als Diener Sosias besonders<br />
geschickt. Nicht quer, nicht frontal –<br />
diagonal hoppelt er auf wie ein junges<br />
Fohlen, das in seiner rosaroten<br />
Legionärsuniform mit antikem Beschlag<br />
und barockem Rüschengefummel<br />
aussieht, als trabe in ihm der<br />
unschuldige Frühling selbst auf. Mit<br />
seiner klaren Artikulation und<br />
Wandlungskraft macht Meyerhoff<br />
schnell deutlich, was für ein Qualitätszuwachs<br />
er für die Schaubühne<br />
ist, auch wenn er im Körperbiegungsensemble<br />
Fritschs ein Außenseiter<br />
bleibt.<br />
Sosias ist der Diener des FeldherrnAmphitryon,<br />
dem es in diesem<br />
Stück schlecht ergeht. Denn Jupiter<br />
hat sich in all seiner göttlichen Lüsternheit<br />
einfach mal entschieden,<br />
Alkmene zu vernaschen, Amphitryons<br />
Gattin, zu welchem Zweck er<br />
dessen Gestalt annimmt. Gleiches<br />
tut der Götter-Diener Merkur mit<br />
seinem irdischen Pendant Sosias,<br />
nur dass er dessen Frau Cleanthis zu<br />
ihrer Enttäuschung unbeschadet<br />
lässt. Moliére mag, als er die Komödie<br />
1668 am Hof Ludwigs XIV. präsentierte<br />
–erselbst spielte den Sosias<br />
–eine Parodie auf die launischen Gebaren<br />
seines königlichen Gönners<br />
im Blick gehabt haben.<br />
Fritsch nun interessiert inZeiten<br />
von Instagram und Twitter das Doppelgängertum<br />
als Lebensform<br />
schlechthin: das Kopieren vonPosen,<br />
Gesichtern und Stil-Oberflächen, in<br />
denen Ich-Überhöhung und Ich-Verlust<br />
Hand in Hand gehen. „Wer bin<br />
ich, wenn nicht ich?“ fragt einzig Sosias<br />
am ganzen Körper schlotternd,<br />
als Merkur seinen Platz einnimmt.<br />
Klingt banal, ist aber gestern wie<br />
heute von tragischer Tiefe. Denn Sosias<br />
bleibt der einzige in dieser Welt<br />
aus Perücken und Schwall, der zu ahnen<br />
scheint, dass hier noch etwas anderes<br />
abhanden gekommen ist als<br />
nur ein Platz. Etwas Inneres.Die„Amphitryon“-Gesellschaft<br />
aber, die ihre<br />
Identitäten längst in ein Patchwork<br />
aus Verhaltensoberflächen aus Pop,<br />
Film und Politik verwandelt hat, antwortet<br />
nur mit einer Kaugummimasse<br />
an ikonischen Gesten. Im Moment<br />
der schlimmsten Verwirrung<br />
flüchtet sie ins lockereMusical.<br />
Einige herrliche Nummern kommen<br />
dabei heraus: vor allem die beiden<br />
Frauen, Annika Meier als Alkmene<br />
und CarolSchuler als Cleanthis<br />
ziehen alle Register der Übertreibungskunst<br />
vom zickigen Schulhofmädchen<br />
zum melodramatischen<br />
Zara-Leander-Verschnitt. Dennoch<br />
ziehen sich die vielen, mittlerweile<br />
auch allzu bekannten Schreck- und<br />
Triumph-Choreografien diesmal zu<br />
lang, auch zu harmlos dahin. Denbösen<br />
Biss müssten sie wieder finden.<br />
Schaubühne wieder 15., 17., 20.10.,20Uhr,<br />
Tel: 890023<br />
Eine umgekehrte Geschichte des mythischen Südens<br />
Eine Wiederentdeckung nach fast 50 Jahren: William Melvin Kelleys Roman „Ein anderer Takt“<br />
VonMarkus Schneider<br />
Wir haben sie nie gebraucht. Wir<br />
haben sie nie gewollt. Wir<br />
kommen gut ohne sie klar.“ Mit diesen<br />
Worten reagiert der Gouverneur<br />
