21.01.2021 Aufrufe

Blogtexte2019

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

„Wir schaffen das!“

Aug 5, 2019

Nicht zittern: „Alles Leben ist Problemlösen“,

Karl Popper. In großer Klammer vereint der

Philosoph das menschliche mit jeder anderen

Form des Lebens. Wir müssen nur einen

Tierfilm ansehen, um zu verstehen. Irgend ein

strubbeliges Wesen steckt die Nase aus dem

Loch, baut am Nest rum, wuselt geschäftig

um die Höhle, man kennt das. Vielleicht wird

Nachwuchs versorgt. Eventuell kommt eine

böse andere Gattung daher und schafft echte

Probleme, Kampf und Tod.

Lösen wir Probleme oder schaffen wir Probleme,

die wir lösen müssen?

Das Tier löst natürliche Probleme, die ihm

eigene Bedürfnisse und eine vorgegebene

Umgebung auftragen. Da der Mensch Natur

durch soziale Struktur ersetzt, entsteht eine

neue Situation. Das ist in vielen Bereichen

Realität. Anstelle den Schwierigkeiten durch

Wetter, Jagd und anderen äußeren Problemen

großer Natur, die ein Urmensch in geringer

Stammesgröße lebend, vordringlich meistern

musste, haben wir die Umgebung selbst

geformt. Je nachdem, zivilisiert im Bereich

integrierter Gesellschaft oder verdreckt im

Drogensumpf eines Slums, von allgegenwärtiger

aber machtloser Polizei wie im Krieg

gefangen. Ein sozialisiertes Dasein, eine Sozialnatur,

eine künstliche Umgebung. Wir leben

nicht vereinzelt hier und da einer im Wald.

Unsere Natur ist enges aufeinander hocken

mit anderen, die Natur ist vielen nur ein Park.

Landmarken, Berührungspunkte, natürliche

Widerstände? Die Bäume links und rechts,

das sind wir nun selbst. Dennoch scheint es

ja gerade die altmodisch echte Natur zu sein,

die uns im Klimawandel entgleitet. Wir beginnen,

das zu bemerken.

Die Natur kommt zurück.

Im heftigen Wetter und in der Person des afrikanischen

Flüchtlings gleichermaßen. „Wir

schaffen das?“, dieser Satz der Kanzlerin hat

polarisiert – warum? Es sind die, die unsere

Realität verdrängen, sie regen sich auf. Aber:

Wir ziehen die Grenzen wieder deutlicher.

Haben wir eine Wahl – wir vermehren unsere

Spezies jeden Tag, läuft deswegen unsere

Zeit ab? Der Urmensch hatte keine Uhr.

Ist der Mensch von Natur aus gesund, im

Sinne von kollektiv psychisch auf der Höhe?

Wenn ja, wird das wie selbstverständlich immer

so sein? Kann die Gesellschaft in künstlichen

Rahmenbedingungen ihre natürliche

Gesundheit verspielen, eine Umgebung, die

wenig gemein hat mit dem ursprünglichen

Planeten? Oder findet das menschliche Verhalten

Lösungen für jede denkbare Umgebung?

Was ist gesundes und zielführendes

Problemlösen? Wir mussten schon immer

neu denken. Haben wir kaum steuerbare

Überbevölkerung, und bedeutet das Unvergleichbarkeit

mit früher? Ein neues Problem.

Eines, das alle vereint und deswegen so bisher

nicht vorgekommen ist. Das Miteinander,

unsere gute Seite, wird gern beschworen:

„Frieden schaffen ohne Waffen!“ Wir nutzen

die freundliche Natur, sie ernährt uns. Auf

der anderen Seite, der Mensch verteidigt sich

gegen Naturkatastrophen und seine menschlichen

Feinde. Menschen sind selbst Natur.

Kämpfen wir gegen uns, als eigenen grundsätzlichen

Feind, weil das, was die Natur war,

nur noch ein vermüllter Restplanet ist? Sind

wir schon bald resistent gegen die natürliche

Zersetzung, wie unsere technischen Schöpfungen?

Im günstigsten Fall wächst die

Plastikblume, bewässert durch versauerten

Regen, plötzlich von selbst! Und ist essbar

geworden, weil auch wir zur Kunstfigur mutierten

– in einem evolutionären Sprung, den

niemand vorausgesehen hat: So könnten wir

(mit der Natur) wieder Freunde werden!

