SOCIETY 377
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SOCIETY
Der Westbalkan und die EU -
Die unendliche Geschichte
SOCIETY-Gastautor Christian Wehrschütz analysiert in seinem
Beitrag den schwierigen Prozess der EU-Beitrittsverhandlungen der
Länder des ehemaligen Jugoslawiens.
„Je südlicher, desto trauriger“ lautet
eine wenig schmeichelhafte Redensart
im ehemaligen Jugoslawien. Auf
den Beitrittsprozess des ehemaligen
Jugoslawiens und Albaniens trifft dieses
Sprichwort jedenfalls zu. Spötter
haben dabei das Wort „Prozess“ als ein
Verfahren bezeichnet, dessen Ende
ungewiss ist, obwohl beim EU-Gipfel
von Thessaloniki im Jahre 2003 Albanien
und allen jugoslawischen Nachfolgestaaten
zugesagt wurde, dass sie
eine Beitrittsperspektive haben, wenn
sie die sogenannten Kopenhagener
Kriterien erfüllen, das sind Demokratie,
Rechtsstaat und Marktwirtschaft.
Damals, 2003, stand nur Slowenien
unmittelbar vor der Aufnahme in
die EU, die schließlich nach nur vier
Jahren konkreter Verhandlungen gemeinsam
mit weiteren neun Staaten
im Mai 2004 erfolgte.
ORF-Balkan- und Ukrainekorrespondent Mag.
Christian Wehrschütz
Weit größere Probleme – auch mit
Slowenien – hatte bereits Kroatien.
Schließlich trat Kroatien als bisher letztes
Land des ehemaligen Jugoslawiens
nach fast acht Jahren Verhandlungen
im Sommer 2013 der EU bei. Davor
lagen die Aufnahmen von Bulgarien
und Rumänien im Jahre 2007 und die
internationale Finanzkrise des Jahres
2009. Die Kriterien wurden bei den
Kapiteln Rechtsstaat und Grundrechte
schärfer, die Erweiterungsmüdigkeit
war schon im Falle Kroatiens spürbar;
durch Migrationskrise und Brexit wurde
die Unlust noch größer, und die mittelfristigen
Auswirkungen der Corona-Krise
sind noch nicht absehbar.
EU-Beitrittsgespräche sind ein komplizierter
Prozess; er hängt vom innenpolitischen
Zustand des Beitrittswerbers,
von seinen Nachbarschaftsproblemen,
von der Aufarbeitung seiner Rolle
in den Zerfallskriegen des ehemaligen
Jugoslawiens sowie vom Zustand der
EU und ihrer Mitglieder ab. Ein gutes
Beispiel dafür bietet Mazedonien, das
unter diesem Namen im Dezember
2005 den Status eines Beitrittskandidaten
erhielt. Doch erst die Beilegung
des Namensstreits mit Griechenland
im Juni 2018 änderte die Lage. Doch
die konkrete Aufnahme von Verhandlungen
scheiterte trotz klarer Zusagen
am Veto Frankreichs; erst nach Änderung
des Gesprächsmodus und am
Höhepunkt der Corona-Krise im März
2020, als auch die innenpolitischen Erweiterungsgegner
andere Prioritäten
hatten, wurde der Beginn von Beitrittsgesprächen
mit Nordmazedonien und
Albanien beschlossen. Während Serbien
noch zögert, ob es diesen Modus
übernehmen soll, hat sich Montenegro
bereits dazu entschieden.
Die Verhandlungen mit diesen beiden
Staaten verlaufen im Schneckentempo;
nach etwa acht Jahren hat Montenegro
bis auf eines der 33 Kapitel alle
eröffnet, aber nur drei vorläufig geschlossen.
Im Falle Serbiens sind zwei
geschlossen und 18 Kapitel eröffnet,
wobei das ungelöste Kosovo-Problem
die Gespräche zusätzlich erschwert.
Hinzu kommt, dass fünf EU-Mitglieder
die Unabhängigkeit des Kosovo
ebenfalls nicht anerkannt haben, der
ebenso wie Bosnien und Herzegowina
– aber aus teilweise unterschiedlichen
Gründen – zu den Schlusslichtern im
Integrationsprozess zählt. Klar sind
somit nur zwei Fakten: eine zeitlich
realistische Beitrittsperspektive gibt
es nicht, aber auch keine Alternative
für die Beitrittswerber; denn die EU
ist der wichtigste Faktor der Modernisierung
dieser Staaten und auch ihr
wichtigster Handelspartner. Doch je
länger die Gespräche dauern, desto
größer wird auch die – durch Corona
wohl zeitweise gebremste – Auswanderung
aus diesen Ländern werden,
von denen bereits viele die negativen
Folgen spüren, die eine Überalterung
der Bevölkerung mit sich bringt; doch
wie heißt es so schön: „Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben.“
Text von Mag. Christian Wehrschütz
Foto: ORF
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