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HUK 329 Juli 2020

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Hamburger<br />

Geschichte(n)<br />

#4<br />

Kunzt&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Weil sie keine Läden betreiben durften, boten<br />

jüdische Händler*innen ihre Waren unter freiem<br />

Himmel an. In der heutigen Neanderstraße ist<br />

vom damaligen Trubel nichts mehr zu spüren.<br />

Der jüdische Markt<br />

in der Neustadt<br />

Prachtvolle Kaufmannsfassaden lassen vermuten, dass in der<br />

Neanderstraße einst reiche Leute lebten. Stimmt nicht –<br />

nur ist die Geschichte der Armen dort kaum noch zu sehen.<br />

Wer das Flair des alten Hamburgs liebt,<br />

kommt um die Neustadt nicht herum.<br />

Spurensucher Jürgen Jobsen wohnt sogar<br />

mittendrin. „Als ich zum ersten Mal<br />

herkam, dachte ich: ‚Dass es so etwas<br />

noch in Hamburg gibt!‘“, schwärmt der<br />

Hinz&Kunzt-Mitarbeiter beim Spaziergang<br />

durch die Neanderstraße und<br />

die Peterstraße, die von prächtigen<br />

Häuserfronten gesäumt werden. Dabei<br />

ist einiges hier sprichwörtlich Fassade.<br />

Erst in den 1960er-Jahren ließ der Stifter<br />

und Mäzen Alfred C. Toepfer die<br />

Kulisse entstehen, die Historiker*innen<br />

bisweilen als „Disneyland“ belächeln.<br />

Ästhet Jürgen stört das nicht. Immerhin<br />

imitierten Toepfers Bauleute die Fassaden<br />

von Kaufmannshäusern, die es an<br />

anderer Stelle tatsächlich einmal gab –<br />

bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts<br />

planiert wurden, um Raum zu schaffen<br />

für den Freihafen. „Ich befürworte das<br />

inzwischen, dass man sich zumindest<br />

nach außen hin an das Alte hält“, sagt<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: HAMBURG BILDARCHIV,<br />

ANDREAS HORNOFF<br />

Jürgen. „Besser als gar nichts.“ Was ihn<br />

dagegen massiv stört: Vor lauter Pracht<br />

ist kaum mehr etwas wiederzufinden<br />

von der tatsächlichen Geschichte des<br />

Viertels. Denn in und um die heutige<br />

Neanderstraße lebten vor allem arme<br />

Jüdinnen und Juden, die hier täglich<br />

Markt hielten. Diskriminierende Gesetze<br />

verboten ihnen, Ladengeschäfte zu<br />

führen – also wichen sie mit Handkarren<br />

und Ständen auf die Straße aus<br />

und verkauften, was sie verkaufen durften:<br />

Importware, gebrauchte Kleidung,<br />

Möbel und Bücher. „Hier hat jeden Tag<br />

das Leben stattgefunden“, sagt Jürgen.<br />

Der Markt war so beliebt, dass selbst<br />

nach Einführung der Gewerbefreiheit<br />

im Jahr 1846 noch auf den Straßen der<br />

Neustadt gefeilscht wurde. Erst 1925<br />

verbot die Polizei das quirlige Treiben.<br />

Begründung: zu viel Autoverkehr.<br />

Wer sich heute noch für die sogenannte<br />

Judenbörse interessiert, findet in<br />

den Straßen kaum Spuren. „Ich kenne<br />

hier keine Tafel, die darauf hinweist“,<br />

sagt Jürgen. Er selbst stieß zufällig beim<br />

Recherchieren auf den Markt, als er einem<br />

anderen Thema auf der Spur war.<br />

Dass über die jüdische Geschichte<br />

seiner Nachbarschaft hinweggetäuscht<br />

wird, macht Jürgen auch am Straßennamen<br />

fest: „Neanderstraße“ – ihm<br />

fällt dazu als erstes der Neandertaler<br />

ein. Sollte mit der Umbenennung 1948<br />

an den berühmten Urmenschen erinnert<br />

werden, dessen Knochen erstmals<br />

in Deutschland gefunden wurden? Andere<br />

Quellen führen den Namen auf<br />

einen Kirchenmann zurück: August<br />

Neander. Der 1789 geborene Sohn jüdischer<br />

Kaufleute ließ sich in Hamburg<br />

evangelisch taufen. „Ich finde das fragwürdig,<br />

die Straße nach einem Juden<br />

zu benennen, der zum Christentum<br />

konvertiert ist“, sagt Jürgen. Wenn<br />

schon ein neues Schild, dann hätte<br />

es seiner Meinung nach eine gut sichtbare<br />

Gedenktafel sein sollen – zur Erinnerung<br />

an die einfachen jüdischen<br />

Straßenhändler*innen. •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Jürgen Jobsen (64)<br />

war früher<br />

Hinz&Künztler und<br />

arbeitet seit Jahren im<br />

Vertrieb.<br />

Rätselfrage:<br />

Wie hieß die Neanderstraße, als dort<br />

noch Markt gehalten wurde?<br />

Schreiben Sie uns (siehe rechts)!<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />

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