(193-256) (2,0 MB) - Anwaltsblatt - Deutscher Anwaltverein
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AnwBl 4/2004 239<br />
9<br />
Gedanken zur Zusammenlegung von<br />
Gerichtszweigen<br />
Leserzuschrift zu dem Beitrag „Integration<br />
der Sozialgerichtsbarkeit in<br />
die Verwaltungsgerichtsbarkeit?“ von<br />
Rechtsanwalt Joachim Francke, AnwBl<br />
2004, 106:<br />
In Deutschland erfreut sich das Justizwesen<br />
einer Ausdifferenzierung, die<br />
kaum Ihresgleichen hat. Nach dem<br />
Scheitern einer VwPO Mitte der 80er-<br />
Jahre kommen nun erneut Forderungen<br />
nach einer Zusammenlegung von Gerichtszweigen<br />
auf 1 , so von Staatsminister<br />
de Maizière auf dem Richter- und<br />
Staatsanwaltstag 2003 2 und ihm folgend<br />
von Bundesministerin Zypries 3 .<br />
Die Justizministerkonferenz am 6. November<br />
hat inzwischen eine Arbeitsgruppe<br />
eingesetzt, die bis zur nächsten<br />
Jumiko Vorschläge zur Errichtung einer<br />
einheitlichen öffentlich-rechtlichen<br />
Fachgerichtsbarkeit erarbeiten soll 4 .<br />
Diese teilt sich bekanntlich in VG/<br />
OVG/BVerwG sowie SG/LSG/BSG<br />
und FG/BFH 5 . Dabei fällt schon ein<br />
grundlegender Unterschied auf, und<br />
zwar die Zweistufigkeit in der Finanzgerichtsbarkeit.<br />
Diese hat sich bewährt,<br />
erscheint jetzt sogar als die modernere<br />
Variante, denn bei VG (§§ 124 f.<br />
VwGO) und – eingeschränkt – SG<br />
(§ 144 SGG) wird die Konzentration<br />
auf eine Tatsacheninstanz angestrebt.<br />
Damit sind wir bei einem der<br />
Hauptargumente, der Effizienz der<br />
Justiz. Die „knappe Ressource Recht“ 6<br />
darf angesichts enger Haushalte, allgemeiner<br />
Sparzwänge und vor der generellen<br />
„Modernisierung ... unserer<br />
Gesellschaft“ 7 nicht vergeudet werden.<br />
Dies reicht als Begründung aber nicht<br />
aus, denn wer verändern will, hat die<br />
Beweislast dafür, dass es hinterher<br />
besser funktioniert. Zunächst lässt sich<br />
dies für die räumliche Zusammenlegung<br />
von Gerichten ohne weiteres feststellen.<br />
Das Hamburger „Haus der Gerichte“<br />
ist hierfür ein gutes Beispiel. In<br />
Schleswig-Holstein z. B. verfügen VG<br />
und OVG, die in einem Gebäude untergebracht<br />
sind, zudem noch über eine<br />
gemeinsame Gerichtsverwaltung.<br />
Eine institutionelle Verschmelzung<br />
hätte darüber hinaus noch den Vorteil,<br />
dass der Einsatz der Richterinnen und<br />
Richter flexibler nach dem jeweiligen<br />
Geschäftsanfall gesteuert werden<br />
könnte. Ein Wechsel zwischen den Gerichtsbarkeiten<br />
ist bisher regelmäßig<br />
nur mit Zustimmung des (Lebenszeit-)Richters<br />
möglich, anders als die<br />
Betreuung mit anderen Aufgaben im<br />
Rahmen der Geschäftsverteilung<br />
(§ 21 e GVG). Gehen also etwa die<br />
Asylverfahren zurück, steigen aber<br />
zeitgleich die Streitigkeiten im Bereich<br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung<br />
an, kann hierauf zurzeit nur<br />
begrenzt durch Verschiebungen von<br />
manpower reagiert werden. Dies wäre<br />
einfacher, würden beide Verfahrensgegenstände<br />
innerhalb derselben Gerichtsbarkeit<br />
verhandelt.<br />
Dem kann auch nur begrenzt die<br />
fehlende Sachkenntnis entgegengehalten<br />
werden, die Notwendigkeit der Einarbeitung<br />
in eine fremde Rechtsmaterie.<br />
Warum soll der (übliche) Wechsel<br />
vom Miet- über das Straf- zum Erboder<br />
Handelsrecht möglich sein, nicht<br />
aber der vom Sielbeitrags- zum Grundsteuer-<br />
oder Rentenrecht? Noch weiter:<br />
eine Einarbeitung in neues materielles<br />
Recht ist angesichts der Aktivitäten der<br />
Gesetzgeber auf nationaler und europäischer<br />
Ebene ständig erforderlich8 .<br />
Schließlich: Bereits jetzt gibt es erhebliche<br />
Überschneidungen in den Rechtsbereichen,<br />
