(193-256) (2,0 MB) - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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MN<br />
walts bzw. der Kanzlei, nämlich der Pflicht, das, was man<br />
von Mandant A erfahren hat, vertraulich zu behandeln, und<br />
der Pflicht, dem Mandanten B alles offenzulegen, was man<br />
an Nützlichem für seinen Fall weiß, einschließlich der Informationen<br />
von Mandant A, und umgekehrt. Hier handelt<br />
es sich um Vertragsansprüche, so dass jeder Mandant sich<br />
damit einverstanden erklären kann, dass ihm die Informationen<br />
des anderen Mandanten nicht offengelegt werden.<br />
Dieser Verzicht wird in der Praxis häufig ausgesprochen,<br />
insbesondere wenn zwischen den Anwälten, die für die beiden<br />
Mandanten tätig sind, sog. Chinese Walls errichtet werden.<br />
Neben diesem Konflikt der zivilrechtlichen Anwaltspflichten<br />
gibt es das berufsrechtliche Verbot, in einem<br />
Konflikt von Mandanteninteressen tätig zu sein. Dieses berufsrechtliche<br />
Verbot ist unverzichtbar. Jedoch: Wenn beide<br />
Mandanten die zivilrechtliche Kollision zwischen Vertraulichkeits-<br />
und Offenlegungspflicht durch Einverständnis geregelt<br />
haben, bleibt der weiterhin bestehende berufsrechtliche<br />
Verstoß ohne Folgen – die Law Society of England<br />
and Wales wird in der Praxis nur auf Antrag tätig. Ein solcher<br />
Antrag wird auch von solchen Mandanten, die mit der<br />
kollidierenden Tätigkeit nicht einverstanden sind, nicht gestellt<br />
werden, denn die Law Society kann die kollidierende<br />
Tätigkeit nicht verhindern, sondern nur ahnden. Diese Mandanten<br />
versuchen vielmehr, ihre zivilrechtlichen Vertraulichkeitsansprüche<br />
im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes<br />
vor Gericht durchzusetzen. Für die Praxis bedeutet dies:<br />
Sind die Mandanten einverstanden, dann sind viele der großen<br />
Londoner Kanzleien interessenkollidierend tätig.<br />
Es gibt einen Wettbewerb<br />
europäischer Berufsrechte<br />
Auf dem Gebiet anwaltlicher Werbung geht die Bandbreite<br />
in Europa von völligem Verbot bis hin zu völliger,<br />
uneingeschränkter Liberalisierung. Bei den Spezialistenbezeichnungen<br />
sieht es ähnlich aus. Einige Länder verbieten<br />
sie völlig, andere haben Fachanwaltsregelungen, wieder andere<br />
kennen die Spezialistenbezeichnung kraft – zutreffender!<br />
– Selbsteinschätzung. 9<br />
Diese Unterschiede führen dazu, dass der Wettbewerb<br />
innerhalb der europäischen Anwaltschaft auch ein Wettbewerb<br />
der europäischen Berufsrechte ist, und dabei ist das<br />
strengere Berufsrecht gegenüber dem liberaleren Berufsrecht<br />
bzw. gegenüber der liberaleren Berufsrechtspraxis im<br />
Nachteil. Um es noch einmal zu betonen: Berufsrecht in<br />
diesem Sinne sind nicht nur die vom Beruf selbst geschaffenen<br />
Berufsordnungen, sondern auch nationale Gesetze,<br />
soweit sie das berufliche Verhalten von Anwälten regeln.<br />
VI. Der genannte Wettbewerb zeigt sich in vielen Einzelpunkten.<br />
Dass Anwaltskanzleien mit ihren Umsätzen werben,<br />
geht auf die Praxis im angelsächsischen Markt zurück,<br />
genauso wie das Zeithonorar. 10 Der Kapitalmarkt kennt den<br />
sogenannten “Tombstone“ (Grabstein). Dies ist nicht etwa<br />
ein Gedenkstein für die zahllosen Opfer des Kapitalmarkts,<br />
sondern eine Zeitungsanzeige, mit der der Abschluss einer<br />
Emission oder einer M&A-Transaktion bekanntgegeben<br />
wird. Dabei werden nicht nur die Finanzberater, sondern zunehmend<br />
auch die eingeschalteten Anwaltskanzleien genannt.<br />
Bei der Einwerbung von Mandaten im sog. Schönheitswettbewerb<br />
– inzwischen auch bei mittelgroßen und<br />
kleineren Mandaten weit verbreitet – werben Anwälte mit<br />
AnwBl 4/2004<br />
Thema<br />
Referenzmandaten. Wen das stört, der sollte bedenken: Bei<br />
