Berliner Zeitung 28.01.2020
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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 23 · D ienstag, 28. Januar 2020<br />
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Feuilleton<br />
Ismaël JoffroyChandoutis: Swatted, 2018 (Filmstill)<br />
COURTESY OF THE ARTIS<br />
Meditationen über das errechnete Bild<br />
Zufällige Bekannte, künstlerische Wahlverwandtschaften –Die Medienkunst-Ausstellung „Das ewige Netzwerk“ im Haus der Kulturen der Welt<br />
VonTilman Baumgärtel<br />
Es ist 1982, der amerikanische<br />
Künstler TimKlinkowstein<br />
hat eine zackige New-<br />
Wave-Frisur und ist vonansteckender<br />
Begeisterung, denn<br />
gleich geht seine „Online-Performance“<br />
los.Man wirdBilder aus den<br />
Niederlanden zu ihm nach Levittown<br />
in den USA schicken, die er<br />
dann umgehend zu einer Collage<br />
verarbeitet. DieBilder kommen über<br />
dieses Computernetzwerk! In Echtzeit!<br />
Alles ist interaktiv! Bitte treten<br />
Sie näher! Das staunende Publikum<br />
versammelt sich um ein Computerterminal,<br />
das so groß wie eine Kühltruhe<br />
ist, und schaut gespannt zu,<br />
wie ein Stück Papier aus dem Nadeldrucker<br />
kommt.<br />
Pixelreihe für Pixelreihe<br />
Anfang der 80er-Jahre – das war<br />
lange vor dem Internet, ja, sogar<br />
noch vor der Einführung eines Faxgeräts<br />
in jedem Büro. Dass man Bilder,die<br />
auf der anderen Seite des Atlantiks<br />
aufgenommen wurden, sofortinLevittown,<br />
Long Island, zu sehen<br />
bekommt, grenzte damals ans<br />
Unglaubliche. Doch dann kommen<br />
zwei Bilder Pixelreihe für Pixelreihe<br />
aus dem Nadeldrucker gequollen,<br />
die die grimassierenden Gesichter<br />
der Kommunikationspartner von<br />
Klinkowstein in Holland zeigen.<br />
Die Auflösung der Bilder ist niedrig,<br />
und sie sind schwarz-weiß. Aber<br />
ansonsten erinnern sie stark andie<br />
Schnappschüsse, die heute jeder<br />
Smartphone-Besitzer in die Sozialen<br />
Medien pustet. Kaum gibt man den<br />
Leuten Zugang zu einer Digitalkamera<br />
mit Netzanschluss, sokönnte<br />
man meinen, fangen sie an, Selfies<br />
zu verschicken.<br />
Klinkowstein hatte während seiner<br />
Zeit in Europa an Telekommunikationsaktionen<br />
wie „The World in<br />
24 Hours“ von Robert Adrian teilgenommen.<br />
Weitgehend unter Ausschluss<br />
der traditionellen Kunstwelt<br />
experimentierte zu dieser Zeit eine<br />
kleine Gruppe von Künstlern mit<br />
den Möglichkeiten der globalen Telekommunikation<br />
über Satelliten,<br />
Telex, Faxund frühe Computernetzwerke.<br />
Diese Technik war zu dieser<br />
Zeit außerordentlich teuer und<br />
schwer zu bedienen. Undwer zu dieser<br />
Gruppe gehört hat, mag sich als<br />
Angehöriger eines Netzwerks von<br />
Gleichgesinnten, die ein bleibendes<br />
Zusammengehörigkeitsgefühl verbindet,<br />
empfunden haben.<br />
Die Transmediale ist ein Festival für Medienkunst<br />
und digitale Kultur,das einmal jährlich<br />
und in diesem Jahr zum 33. Mal in Berlin<br />
stattfindet. Die Festivalausgabe wurde von<br />
Kristoffer Gansing mit Beratung durch Clemens<br />
Apprich, Daphne Dragona, GeertLovink<br />
und Florian Wüst kuratiert.<br />
www.transmediale.de<br />
Ein „ewiges Netzwerk“, wie der<br />
Titel der Ausstellung des <strong>Berliner</strong><br />
Medienkunstfestivals Transmediale<br />
lautet, die am Dienstagabend eröffnet<br />
wird. Hier ist nicht nur das Video<br />
vonder Online-Aktion vonTom Klinkowstein<br />
zu sehen, sonderngut zwei<br />
Dutzend Arbeiten, die sich mit dem<br />
affektiven Potential von Netzwerken<br />
beschäftigen.<br />
Denn im Grunde ist es bis heute<br />
so geblieben: Wer als Künstler mit<br />
Medien und vorallem mit dem Internet<br />
arbeitet, findet sich in einem Paralleluniversum<br />
der zeitgenössischen<br />
Kunst wieder, das nur kursorische<br />
TRANSMEDIALE 2020<br />