Sozial(hilfe)- und Sozialversicherungsrecht<br />
sind im Einzelfall oft<br />
kaum abgrenzbar und bedienen sich<br />
beide des SGB X als Verwaltungsverfahrensregelung.<br />
So wird auch die Bürgerfreundlichkeit<br />
einer Zusammenlegung deutlich,<br />
denn die Wahl des Rechtswegs wird<br />
erheblich erleichtert. Dies ist besonders<br />
bedeutsam, weil in der ersten Instanz<br />
kein Anwaltszwang besteht und<br />
oft ohne solchen geklagt wird. Aber<br />
auch anwaltliche Fehlberatungen<br />
können insoweit nicht mehr vorkommen.<br />
Zu regeln ist natürlich die bisher<br />
noch sehr unterschiedliche Struktur.<br />
Neben der schon erwähnten Zweistufigkeit<br />
FG/BFH gibt es vor allem Differenzen<br />
bei der Besetzung der<br />
Spruchkörper. Beim SG bestehen diese<br />
aus einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen<br />
Richtern, aus Arbeitnehmer-<br />
und -geberlager. Bei VG/FG findet<br />
sich die Besetzung 3/2, oder aber,<br />
deutlich zunehmend, wenn nicht schon<br />
durchweg, der Einzelrichter/entscheidender<br />
Berichterstatter 9 (jeweils § 6<br />
VwGO/FGO, § 87 a VwGO, § 79 a<br />
MN<br />
FGO) ohne Ehrenamtliche. Die Senate<br />
des OVG entscheiden fast nur noch im<br />
Beschlusswege und damit auch nur<br />
durch die Berufsrichter. Die Mitwirkung<br />
von Ehrenamtlichen steht damit<br />
grundsätzlich in Frage, unabhängig<br />
von ihrer Sinnhaftigkeit angesichts zunehmend<br />
komplexer Rechtsfragen. Insoweit<br />
ist eine Angleichung also wohl<br />
ohnehin überfällig und dürfte nicht<br />
allzu problematisch werden. Bei den<br />
Zivilgerichten gibt es schließlich ebenfalls<br />
Kammern mit und ohne Ehrenamtliche<br />
(„Handelsrichter“).<br />
Die zweite Tatsacheninstanz könnte<br />
dann auch in der Theorie abgeschafft<br />
werden. Praktisch hat sie kaum noch<br />
Bedeutung, jedenfalls bei VG/OVG,<br />
und es besteht nach allgemeiner Meinung<br />
auch kein Anspruch auf mehrere<br />
gerichtliche Prüfungen (Art. 19 Abs. 4<br />
GG, Art. 6 EMRK, Art. 47 EU-<br />
Grundrechtecharta). In Ländern mit<br />
mehreren erstinstanzlichen Gerichten<br />
kommt zumindest dem OVG auch<br />
noch die Aufgabe zu, das Landesrecht<br />
einheitlich auszulegen. Auch der Einwand,<br />
der gesetzliche Richter<br />
(Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) könne nicht<br />
mehr präzise bestimmt werden, verfängt<br />
nicht. Die Zuweisung an einen<br />
Gerichtszweig wäre vielmehr eindeutiger<br />
möglich.<br />
Die notwendigen Angleichungen<br />
im Verfahrensrecht von VwGO/SGG/<br />
FGO stellen heute kaum noch eine<br />
ernsthafte Herausforderung dar, sie<br />
sind oft schon in den verschiedenen<br />
„Reform“-Gesetzen erfolgt. Effizienz,<br />
Effektivität und Transparenz dürfen<br />
unbegrenzt verbessert werden.<br />
Rechtsanwalt Hans Arno Petzold,<br />
Hamburg<br />
1 S. schon Verf. in MHR 4/1999, S. 28 (www.richter<br />
verein.de).<br />
2 Die Rede ist auf der Internet-Seite des DRB<br />
(www.drb.de) nachzulesen; vgl. auch NJW-aktuell,<br />
Heft 40/2003, S. XII.<br />
3 Pressemeldung Nr. 77/03 v. 24. September 2003,<br />
http://www.bmj.bund.de; vgl. auch NJW-aktuell,<br />
Heft 42/2003, S. XII und Heft 44/2003, S. XII.<br />
4 http://www.jura.uni-sb.de/JuMiKo/jumiko_nov03/<br />
TOP-C.II.3.htm, http://www.justiz.nrw.de/JM/justiz<br />
politik/jumiko/herbstkonferenz03/c_verschiedenes/<br />
C_II_3. html, s. dazu auch das Presse-Echo auf<br />
der Seite www.richterverein.de.<br />
5 Vgl. auch Art. 95 Abs. 1 GG, der natürlich anzupassen<br />
wäre.<br />
6 Zypries, Fn. 2.<br />
7AaO.<br />
8 Vgl. dazu auch die Veranstaltungsberichte „Europarecht<br />
in der Praxis“ in MHR<br />
(www.richterverein.de).<br />
9 Vgl. dazu NJW-aktuell, Heft 43/2003, S. X und<br />
Presseinformation 124/2003 des Hess. JM vom<br />
26.09.2003, http://www.justiz.hessen.de – Presse.