eines namenlos-fiktiven US-Südstaates<br />
in William Melvin KelleysDebütroman„Ein<br />
anderer Takt“ auf den<br />
Exodus der kompletten schwarzen<br />
Bevölkerung aus seinem Land. Es<br />
klingt wie ein Tweet Donald Trumps,<br />
der kritische Abgeordnete in die Herkunftsländer<br />
ihrerVorfahren zurückschicken<br />
will. Tatsächlich spielt der<br />
Roman im Jahr 1957, und geschrieben<br />
hat ihn Kelley 1962.<br />
Sein Plot ist knapp: Als Tucker Caliban,<br />
ein schwarzer Farmer in der<br />
Kleinstadt Sutton, eines Tages seine<br />
Äcker versalzt, die Tiere erschießt<br />
und das Haus in Brand steckt, um<br />
mit seiner Familie schweigend davonzuziehen,<br />
folgt ihm dominoartig<br />
die schwarze Bevölkerung.<br />
Im Original heißt das Buch nach<br />
einem Zitat des voluntaristischen<br />
Philosphen Henry David Thoreau<br />
„A Different Drummer“, und es<br />
wurde zu einer Zeit geschrieben,<br />
als die USA in der Tateinen neuen<br />
Beat spürten. Im Zentrum von „A<br />
Different Drummer“ steht jedoch<br />
nicht der Widerstand der Civil-<br />
Rights-Aktivisten gegen die rassistische<br />
Jim-Crow-Segregation in<br />
den Südstaaten der USA. Diese<br />
wird nur angedeutet, etwa wenn<br />
Tuckers greiser Großvater – zwei<br />
Jahrenach Rosa Parks’ Sitzplatzverweigerung<br />
–imBus entschläft, den<br />
Kopf gegen das Schild gelehnt, das<br />
die schwarze Abteilung im Bus<br />
markiert. Tuckers„neuer Takt“ baut<br />
auf Verweigerung. Anders als<br />
Shakespeares lauter, zotiger Caliban<br />
im „Sturm“ schweigt Tucker.<br />
Statt seiner lässt Kelley ausschließlich<br />
weiße Protagonisten erzählen.<br />
Wir lernen Tucker aus der<br />
Perspektivevon HarryLeland, einem<br />
armen Kleinfarmer wie Tucker, und<br />
dessen achtjährigem Sohn kennen,<br />
sowie jener von zwei Generationen<br />
von Willsons, den Großgrundbesitzern,<br />
denen die Calibans seit Sklavenzeiten<br />
treu gedient haben, bisTucker<br />
ihnen Land abkauft und sich<br />
selbstständig macht.<br />
Seine weißen Protagonisten<br />
zeichnet Kelley einfühlsam, mit entspanntem<br />
Hintersinn. Es handelt<br />
sich dabei, im Gegensatz zum Gros<br />
der Dorfbevölkerung, um Figuren,<br />
die der Gleichberechtigung gönnerhaft<br />
aufgeschlossen bis freundschaftlich<br />
begegnen, der alte Willson<br />
engagierte sich in seiner Jugend so-<br />
Eine BusfahrtinSouth Carolina zur Zeit der „Rassentrennung“.<br />
„Es gab –damals und eigentlich<br />
noch immer – ein literarisches<br />
Ghetto“, sagte Kelley 2012 in einem<br />
Interview, „in dem afroamerikanische<br />
Schriftsteller immer nur mit anderen<br />
afroamerikanischen Schriftstellern<br />
verglichen wurden. Aber<br />
mich mussten die weißen Kritiker<br />
mit Faulkner, Fitzgerald und Robert<br />
Penn Warren vergleichen.“<br />
Kelley wurde für seinen Debütroman<br />
enthusiastisch zum literarischen<br />
Hoffnungsträger erklärt –um<br />
zum Ende des Jahrzehnts,nach einer<br />
Kurzgeschichtensammlung und drei<br />
weiteren Romanen, in der Versengar<br />
als Journalist flammend für die<br />
Gleichberechtigung, bis er deswegen<br />
