Berliner Zeitung 28.01.2020
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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 23 · D ienstag, 28. Januar 2020<br />
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Berlin<br />
Berlins Bahnen und Busse sollen attraktiver werden –und gleichzeitig günstiger.Geht das?<br />
IMAGO<br />
Wiebillig geht gut?<br />
Streitfall ÖPNV:Die Grünen werfen der SPD Populismus vor,die SPD den Grünen „Klientelpolitik“, die Linken halten sich zurück –und Berlin wartet<br />
VonAnnika Leister und Elmar Schütze<br />
Die Grünen sind genervt<br />
vom eigenen Koalitionspartner.<br />
Populismus<br />
werfen sie der SPD vor,<br />
eine verschwenderische Politik nach<br />
dem „Gießkannen“-Prinzip, dazu<br />
dasVerbreiten einer schädlichen Debattenkultur<br />
in der rot-rot-grünen<br />
Koalition. DerGrund: die SPD-Klausur<br />
an diesem Wochenende in Nürnberg<br />
–und die dort gehaltenen Reden<br />
und Beschlüsse der Sozialdemokraten,<br />
besonders die Forderung<br />
nach dem Ausbau des <strong>Berliner</strong><br />
U-Bahnnetzes und einem BVG-Jahresticket,<br />
das <strong>Berliner</strong> nur 365 Euro<br />
kosten soll.<br />
„Das klingt sozial, ist es aber<br />
nicht“, kritisiert Grünen-Fraktionschefin<br />
Antje Kapek. Die SPD fordere<br />
den extrem teuren Ausbau der<br />
U-Bahn und wolle mit dem kostengünstigen<br />
BVG-Ticket gleichzeitig<br />
die Einnahmen für die Verkehrsbetriebe<br />
schmälern. „Das ist nicht nur<br />
ein Widerspruch, das ist Politik mit<br />
der Gießkanne auf Kosten derer, die<br />
es wirklich brauchen.“<br />
Die Grünen haben aber noch ein<br />
anderes Problem mit der SPD: Die<br />
setzt mit ihren Klausuren nämlich<br />
immer wieder neue Höhepunkte der<br />
Dissonanz in der ohnehin streitfreudigen<br />
Dreierkoalition, die Grüne und<br />
Linke regelmäßig zu Wutanfällen<br />
bringen. DieSozialdemokraten nehmen<br />
wenig bis keine Rücksicht auf<br />
Koalitionsetikette und schießen auf<br />
offener Bühne mitVorliebe gegen die<br />
eigenen Partner.<br />
Besonders häufig sind dabei die<br />
Grünen und ihreVerkehrspolitik Angriffsziel.<br />
Jüngste Beispiele von der<br />
SPD-Klausur: „Klientelpolitik“ und<br />
einen verbissenen Kampf gegen das<br />
Auto werfen hochrangige Sozialdemokraten<br />
wie Michael Müller und<br />
Raed Saleh der Ökopartei einerseits<br />
vor und prangern andererseits Stillstand<br />
in der Senatsverkehrsverwaltung<br />
an, die von der Grünen Regine<br />
Günther geleitet wird. Die Parteien<br />
stehen dabei auch für zwei große<br />
Wählerschichten in Berlin, die sie jeweils<br />
zu erreichen versuchen: Die<br />
SPD adressiert besonders Pendler<br />
und Wenigverdienende in den Außenbezirken,<br />
die Grünen jene, die<br />
kein Auto fahren.<br />
„Schön, dass die SPD beim<br />
Thema Klimaschutz endlich aufgewacht<br />
ist und Butter bei die Fische<br />
packen will“, kommentiert die<br />
zweite Grünen-Fraktionsvorsitzende<br />
Silke Gebel die Schelte von<br />
den Sozialdemokraten. „Aber dicke<br />
Luft bringt den Klimaschutz kein<br />
Stück weiter.“ Seitdem die Grünen<br />
das Verkehrsressort leiten, würde<br />
