HUK 329 Juli 2020
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Stadtgespräch<br />
Früchte reifen dort nur noch, wenn<br />
Menschen die Insektenarbeit übernehmen:<br />
In Obstbaumplantagen betupfen<br />
sie mit kleinen Pinselchen bewaffnet<br />
Blüte für Blüte mit Pollen.<br />
„Wie viel nach dieser Methode in<br />
Deutschland ein Kilo Kirschen kosten<br />
würde, können Sie sich vorstellen“, sagt<br />
Konrad Ellegast. Seit 40 Jahren ist der<br />
80-Jährige Imker. Eigentlich, weil sein<br />
Sohn als kleiner Junge unbedingt Honigbienen<br />
haben wollte. „Irgendwann<br />
wurde er böse gestochen. Danach hatte<br />
er die Nase voll“, erzählt er. Ellegast<br />
selbst war dagegen so fasziniert von den<br />
Tieren, dass er dem Hobby treu geblieben<br />
ist. Der Bienenfan wurde Kuratoriumsmitglied<br />
der Deutschen Wildtier<br />
Stiftung, und er hat sowohl den Dokumentarfilm<br />
gesehen als auch die Studie<br />
gelesen. Danach war ihm gleich klar:<br />
Das Thema Insektensterben ist „so relevant<br />
wie der Klimawandel“.<br />
Ellegast ist kein Öko, entsprechend<br />
hält er nichts davon, die gesamte Landwirtschaft<br />
auf ökologischen Anbau umzustellen.<br />
Aber „fünf Prozent seiner<br />
Ackerfläche kann jeder Landwirt abzwacken“<br />
und als Bienenwiese anlegen.<br />
So könne ein Netz verteilt über ganz<br />
Deutschland entstehen, möglichst engmaschig,<br />
denn „die Biester fliegen maximal<br />
zwei, drei Kilometer. Es nützt nichts,<br />
Was die Wissenschaft sagt<br />
Für eine Langzeitstudie hat der Entomologische Verein Krefeld zwischen 1989<br />
und 2014 an 88 Standorten in Nordrhein-Westfalen Insektenfallen aufgestellt.<br />
Die darin gesammelten Fluginsekten wurden bestimmt und die Masse aller<br />
Tiere gewogen. Dabei wurde ein Rückgang des Bestandes um 75 Prozent festgestellt,<br />
allein 60 Prozent der im Großraum Krefeld einst heimischen Hummelarten<br />
gelten als ausgestorben. Weitere Infos: www.huklink.de/insektenstudie<br />
Die Studie ist bis heute die einzige wirklich wissenschaftliche Untersuchung,<br />
die das Insektensterben nachweist und die industrielle Landwirtschaft als<br />
Hauptverursacher ermittelt, sagt Dr. Andreas Kinser, stellvertretender Leiter für<br />
Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Es sei aber plausibel,<br />
dass die Ergebnisse auf das Bundesgebiet übertragbar sind. Derzeit laufen<br />
weitere Studien zum Thema. Weitere Infos: www.deutschewildtierstiftung.de<br />
Mehr zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union:<br />
www.huklink.de/EU-agrarfoerderung<br />
hier in Oetjendorf etwas zu machen und<br />
dann erst wieder in Niedersachsen“, sagt<br />
Ellegast. Weil der einstige Vorstandsvorsitzende<br />
der Phoenix AG ein wirtschaftlich<br />
und strategisch denkender Mann ist,<br />
erwartet er nicht, dass die Landwirte<br />
Spendierhosen tragen: „Der fehlende<br />
Ertrag muss kompensiert werden“, sagt<br />
er. „Egal ob von Privatleuten, Stiftungen<br />
oder am besten dem Staat.“ Und um zu<br />
zeigen, wie es funktionieren kann, startete<br />
Ellegast ein Projekt – zusammen mit<br />
der Deutschen Wildtier Stiftung, dem<br />
Rotary Club Ahrensburg und Marktfruchtbauer<br />
Daniel Schulz. Das ferne<br />
Ziel: Mithilfe der Rotary Clubs, die es<br />
weltweit gibt, soll das Projekt national<br />
und international bekannt werden und<br />
Nachahmer finden.<br />
Der junge Landwirt Schulz war sofort<br />
bereit, seinen Acker für zunächst<br />
sechs Jahre in eine Blühwiese umzuwandeln.<br />
Für ihn ist es aber auch eine<br />
reine Win-win-Situation, denn Rotary<br />
zahlt ihm weit mehr als es die EU täte,<br />
wenn der Landwirt eine Fläche nachhaltig<br />
und umweltschonend bewirtschaftet<br />
(zweite Säule der Gemeinsamen<br />
EU-Agrarpolitik). „Da verdiene<br />
ich mehr, wenn ich Weizen anbaue“,<br />
sagt Daniel Schulz. Rotary gleicht das<br />
aus. Zusätzlich entfällt das Risiko eines<br />
Ernteausfalls zum Beispiel durch Dürre<br />
oder Sturm. Und weniger Arbeit machen<br />
die Blumen obendrein: Düngen<br />
und Spritzen ist verboten. Nur einmal<br />
im Frühjahr wird gemäht und jedes<br />
Jahr frisch gesät: „Sonst setzen sich bestimmte<br />
Kräuter durch und dann gibt’s<br />
einen Einheitsbrei“, erklärt Konrad Ellegast.<br />
Von Mai bis Oktober muss es<br />
„Insektensterben<br />
ist so relevant<br />
wie der<br />
Klimawandel.“<br />
INITIATOR KONRAD ELLEGAST<br />
kunterbunt blühen, denn die Tiere<br />
durchlaufen zu unterschiedlichen Zeiten<br />
ihre jeweiligen Entwicklungsstadien,<br />
vom Ei über Larve und Puppe bis<br />
zum erwachsenen Insekt. Da muss der<br />
Tisch reich gedeckt sein.<br />
Die Blumenwiese gedeiht nun<br />
schon im dritten Jahr. Und es schaut gut<br />
aus für die Insektenwelt. Ein Wildbienenhotel,<br />
das der Ex-Manager am<br />
Rand des Feldes aufgestellt hat, war im<br />
ersten Jahr nur mäßig belegt. Im zweiten<br />
waren schon rund 40 Prozent der<br />
Schilfröhren und Bohrlöcher in Holzscheiben<br />
versiegelt. Konrad Ellegast,<br />
der Rotary Club und Daniel Schulz<br />
sind so ein gutes Team, dass in diesem<br />
Jahr eine zweite Blühwiese mit 34.000<br />
Quadratmetern entstehen konnte – als<br />
Sponsoren gewannen sie zusätzlich das<br />
Fahrgastunternehmen Free Now. „Was<br />
gibt es Schöneres, als so eine Bienenweide<br />
vor der Tür zu haben?“, fragt der<br />
Landwirt. Und fügt hinzu: „Es wäre<br />
doch toll, wenn sich hier Nützlinge entwickeln,<br />
die auf das Weizenfeld gehen<br />
und die Schädlinge bekämpfen. Denn<br />
am liebsten würde man auf Pflanzenschutzmittel<br />
ja ganz verzichten – wenn<br />
es was anders gäbe.“ Vielleicht klappt<br />
das ja. •<br />
Kontakt: annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />
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