den Jobverlor und –statt im Norden<br />
weiterzukämpfen –die Großgrundtradition<br />
der Familie übernahm.<br />
Kelley kehrt damit ironisch die<br />
übliche weiße Sicht auf afroamerikanische<br />
Figuren um, und er setzt sich<br />
über die Gewohnheit hinweg, die<br />
Werke schwarzer Autoren wie Richard<br />
Wright oder Ralph Ellison als<br />
Sozialkritik mit integrationistischem<br />
Horizont und als Ausdruck der sogenannten<br />
„black experience“ zu lesen.<br />
Kelley beschreibt, wenn man so<br />
will, die „white experience“.<br />
HANK WALKER<br />
kung zu verschwinden. Er selbst kam<br />
aus sehr integrierten Verhältnissen.<br />
1937 geboren, Sohn eines Redakteurs<br />
der schwarzenNew Yorker Wochenzeitung<br />
Amsterdam News,<br />
wuchs er in einem italoamerikanischen<br />
Viertel in der Bronx auf und<br />
studierte in Harvard zunächst Jura,<br />
dann Literatur. In den 60er-Jahren<br />
war er Teil der Black Arts-Bewegung,<br />
sozusagen der künstlerische Flügel<br />
der Black-Power-Bewegung. Er<br />
lebte, enttäuscht vom Lauf der<br />
Dinge, inParis und Rom, und exilierte<br />
nach Jamaika. Nach seiner<br />
Rückkehr arbeitete er an Universitäten,<br />
bis er sich wegen eines Nierenleidens<br />
zurückziehen musste. Erst<br />
anlässlich seines Todes 2017 wurde<br />
„A Different Drummer“ wiederentdeckt<br />
und Kelley –zum Beispiel in einem<br />
großen Porträt im Magazin New<br />
Yorker, das nun in der deutschen<br />
Ausgabe als Vorwort nachgedruckt<br />
ist –zum „verlorenen Giganten der<br />
US-Literatur“ erklärt.<br />
Gerade mit dem Abstand der<br />
Jahrzehnte erkennt man nun gut das<br />
bittere Grinsen, mit dem Kelley das<br />
Psychogramm der Südstaaten entwirft<br />
und dabei die Riffs von Schuld<br />
und schlechtem Gewissen, von<br />
duldsamen Schwarzen und weißem<br />
Heroismus anstimmt, mit denen Autoren<br />
vonWilliam Faulkner bis Harper<br />
Lee deren Geschichte erzählen –<br />
ein Ort, wie es auch einer vonKelleys<br />
Protagonisten sagt, den man trotz<br />
des finsteren Erbes lieben möchte.<br />
Auch Kelley entwirft einen mythischen<br />
Süden. Am Beginn steht die<br />
Geschichte eines rebellischen Sklaven<br />
von sagenhaften Dimensionen.<br />
Er ist angeblich der Urahn des unscheinbaren<br />
und schweigsamen Tucker,<br />
und er wird wie ein Großwild<br />
von einem frühen Willson erlegt. Erzählt<br />
wirdsie mit tarantinoesker Detailfreude<br />
von einem greisen Südstaatengeneral,<br />
der als Dorfweiser<br />
die orale Überlieferung pflegt und<br />
gleichsam einen Chor von dumpfen<br />
Dörflern leitet. Zwischen „es wird<br />
jede Menge Arbeit und Land geben“<br />
über„wer soll den Besen schwingen“<br />
bis zu „keiner wirdmehr singen und<br />
tanzen und lachen“ schlägt die Verwirrung<br />
in Zorn um. UndGewalt.<br />
Dabei ist nur dunkel zu ahnen,<br />
dass der Exodus nicht einfach die<br />
Konflikte beendet –sondern die Erzählung,<br />
auf der ihr mythischer Süden<br />
beruht.<br />
William Melvin Kelley: Ein anderer Takt<br />
Ausdem Englischen vonDirkvan Gunsteren.<br />
Hoffmann und Campe. Hamburg 2019.<br />
304 Seiten,22Euro