dort soviel investiert wie nie zuvor.<br />
Dabei müssten die Grünen ausbaden,<br />
was die vorangegangene große<br />
Koalition –und allen voran auch die<br />
SPD – in den vergangenen Jahren<br />
verpasst hätten.<br />
Ein klares Nein für Müllers 365-<br />
Euro-Ticket also von den Grünen,<br />
auch die Linken halten sich zurück,<br />
fragen konkret nach der Finanzierung.<br />
Die ist das größte Problem beim<br />
Umbau des ÖPNV. Denn die Politik<br />
steckt hier in einem Teufelskreis fest:<br />
DieBVG braucht Milliarden, um den<br />
ÖPNV auszubauen. Dafür bräuchte<br />
sie mehr Kunden und mehr Einnahmen.<br />
Dafür aber müsste sie häufiger<br />
fahren und attraktiver sein. Und dafür<br />
wiederum müsste die BVG Milliarden<br />
investieren. Wir haben die<br />
sechs Parteien gefragt, wie sie diesem<br />
Teufelskreis entkommen wollen<br />
und wie sie sich Berlins ÖPNV in Zukunft<br />
vorstellen.<br />
2,40 EUR<br />
BLZ/HECHER (6)<br />
Die Linke will Unternehmen<br />
mitbezahlen lassen<br />
Grundsätzlich gut“ finden die<br />
Linken Müllers Vorschlag eines<br />
365-Euro-Tickets. Auch die Linke<br />
will, dass die Abo-Preise sinken, um<br />
mehr <strong>Berliner</strong> in Bus und Bahn zu<br />
bringen. Schon 2015 forderte sie ein<br />
ähnliches Konzept: eine „Öffi-Flatrate“,<br />
die 30 Euro pro Monat kosten<br />
sollte –pro Jahr wären das sogar fünf<br />
Euro weniger als Müllers Ticket.<br />
Aber:„Vorher muss kräftig in den Öffentlichen<br />
Personen-Nahverkehr investiert<br />
werden“, sagt Harald Wolf,<br />
Verkehrsexperte der Partei. Es brauche<br />
mehr Wagen, engere Taktzeiten<br />
und einen Ausbau der Strecken.<br />
Die Kosten für den Ausbau will<br />
die Linke durch eine neue Einnahmequelle<br />
decken: „Wir versprechen<br />
uns einiges von einer Nahverkehrsabgabe<br />
durch Unternehmen, wie es<br />
in Frankreich zum Beispiel üblich<br />
ist“, so Wolf. In Frankreich zahlen<br />
Unternehmen mit mehr als zehn<br />
Mitarbeitern die Verkehrssteuer. Sie<br />
kann bis zu ein Prozent der Lohnund<br />
Gehaltskosten betragen, die Erträge<br />
fließen zweckgebunden direkt<br />
in die lokalen Streckennetze. In Berlin<br />
hat die rot-rot-grüne Koalition<br />
sich die Idee schon 2016 in den Koalitionsvertrag<br />
geschrieben, die Senatsverkehrsverwaltung<br />
hat dazu<br />
Gutachten in Auftrag gegeben. Die<br />
Ergebnisse aber stehen noch aus.<br />
Die Grünen bitten Touristen<br />
und Autofahrer zur Kasse<br />
Die Grünen kritisieren die SPD<br />
für das 365-Euro-Ticket scharf:<br />
zu teuer, nicht durchdacht, populistisch<br />
sei die Idee –und am Ende auch<br />
noch unsozial, weil sie der BVG das<br />
Geld raube,umdortauszubauen, wo<br />
es wirklich mangele.<br />
Bevorsie den Preis der Tickets für<br />
die Fahrgäste nach unten drehen,<br />
wollen die Grünen erst für neue Einnahmequellen<br />
sorgen – und sind<br />
bisher die einzigen in Regierung wie<br />
Opposition, die Ideen vorbringen,<br />
die noch nicht im Koalitionsvertrag<br />
von 2016 stehen. Doch: Die Ideen<br />
der Grünen sind hoch umstritten.<br />
Erstens wollen die Grünen eine<br />
Citymaut einführen. Jeder, der den<br />