Börsentransaktionen werden kraft börsenrechtlicher Vorschriften<br />
und weltweiter Übung die Namen der tätigen Anwaltskanzleien<br />
im Prospekt veröffentlicht, und die Offenlegung<br />
von Referenzmandaten wird durch das europäische<br />
und nationale Vergaberecht sogar gesetzlich gefordert. Was<br />
die Machtverhältnisse innerhalb internationaler Kanzleien<br />
angeht, sind in den meisten Fällen die englischen Partner liberaler<br />
als die kontinentaleuropäischen, und das englische<br />
Berufsrecht, jedenfalls die englische Berufsrechtspraxis, ist<br />
liberaler als das Berufsrecht der anderen beteiligten Länder.<br />
Die Folge ist: Die Praxis wird stark vom englischen Berufsrecht<br />
geprägt. Dass die anderen nationalen Berufsrechte<br />
deshalb überall vielfach faktisch erodieren, liegt wohl auch<br />
daran, dass gegen die nationalen Berufsrechtsverstöße der<br />
internationalen Sozietäten von Seiten der Anwaltsorganisationen<br />
nur selten, und dann meist in Äußerlichkeiten wie<br />
der Gestaltung des Briefkopfes, vorgegangen wird. Will<br />
man sich nicht mit den Großkanzleien anlegen? Weiß man<br />
mangels Beschwerden keine Einzelheiten? Hat man vielleicht<br />
auch ein wenig den Glauben an das eigene Berufsrecht<br />
und dessen Überlebensfähigkeit im gesamteuropäischen<br />
Anwaltsmarkt und -wettbewerb verloren?<br />
Wir haben es mit einer Gesamtentwicklung zu tun, die<br />
vielfach als Kommerzialisierung der Anwaltschaft bezeichnet<br />
worden ist. Auf die Konsequenzen und Gefahren, die<br />
sich aus dieser Entwicklung für traditionelle Grundwerte<br />
im Verständnis vom Rechtsanwalt ergeben können, ist seit<br />
Ende der 90er Jahre auf der Ebene der weltweit tätigen International<br />
Bar Association und der nationalen Anwaltsorganisationen,<br />
auch in Europa und insbesondere hier in<br />
Deutschland – ich erinnere an die Anwaltstage der letzten<br />
Jahre -, mehrfach und in verschiedensten Formen hingewiesen<br />
worden, von Informationsveranstaltungen bis hin zu<br />
Resolutionen – Stichwort: Kommerz versus Ethos. Als jemand,<br />
der sich dabei stark engagiert hat 11 , muss ich feststellen:<br />
Bewirkt hat dies in der Anwaltschaft wenig, in der Öffentlichkeit<br />
gar nichts.<br />
Treibende Kraft dieser Entwicklung für Europa war und<br />
ist, wie gesagt, die Praxis der großen Londoner Kanzleien.<br />
Diese haben sich in diesen Fragen, die von der der Expertise<br />
auf den Feldern der anwaltlichen Tätigkeit sehr wohl<br />
zu unterscheiden sind, am Markt und im Wettbewerb als<br />
überlegen erwiesen. Man sollte einmal den Gründen für<br />
diese Überlegenheit nachgehen. Liegen sie in der englischen<br />
Kaufmannsmentalität, die an der Wiege des Britisch<br />
Empire Pate stand? Oder liegen die Gründe in der Zweiteilung<br />
des englischen Anwaltsberufs – hier der Barrister, der<br />
im wesentlichen nur vor Gericht tätig ist, dort der Solicitor,<br />
der ohne Monopol und im Wettbewerb mit anderen Beratungsberufen<br />
das Beratungsgeschäft betreibt? Mit dieser<br />
Frage will ich andeuten, dass es bei der jetzt festzustellenden<br />
Entwicklung außerhalb Englands mittel- und langfristig<br />
vielleicht auch um die Einheitlichkeit des Anwaltsberufs<br />
und die Einheitlichkeit des anwaltlichen Berufsrechts geht.<br />
Wenn zu lesen war, dass eine der Londoner Großkanzleien<br />
mit weltweiten Büros auf dem Kapitalmarkt bzw. bei Banken<br />
150 Mio Dollar (in 2002) und dann noch einmal (in<br />
2003) 50 Mio Pfund aufgenommen hat, dann ist dies sicher<br />
ein Extremfall, aber gewiss kein Einzelfall. Derselbe Berufsstand<br />
wie ein nationaler Einzelanwalt? Dasselbe Berufs-<br />
9 Im Einzelnen siehe Hellwig, Beilage zum AnwBl. 4/2002, 23 ff<br />
10 Hellwig AnwBl. 1998, 623 ff<br />
11 Vgl. Hellwig Sonderheft zu AnwBl. 2/2000, 29 ff; AnwBl. 2000, 705 ff