(193-256) (2,0 MB) - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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AnwBl 4/2004 213<br />
THEMA<br />
Der Rechtsanwalt –<br />
Organ der Rechtspflege<br />
oder Kaufmann?<br />
Nationale und internationale Entwicklungen in der<br />
Anwaltschaft<br />
Rechtsanwalt und Notar Prof. Dr. Hans-Jürgen Hellwig,<br />
Frankfurt am Main, Präsident des Rates der Anwaltschaften<br />
der Europäischen Union (CCBE)*<br />
Die deutsche Anwaltschaft ist längst in Europa und in<br />
der Welt angekommen. Es gibt kaum noch Rechtsgebiete,<br />
die nicht von europäischen oder internationalen Regelungen<br />
beeinflusst werden. Das gilt auch für das Berufsrecht<br />
der Rechtsanwälte. Jeder Anwalt ist betroffen, werden<br />
doch jetzt die Weichen dafür gestellt, wie der Anwalt in<br />
den nächsten Jahren seinen Beruf ausüben kann. Der Autor<br />
– seit Jahren profunder Kenner der europäischen und<br />
internationalen Entwicklungen, Mitglied im Vorstand des<br />
Deutschen <strong>Anwaltverein</strong>s und nun Präsident des CCBE,<br />
der wichtigsten Anwaltorganisation in Europa – beschreibt,<br />
wo die Anwaltschaft steht und auf welche Fragen<br />
sie eine Antwort finden muss.<br />
A. Ein Blick auf die innere Lage der Anwaltschaft<br />
I. Die Jahrestagung der International Bar Association von<br />
1998 in Vancouver diskutierte das Thema “Grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit und Allianzen von Anwaltskanzleien“.<br />
Das Podium war sich einig: Wir konkurrieren<br />
mit den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, und deshalb<br />
darf unsere internationale Tätigkeit in keiner Weise<br />
eingeschränkt werden, auch nicht durch berufsrechtliche<br />
Regeln. Der erste Sprecher aus dem Publikum war ein alter<br />
Anwalt aus Jamaika, großgewachsen und schlank, tiefschwarze<br />
Haut, silberweißes Haar, eine eindrucksvolle Erscheinung.<br />
Er rief dem Podium zu: “Shame on you! You betray<br />
the law! You are not lawyers, you are traders. Traders<br />
who sell their knowledge of the law like a commodity!“<br />
(Schämen Sie sich! Sie verraten das Recht! Sie sind nicht<br />
Anwälte, Sie sind Händler. Händler, die ihre Rechtskenntnis<br />
wie eine Ware verkaufen!) Betroffenes Schweigen.<br />
Schließlich kam die Antwort des Vorsitzenden, ein Anwalt<br />
aus London: “Thank you for this voice from the wilderness.“<br />
(Vielen Dank für diese Stimme aus der Wildnis.) Ich<br />
werde dieses Erlebnis nie vergessen. Die zentrale Frage der<br />
Anwaltschaft – Organ der Rechtspflege oder Kaufmann –<br />
hätte nicht deutlicher gemacht werden können. 1<br />
Vier Jahre später, nach Enron/Andersen und weiteren<br />
Skandalen, bei denen nicht nur Wirtschaftsprüfer, sondern,<br />
weniger bekannt geworden, auch Anwälte involviert waren,<br />
setzte der amerikanische Kongress einen Ausschuss zur Untersuchung<br />
der Frage ein, ob das anwaltliche Berufsrecht<br />
auf die Interessen der Öffentlichkeit angemessen Rücksicht<br />
nimmt. Ein zorniger Abgeordneter sprach damals drohend<br />
aus: “If you behave like businessmen we will treat you like<br />
businessmen.“ (Wenn Sie sich wie Geschäftsleute benehmen,<br />
werden wir Sie wie Geschäftsleute behandeln.)<br />
Dieser zweite Vorfall zeigt: Die zentrale Frage – Organ<br />