Innenstadt-Ring mit einem Benziner<br />
oder Diesel befährt, soll also eine Gebühr<br />
bezahlen. Zweitens soll das<br />
Parken teurer werden und die Parkraumbewirtschaftung<br />
auch auf Teile<br />
der Stadt ausgedehnt werden, die<br />
bisher nicht zahlen müssen. Drittens<br />
wollen die Grünen Touristen eine<br />
höhere Übernachtungssteuer zahlen<br />
lassen, dafür sollen sie ein BVG-<br />
Ticket erhalten –obsie es nutzen<br />
oder nicht. DieEinnahmen aus allen<br />
drei Ansätzen – Citymaut, Parken,<br />
Touristen-Ticket –sollen nach dem<br />
Wunsch der Grünen direkt in den<br />
Ausbau des Streckennetzes und<br />
neue Busse und Bahnen fließen.<br />
Die SPD will neue Fördertöpfe<br />
des Bundes erschließen<br />
Die Idee für das 365-Euro-Ticket<br />
wurde vom Regierenden Bürgermeister<br />
Michael Müller (SPD)<br />
selbst geboren. In seiner Partei gibt<br />
es durchaus kritische Stimmen dazu,<br />
die blieben auf der Fraktionsklausur<br />
am Wochenende allerdings stumm.<br />
Beider Frage danach, wie die BVG<br />
die entstehenden Finanzlöcher<br />
stopfen und dabei gleichzeitig das<br />
Netz ausbauen soll, gehen die Sozialdemokraten<br />
bisher nur einen alten<br />
Weg: Man müsse neue Fördertöpfe<br />
auf Bundesebene erschließen, sagt<br />
Tino Schopf, Verkehrsexperte der<br />
Partei. DasGemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz<br />
zum Beispiel sei vom<br />
Bundesverkehrsministerium um<br />
Hunderte Millionen Euro massiv<br />
aufgestockt worden, hier müsse man<br />
rasch entsprechende Projekte anmelden.<br />
Recht praktisch: Für das Anmelden<br />
und Antragstellen ist dieVerkehrsverwaltung<br />
zuständig – und<br />
mit Senatorin Regine Günther eine<br />
Grüne.Die Kritik am Plan der SPD ist<br />
schon jetzt, dass Förderungen des<br />
Bundes immer zeitlich begrenzt sind<br />
– das 365-Euro-Ticket aber dauerhaft<br />
angeboten werden soll.<br />
Außerdem will auch die SPD die<br />
Parkraumbewirtschaftung ausweiten.<br />
Andere Maßnahmen, wie Citymaut<br />
oder Touristenticket, lehnt sie<br />
bisher aber strikt ab.<br />
Die CDU will U-Bahnlinien<br />
verlängern<br />
Die Frage könnte so einfach sein:<br />
365-Euro-Ticket –jaoder nein?<br />
Doch die CDU ist sich noch nicht einig:<br />
„Mehrheitlich“ sei die CDU für<br />
das stark vergünstigte Jahresticket,<br />
sagt Oliver Friederici, verkehrspolitischer<br />
Sprecher der Partei. Vielleicht<br />
hat die Zerrissenheit der Christdemokraten<br />
auch zu tun mit einer Erkenntnis,<br />
die man in der SPD so<br />
deutlich lieber nicht ausspricht:<br />
„Das wird wohl nur steuerfinanziert<br />
möglich sein“, so Friederici.<br />
Er kritisiert außerdem einen zu<br />
hohen Preisunterschied zwischen<br />
den Zonen B(Außenbezirke) und C<br />
(Umland) im Preisgefüge des <strong>Berliner</strong><br />
Nahverkehrs. Die Preise sollten<br />
angeglichen werden, so Friederici,<br />
und das günstige <strong>Berliner</strong> Tarifgebiet<br />
AB „zwei oder drei S-Bahnstationen<br />
weit nach Brandenburgausgedehnt“<br />
werden, damit auch Pendler in Zukunft<br />
Anreiz haben, ihr Auto stehen<br />
zu lassen.<br />
