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Blogtexte2019

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Wir sind noch selbst die Natur

Jul 24, 2019

Nordkirche: Erstmals weniger als zwei Millionen

Mitglieder, Schenefelder Tageblatt

vom Sonnabend, 20. Juli 2019 – „Wofür der

christliche Glaube steht, ist für viele Menschen

nicht mehr verständlich“, sagte gestern

die Landesbischöfin (…), Kristina Kühnbaum-

Schmidt, heißt es dort.

Das liegt wohl daran, dass die Kirche sich als

eine soziale Institution unter vielen anderen

zeigt. Ist Religion grundsätzlich sozial, also

an erster Stelle gemeinschaftlich zu begreifen,

wir sind die Weltbessermacher? Oder

sollte die Kirche nicht idealerweise auf den

einzelnen Gläubigen (innerhalb der anderen)

schauen, dem Menschen Orientierung sein,

einen guten Weg als Möglichkeit aufzeigen?

Wenn suggeriert wird, es sei bereits durch

die Mitgliedschaft belegt, der Gemeinschaft

der guten oder sogar besseren Menschen

anzugehören, kann dieser hohe Anspruch

leicht verfehlt werden. Wenn sich die Kirche

mit sozialen Hilfsorganisationen gleichstellt,

gerät sie in die bekannten Probleme solcher

Institutionen. Besinnt sie sich stattdessen

auf ihre eigenen Werte, nämlich Menschen

in eine verbesserte Welt erst hinführen zu

wollen, muss diese Gemeinschaft nicht fertig

oder perfekt sein. Das hieße Schwäche innerhalb

der Kirche zuzulassen. Eine quasi offene

Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft.

Wenn Pastoren und Priester annehmen, als

Hirte nur den weißen Schafen vorzustehen,

bilden die anderen außerhalb eben eine größer

werdende eigene Herde aus, und die ist

möglicherweise nicht einmal schwarz, sondern

bunter und vielfältiger.

Viele Menschen (und nicht die schlechtesten)

sind da, die sagen: Wir können gut und

menschlich sein, auch ohne die Rituale einer

Kirche, und die beweisen es uns Tag für Tag

so nebenbei. Sie tragen die Gesellschaft ohne

viel Aufhebens. Sie treten für sich ein, machen

ihren Weg, helfen unspektakulär wenn es mal

passt. Dafür benötigen sie kein Ehrenamt. Es

ist ihr Selbstverständnis abzugeben, wenn es

noch für andere langt. Sie geben dem Bettler,

nehmen ihn aber nicht mit in ihr Haus. Sie

öffnen sich, und setzen doch eine Grenze, sie

sind gesund. Wir folgen ihnen gern, sie sind

in der Kirche, sie sind nicht in der Kirche, das

ist nicht wichtig. Auf der anderen Seite gibt

es Menschen, die krank werden am Anspruch

kirchlicher Gebote. Sie beten, sie missionieren

uns, sie nerven – sie sind erkennbar nicht

gesund. Es ist eine Wahrheit, dass manche

besser dran sind, die überkommene Glaubensdogmen

ablegen konnten. Vielleicht

tut uns eine schlanke Kirche sogar gut? Gott

selbst kann niemand abschaffen, wenn er um

uns herum wahrhaftig da ist. Lassen wir es

doch drauf ankommen!

Wir finden immer wieder neue, machtorientierte

Bosse ohne Skrupel, die innerhalb

der Gesellschaft wirtschaftlich kraftvoll aufsteigen.

Es gibt wohl schon Menschen, die

sich deutlich über das Gesetz stellen und

dennoch mehr und mehr Macht um sich

versammeln können. Jedenfalls ist das eine

Annahme, die durch zahlreiche Skandale in

Wirtschaft und Politik immer wieder neue

Nahrung erhält. Wenn die christliche Predigt

diese Leute nicht sozial mäßigen kann und

eher durchsetzungsarme Mitglieder eine

Glaubensgemeinschaft bilden, entsteht das

Bild einer schwachen Kirche. Das wäre eine

Gemeinschaft der Ohnmächtigen. Die Bibel

zeichnet ein anderes Bild. Der Gläubige

scheint dort auch unterlegen in schwierigen

Lagen und gewinnt erst allmählich innere

Stärke, kommt gerade durch Zweifel, Skrupel

und eigene Fehler zu einem besseren Selbst.