der Rechtspflege oder Kaufmann – ist inzwischen zu einem<br />
Thema der Politik geworden. Diese Feststellung gilt nicht<br />
nur für die USA, sie gilt auch für Europa. Im Folgenden<br />
will ich versuchen, die derzeitigen Entwicklungen in ihren<br />
wichtigsten Einzelheiten darzustellen und in ein Gesamtbild<br />
einzuordnen – ein beunruhigendes Gesamtbild, wie ich<br />
schon jetzt bemerken möchte.<br />
Die Situation der Anwaltschaft hat<br />
sich drastisch geändert<br />
MN<br />
II. Das Umfeld und die eigene Situation der Anwaltschaft<br />
haben sich in Deutschland wie im Ausland gegenüber dem<br />
Stand vor zwanzig, ja noch vor zehn Jahren drastisch verändert.<br />
Ich skizziere, im Sinne eines Berichts, nicht einer Bewertung:<br />
9 Zunehmende Internationalisierung, ja Globalisierung der<br />
geschäftlichen Aktivitäten der Mandanten und der anwaltlichen<br />
Tätigkeit. Dies alles im Größtmaßstab wie<br />
DaimlerChrysler und im kleinen Maßstab wie Kooperationen<br />
von zwei Handwerksbetrieben in Kehl und<br />
Straßburg oder die Zusammenarbeit von zwei kleinen<br />
Kanzleien in Oberhausen und Nijmwegen.<br />
9 Zunehmende Komplexität der Sachverhalte und der<br />
Rechtsnormen, daraus resultierend die zunehmende Notwendigkeit<br />
der Spezialisierung.<br />
9 Zunehmende Technisierung. EDV, Telefax, E-Mail, Internet<br />
etc. eröffnen für Mandanten und Anwälte ungeahnte<br />
Möglichkeiten, aber auch Belastungen.<br />
9 Der Wettbewerb um anwaltliche Mandate nimmt ständig<br />
zu. Die inländischen Anwaltszahlen steigen ständig. Für<br />
Deutschland sind die Zahlen Ende 1960: 18.000; Ende<br />
1985: 48.000; derzeit: rund 127.000; Ende 2006: ca.<br />
150.000. In den anderen Ländern in Europa ist die Entwicklung<br />
ähnlich.<br />
9 Hinzu kommt der Wettbewerb durch Angehörige anderer<br />
Berufe, insbesondere Wirtschaftsprüfer, Steuerberater<br />
aber auch Inkassounternehmen, Banken, Rechtsschutzversicherer,<br />
Verbraucherverbände, Schuldnerberatungseinrichtungen,<br />
Haus- und Grundbesitzervereine, Unternehmensberater<br />
etc. Auch diese Entwicklung ist nicht<br />
auf Deutschland beschränkt.<br />
Daneben gibt es Entwicklungen, die auf Deutschland<br />
beschränkt oder dort besonders ausgeprägt sind.<br />
Seit den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts<br />
zum anwaltlichen Standesrecht von 1987 und der Novellierung<br />
der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1994 werden die<br />
Bandagen im Wettbewerb härter. Vor allem kleinere und<br />
mittlere Kanzleien in Deutschland und in weiten Teilen des<br />
übrigen Europas greifen mehr und mehr zu den traditionellen<br />
Mitteln kommerzieller Werbung, wenn wir auch von<br />
* Diese Veröffentlichung ist die überarbeitete und fortgeschriebene Fassung eines<br />
Vortrags, den der Verfasser am 29.9.2003 vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen<br />
Vereinigung e. V., Düsseldorf, gehalten hat. Die Vortragsform wurde<br />
beibehalten. Die Veröffentlichung gibt die persönliche Meinung des Verfassers<br />
wieder.<br />
1 Zum Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege siehe Jaeger NJW 2004, 1 ff.<br />
Den Begriff des Organs der Rechtspflege gibt es auch in anderen Rechtsordnungen<br />
(instrument of justice, officer of the court, instrument de justice usw.)