Ebenfalls auf dem Wunschzettel<br />
der CDU: Fünf U-Bahnlinien sollen<br />
verlängert werden. Hier stimmt die<br />
mit ihrem alten Koalitionspartner<br />
SPD überein: Deren Fraktionschef<br />
Raed Saleh hat den U-Bahnausbau<br />
gerade zum neuen Wahlkampfthema<br />
erklärt –und sich damit klar<br />
gegen Linke und Grüne positioniert,<br />
die den U-Bahnausbau ablehnen.<br />
Die AfD setzt auf<br />
Mitfahrerparkplätze<br />
Die AfD setzt beim Thema BVG-<br />
Ausbau scheinbar auf magisches<br />
Denken: Manmuss es sich nur<br />
stark genug wünschen, dann wird<br />
das schon irgendwie Realität.<br />
Die aktuellen Ticketpreise seien<br />
zu hoch und stiegen auch noch<br />
„quasi jährlich“, sagt Frank Scholtysek,<br />
Verkehrsexperte der Partei. „Das<br />
gefällt uns nicht, weil es den ÖPNV<br />
unattraktiv macht.“ Auch von Michael<br />
Müllers 365-Euro-Ticket hält<br />
die AfD nichts –das würde vielleicht<br />
den Einzelnen entlasten, ansonsten<br />
aber entweder für Löcher in den Kassen<br />
der BVGsorgen oder müsste mit<br />
Steuergeldern ausgeglichen werden.<br />
„Beides lehnen wir ab“, so Scholtysek.<br />
Wasaber bleibt dann noch? „Es<br />
bleibt nur, dass der ÖPNV einfach<br />
wesentlich attraktiver wird“, sagt<br />
Scholtysek. Klassischer Zirkelschluss,magisches<br />
Denken eben.<br />
Ansonsten will die AfD die Zahl<br />
der Park-and-Ride-Parkplätze stärker<br />
ausbauen –und das im Umland,<br />
den Außenbezirken sowie in direkter<br />
Nähe der <strong>Berliner</strong> Innenstadt, am S-<br />
Bahnring. „In Hamburg gibt es ein<br />
Modell, bei dem man mit dem Ticket<br />
für den Öffentlichen Nahverkehr automatisch<br />
einen festen Park-and-<br />
Ride-Stellplatz erhält“, sagt Scholtysek.<br />
„Warum geht das in Berlin<br />
nicht?“<br />
Die FDP will ein Ticket für<br />
die Mittelstrecke<br />
Die FDP lehnt das 365-Euro-Ticket<br />
rundherum ab. Erstens,<br />
weil die BVG es sich nicht leisten<br />
könne, die Einnahmen zu verlieren,<br />
sagt FDP-Verkehrsexperte Henner<br />
Schmidt. Zweitens aber auch, weil es<br />
gar nicht erwiesen sei, dass ein günstigeres<br />
Angebot überhaupt dafür<br />
sorge, dass mehr Menschen auf die<br />
Öffentlichen umsteigen. Dasaber sei<br />
ja Müllers Ziel.<br />
Kritik am Ticketsystem der BVG<br />
hat die FDP aber durchaus: So ist<br />
nach ihrem Geschmack etwa die Lücke<br />
zwischen einem Kurzstrecken-<br />
Ticket (drei Stationen mit S- oder U-<br />
Bahn für 1,90 Euro) und einem Einzelfahrschein<br />
AB (90 Minuten in eine<br />
Richtung für 2,90 Euro)zugroß. „Wir<br />
können uns ein Mittelstrecken-Ticket<br />
vorstellen, das dann zum Beispiel<br />
zehn Bushaltestellen und vielleicht<br />
sechs U- oder S-Bahnstation<br />
abdecken würde und 2,40 Euro kosten<br />
könnte“, so Schmidt.<br />
Alternativ könnte auch darüber<br />
nachgedacht werden, den Einzelfahrschein<br />
AB wieder zwei Stunden<br />
gelten zu lassen sowie den Preisunterschied<br />
zwischen einem Jahresticket<br />
für die Tarifzonen AB und ABC<br />
zu reduzieren. Wiedie AfD hält auch<br />
die FDP es für denkbar, ein ABC-Ticket<br />
mit einem Park-and-Ride-Parkplatz<br />
zu kombinieren.