Vielleicht muss der moderne Gott suchende

Mensch akzeptieren, dass es Zeitgenossen

gibt, die ihn scheinbar mühelos beiseite

drücken und feist-zufrieden konsumieren?

Das sieht nach frechem Glück aus! Wer ohne

Glaube befriedigend leben kann, ist besser

dran, als ein Mensch, der glaubt Ansprüchen

genügen zu müssen, an denen schon einige

zerbrochen sind. Wir wollen doch nicht feist

und frech sein, wir wollen nicht gemobbt und

verarscht werden. Das ist eine Herausforderung:

Wer lernte anderen wehzutun, als das

Ergebnis der Überlegung, ich kann jetzt auch

tun wie die anderen, erlebt Befriedigung

darin nur, wenn er den Hass grundsätzlich

kultiviert. Muss zulassen, alle Sensibilität gegenüber

der früher selbstverständlichen Empathie

zu vergessen, als wäre eine Denkweise

ausgestorben, wie eine Tiergattung auf unserem

Planeten. Das faszinierende, sich selbst

in diese Richtung gehen zu lassen, ist den

Punkt innerer Umkehr zu bemerken – etwa,

wie ein frustrierter Ehepartner in langjähriger

Ehe nach einiger Zeit bemerkt, dass sein

Maulen nun nicht mehr nützt. Wenn der Rat

darin bestünde, nutze deine Ellbogen ohne

Gewissen, und es dazu keine Alternative gibt,

dann wäre die Welt ein Spielball der Asozialen.

Das ist sie aber noch nie gewesen.

Glaube kann frei machen, und dafür muss die

Kirche offen bleiben, mutig gegenüber sinkenden

Mitgliederzahlen, sich auf den Kern

ihres Wesens besinnen. Jesus Christus, dieser

langhaarige Spinner (so wie wir es von den

Gemälden kennen), dieser Aufrührer damals

in Jerusalem (nicht wenige werden ihn so

gesehen haben), den der Mob angeklagt und

schließlich angenagelt hat, unser Messias!

– der war anders. Er stand vor dem Tempel,

nicht auf der Kanzel drinnen, er mauerte sich

keinen Dom; er hat solange geredet, gepredigt,

bis einige genug hatten. Der hatte zum

Schluss nicht nur sinkende Mitgliederzahlen,

der hatte so viele „Daumen runter“, dass er

gekreuzigt wurde und starb.

Das wirkt bis heute nach.

Da sind wohl einige, die nicht glauben wollen,

dass der Heiland anschließend noch herumspazierte,

schließlich locker und zufrieden

angesichts seines Gesamtkunstwerks mit Vaters

Gnade in den Himmel aufgefahren ist.

Allein die Beschreibungen der letzten Tage

und Stunden im Leben vom Mann aus Nazareth,

regen bis heute immer wieder dazu an,

dargestellt zu werden. Im Film oder durch die

wiederholten Lesungen in den Kirchen. Es erschüttert

noch immer. Das ist der Mensch!

Vielfältig motivierte Demonstranten, wie

auch die zur Kirche gehörenden Bischöfe,

zeigen sich solidarisch mit den Rettern der

Flüchtlinge im Mittelmeer. Sie ziehen sich

eine leuchtend rote Schwimmweste über.

Hilft uns das? Das kann auch eine locker umgehängte

Maske sein, denn wir selbst bleiben

ja sicher an Land dabei. In Italien leben

Menschen. Irritierend ist das dünne, leicht

als fadenscheinig erkennbare Mäntelchen,

mit dem sich selbst für gut und besser Erklärende

gern behängen. In den verschiedenen

Leitungsämtern der Politik und den Kirchen

(manchmal) und natürlich überall in den Medien,

wenn wegen „irgendwas“ ein Aufschrei

durch die Nation geht. Wie an jedem Stammtisch.