Das Programm umfasst die einmonatige<br />
Ausstellung „The Eternal Network“ im Haus<br />
der Kulturen der Welt (HKW,bis 1. 3.), das<br />
Symposium an der Volksbühne Berlin am<br />
31. 1. und 1. 2., sowie den Film &Video Tag<br />
am 30. 1. im HKW,die CTM &transmediale<br />
Night im Berghain, das Student Forum am<br />
29. 1. im HKW und ein Workshop-Programm.<br />
Anknüpfungspunkte zu dem hat,<br />
was in Museen und Galerien als Gegenwartskunst<br />
gezeigt wird. Da bemüht<br />
man sich besser um gute Verbindungen<br />
innerhalb der eigenen<br />
Szene –sowie die Künstlerin Olia<br />
Lialina, die für ihreArbeit „Summer“<br />
die Server ihrer Künstlerkollegen<br />
nutzt, um die verschiedenen Bilder<br />
einer Aufnahme,die sie beim Schaukeln<br />
zeigt, imWorldWideWebzuzeigen.<br />
Oder man nutzt die Macht der<br />
voneiner Armee vonNetz-Cineasten<br />
zusammengetragenen Filme wie Robert<br />
Luxemburg bei seiner Arbeit<br />
„The Manwith the Personal Compu-<br />
ter“, der bei dem Film „Der Mann<br />
mit der Kamera“ (1929) von Dziga<br />
Vertov jede Einstellung aus seinen<br />
eigenen Bildern zusammensetzt –<br />
ein verwirrendes Puzzle, das einerseits<br />
Referenz an den analogen Filmklassiker,<br />
andererseits Meditation<br />
über das errechnete,digitale Bild ist.<br />
In den 60er-Jahren prägte der französische<br />
Fluxus-Künstler Robert Filliou<br />
den Ausdruck von„Eternal Netzwerk“,<br />
dem ewigen Netzwerk, das<br />
der Ausstellung den Namen gibt. Er<br />
meinte damit das lose Geflecht von<br />
Freundschaften, Zufallsbekanntschaften,<br />
künstlerischen Wahlverwandtschaften<br />
und kreativer Zusammenarbeit,<br />
das zu dieser Zeit die<br />
Kunstwelt als Vorbote der Globalisierung<br />
immer stärker zu prägen begann.<br />
Kunstgattungen wie die Mail<br />
Art, neue Produktionsformen wie<br />
das Multiple und die Performance<br />
sowie die immer leichter zugängliche<br />
Möglichkeit des internationalen<br />
Reisens mögen damals den Eindruck<br />
erweckt haben, dass in der Kunstwelt<br />
das Einzelkämpfertum von einem<br />
globalen Miteinander abgelöst werden<br />
würde.<br />
Filliou, der selbst nicht in der Ausstellung<br />
vertreten ist, obwohl der Titel<br />
von ihm stammt, musste aber<br />
auch am eigenen Leib erfahren, dass<br />
diese Phase des kreativen, internationalen<br />
Miteinanders langfristig<br />
doch wieder durch die Arbeit am eigenen<br />
Werk von individuellen<br />
Künstlernabgelöst wurde.<br />
Dieser Prozess wiederholte sich<br />
seither für mehrere Generationen<br />
von Kommunikationskünstlern; die<br />
Ausstellung, die von dem scheidenden<br />
Transmediale-Kurator Kristoffer<br />
Gansing kuratiert wurde, verweist<br />
auf Parallelen zur Interaktion über<br />
das Internet in den 90er-Jahren.<br />
Wunschvorstellung geblieben<br />
Das„ewige Netzwerk“ ist darum bis<br />
heute eine nur teilweise eingelöste<br />
Wunschvorstellung geblieben, die<br />
aber, wie die Ausstellung zeigt, immer<br />
wieder Künstler inspiriert.<br />
Da das große Auditorium in der<br />
ehemaligen Kongresshalle derzeit<br />
renoviert wird, findet die Konferenz<br />
der Transmediale, die in den letzten<br />
Jahren zu einem immer wichtigeren<br />
Teil des Festivals geworden ist, diesmal<br />
am Wochenende in der Volksbühne<br />
statt. Im HdKW sind neben<br />
der Ausstellung unter der Woche das<br />
Film- und Videoprogramm der Veranstaltungen<br />
sowie Performances in<br />
der Ausstellung zu sehen.<br />
Pop aus dem Kinderzimmer<br />
Mit vier Trophäen ist die 18-jährige Billie Eilish die große Siegerin der 62. Grammy-Verleihung. Bei der Show in Los Angeles erinnern die Stars auch an den Basketballer Kobe Bryant<br />
VonChristian Fahrenbach<br />
Die 18-jährige Sängerin und<br />
Songwriterin Billie Eilish ist<br />
die große Gewinnerin bei den<br />
62. Grammy Awards in Los Angeles.<br />
Ihr Lied „Bad Guy“ gewann am<br />
Sonntag als „Song des Jahres“ und<br />
„Aufnahme des Jahres“. „When We<br />
All Fall Asleep, Where DoWeGo?“<br />
wurde zum besten Album erklärt,<br />
und Eilish gewann für ihren Elektropop<br />
auch den Preis als „Bester<br />
neuer Künstler“. Seit Beginn der<br />
Grammys 1959 war es das erste<br />
Mal, dass einer Frau bei einer einzigen<br />
Verleihung der Sieg in allen vier<br />
Hauptkategorien gelang. Der einzige<br />
Mann, der dieses Kunststück<br />
schaffte, war Christopher Cross<br />
(„Sailing“) im Jahr 1980.<br />
Auch in der Sparte „Bestes Pop<br />
Vocal Album“ siegte Eilish, so dass<br />
sie insgesamt fünf Auszeichnungen<br />
Billie Eilish mit einem ihrer fünf Grammys<br />
minierungen nur in zwei Nebenkategorien<br />
gewinnen: für das beste<br />
Musikvideo und die beste Pop-<br />
Duo/Gruppen-Performance.<br />
Während der mehr als dreieinhalb<br />
Stunden dauernden Verleihung<br />
AFP/ROBYN BECK<br />
davontrug. Ihr Bruder Finneas<br />
O’Connell, der die Musik produzierte,<br />
gewann dafür Grammys in<br />
zwei weiteren Kategorien. Die beiden<br />
hatten das Album hauptsächlich<br />
im Haus ihrer Eltern aufgenommen.<br />
„Das hier ist für alle Kinder,<br />
die heute Musik in ihrem<br />
Schlafzimmer machen“, sagte<br />
O’Connell, als er mit seiner<br />
Schwester den Preis für den „Song<br />
des Jahres“ entgegennahm. „Ihr<br />
werdet so einen hier bekommen.“<br />
Das Nachsehen hatte die zweite<br />
große Favoritin des Abends, Lizzo.<br />
Die 31-jährige Sängerin („Truth<br />
Hurts“) war acht Mal nominiert gewesen<br />
und siegte dann in drei kleineren<br />
Kategorien, darunter „Beste Pop<br />
Solo Performance“. Auch Lil Nas X<br />
(20), der mit „Old Town Road“ einen<br />
neuen Rekord gesetzt hatte, weil er<br />
19Wochen lang an der Spitzeder US-<br />
Charts stand, konnte trotz sechs Nohatten<br />
viele Künstler auch immer<br />
wieder den tödlich verunglückten<br />
Ex-Basketballer Kobe Bryant gewürdigt.<br />
„Wir stehen hier, und unsere<br />
Herzen sind gebrochen, im Haus,<br />
das Kobe erschaffen hat“, sagte die<br />
Moderatorin Alicia Keys zu Beginn<br />
der Veranstaltung im Staples Center.<br />
Dort hatte der am Sonntag im Alter<br />
von41Jahren bei einem Hubschrauberabsturz<br />
ums Leben gekommene<br />
Bryant jahrelang mit seinem Basketballteam<br />
L.A. Lakers Erfolge gefeiert.<br />
Keys sang dann mit der R&B-Band<br />
Boyz II Men eine berührende Akustik-Version<br />
von deren Song „It’s so<br />
Hard to SayGoodbye to Yesterday“.<br />
Zu den emotionalsten Live-Acts<br />
des Abends zählte auch der erste<br />
große Auftritt nach einer gesundheitsbedingten<br />
Pause vonSängerin<br />
Demi Lovato. Sie musste unter Tränen<br />
ein zweites Malfür ihrePower-<br />
Ballade „Anyone“ ansetzen. Diese<br />
hatte sie 2018 aufgenommen, vier<br />
Tage vor einer fast tödlichen Drogenüberdosis.Seinerzeit<br />
war sie im<br />
Juli ins Krankenhaus gekommen<br />
und hatte eine Therapie begonnen.<br />
Für ihren Auftritt gab es genauso<br />
Standing Ovations wie für einen<br />
Tribut an den im März 2019 erschossenen<br />
Rapper Nipsey Hussle,<br />
den unter anderem John Legend,<br />
DJ Khaled und Meek Mill sangen.<br />
„Lang lebe Nips, lang lebe Kobe“,<br />
sagte Khaled am Ende.<br />
DieGrammys werden in mehr als<br />
80 Kategorien vergeben, rund 13 000<br />
Mitglieder der Recording Academy<br />
entscheiden über die Preisträger.<br />
Schon vor der im US-Fernsehen auf<br />
CBS übertragenen Show hatten die<br />
meisten deutschen Nominierten bei<br />
der Bekanntgabe der Nebenkategorien<br />
das Nachsehen. Einzig die NDR<br />
BigBand als Begleitung des US-Jazztrompeters<br />
Randy Brecker siegte in<br />
der Kategorie „Bestes improvisiertes<br />
Jazz-Solo“ für „Sozinho“ auf seinem<br />
Album „Rocks“. Unter anderem<br />
Filmkomponist Hans Zimmer und<br />
Techno-Musiker Apparat gingen in<br />
ihren Kategorien leer aus. (dpa)