Eine gute Predigt muss kreativ stark

sein, nicht nur im Chor harmonieren: Ich bin

auch dafür, wo die dagegen sind, und aus sicherer

Distanz leicht mal „dabei“ mitschwimmen-

und schwingen.

Jesus Christus gab sich ganz und gar hin, er

verkörperte seine Mahnung so sehr, dass er

zum Opfer der Welt um ihn herum wurde.

Er wich der persönlichen Gefahr nicht aus,

sprang quasi selbst ins Meer, um die Menschen

da heraus zu fischen. Und um bei diesem

Bild zu bleiben, weil es zum Weiterdenken

animiert und wir es in die heutige Zeit

projizieren können: Jesus fischte Menschen,

und da waren auch aggressive, wie gefährlich

zuschnappende Haie dabei. Es stimmt, dass

andere schuld sind. Aber wir sind selbst doch

auch die anderen, bitte. Was auch immer

ungerechtes weltweit medial uns erreicht,

reflexartig reagiert eine breite Palette sozial

sich engagierender Menschen. Das rote

Kreuz, die Seawatch, Greenpeace, der weiße

Ring, die Gewerkschaften und die großen Kirchen,

sie unterscheiden sich marginal. Etwa

wie die „guten“ Parteien in der Politik, bei

denen derzeit die grüne Farbe im Trend vorn

liegt. Konkurrieren evangelische und katholische

Kirche, wie SPD und Linkspartei, ist Gott

rot, schwarz oder grün?

Das Problem: Jede Organisation trägt das

Risiko in sich, innerhalb des Systems auch

Fehler zu machen, z.B. Korruption oder Missbrauch,

Ausbeutung der Mitarbeiter, während

man nach außen hin zu den sich für gut erklärenden

Personen gehört. Sind Menschen die

an Gott glauben nur eine Organisation, wie

jede andere Firma und Verein oder verbindet

sie der Glaube und deswegen eine innere

Stärke, die durch die Kirche lediglich einen

Rahmen findet, zum Gebet mit anderen? Die

feste Burg, das ist doch nicht das gemauerte

Gotteshaus. Die Kirche: Ein Vereinshaus, das

soll das nur sein?

Im Spiegel der Welt: Gerade hier könnte die

Kirche sich als von Gott beauftragt unterscheiden.

Sie könnte sich profilieren, im für

sie einzigartig möglichen Unterschied zu jeder

beliebigen sozialen Institution, dadurch,

dass sie sich nicht als eine weitere Polizei

präsentiert. Anprangern kann jeder. Gott vergibt

dir, aber seine Kirche nicht? Der Missbrauchsskandal

in der katholischen Kirche

wird nie befriedigend geklärt werden und

die Opfer werden nie gebührend gewürdigt

und nichts davon wird je umfassend wieder

gut gemacht werden. Das geht gar nicht. Und

nach dem Missbrauch wird immer vor dem

Missbrauch sein.

Jede Schule, Kindergarten, Sportverein und

Kirche, werden immer der Ort sein, wo Menschen

ausgenutzt, vergewaltigt werden. Jede

Psychiatrie birgt das als eine reale Gefahr in

sich. Alle sozialen Vereine für jungen Menschen,

Pfadpfinder, Jugendtreffs. Die Orte,

wo Jugendlichen ohne Orientierung oder die

bereits Opfer von Gewalt geworden sind, geholfen

werden soll, sind zugleich die Anlaufpunkte

für Erwachsene mit dem zwanghaften

Wunsch, sexuelle Macht auszuüben. Das

nährt jede Institution bedrohlich in sich, wie

Unkraut im Garten, ein Aspekt der menschlichen

Natur (wie ja auch immer neue Kriege

losbrechen). Das ist unabhängig von Glaube

Jul 24, 2019 - Wir sind noch selbst die Natur 13 [Seite 13 bis 16]

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