Der Mensch hat bewiesen, wie anpassungsfähig

er ist. Er hat sich die Welt bequem umgestaltet.

Wer nicht mag, muss nicht zu Fuß gehen.

Dem Wetter trotzen wir mit einem Haus.

Wir tragen Schuhe und warme Klamotten

gegen jeden Wintersturm. Mehr noch, wir machen

besser Eindruck mit Kleidung, als jeder

Papagei, dem die Natur ordentlich Farbe in

die Federn gegeben hat. Wir machten uns die

Erde untertan! Wir gestalten diese Welt. Wir

drückten ihr den menschlichen Stempel auf,

und einige meinen, wir erdrücken die Erde

dabei. Wir versauen das Klima, versauern das

Meer, alles voll mit Plastik – schließlich erstickt

die Menschheit im eigenen apokalyptischen

Dreck, bevor sie fremde Planeten nach

Bedarf kultivieren kann.

Ein gemeinsames Problem erfordert Klugheit,

aber: Ist dazu der gesunde Menschenverstand

ein Auslaufmodell in einer dekadenten ihrer

Natur entfremdeten Gesellschaft? Erkennen

wir, wie wir sind? Hinschauen! heißt es doch.

Heute sind überall Kameras, jeder kann sich’s

vorstellen: Vor vielen Jahren überlegte ich,

ein Kinderbuch zu machen. Seite für Seite

wollte ich den Bahnsteig einer S-Bahn-Station

zu bestimmten Uhrzeiten abbilden. Da

sind vermutlich um 8 Uhr herum die selben

wartenden Fahrgäste an jedem Tag der Woche

versammelt. Um 9 Uhr wären es andere.

Die wiederkehrenden 9-Uhr-Leute an jedem

Tag. Soziologie für jedermann, wer sind wir?

Eine Freundin hat in einem Geschäft gearbeitet,

im Einkaufszentrum. Der Laden war in

der oberen Ebene, im ersten Stock. Am Weg

vor den Geschäften ist ein Geländer, wie die

Schiffsreling auf dem Kreuzfahrtschiff. Dort

stand meine Bekannte, wenn wenig zu tun

war. Sie schaute runter auf die Menschen, die

im Erdgeschoss shoppen gehen. Wenn ich da

unten vorbei kam, sah hinauf – ich stellte mir

gern vor, im Abfahrtsbereich eines Hafens am

Kai zu sein und sie (zieht gleich ein Taschentuch

hervor, winkt mir noch, fährt ab) steht

oben an Deck. Wir verbrachten Zeit zusammen.

„Es gibt Oben-Leute und es gibt Unten-

Leute“, sie lachte, weil der Spruch mehrdeutig

ist. Sie meinte, wer unten jeden Tag vorbeikommt,

wird kaum mein Kunde. Sie kannte

sich aus. Da gibt es jeden Tag dieselben Menschen

hier – „Manche gehen nie oben.“

Wenn wir eine gesunde Gesellschaft beobachten,

werden wir dasselbe sehen, wie

in diesen Tierfilmen. Die Menschen, die wir

beobachten, lösen Probleme. Sie erfüllen

bekannte Pflichten. Sie gehen der Befriedigung

eines Hobbys nach, und das ist gleichfalls

das Lösen eines Problems: Wie kann ich

mich am Besten erholen? Wenn wir die Beobachtung

ausweiten, nicht nur den Flur im

Einkaufszentrum einen Tag lang anschauen,

sondern das Verhalten von Stadt und Bewohnern

insgesamt erfassen, könnte die Studie

genutzt werden, um Menschen zu verstehen

wie Alien. Was tut der Mensch? Mobbing zum

Beispiel ist Natur. Auch Tiere mobben. Jede

Gesellschaft grenzt aus. Wer dem System suspekt

ist, bekommt Gegenwind. Das Gesunde

der Gesellschaft liegt auch darin, abnormes

Verhalten als krank und eventuell gefährlich

abzusondern, in ein Gefängnis oder die Psychiatrie.

Wir führen eine Gefährderkartei, wir stöhnen

auf, wenn wieder einmal ein bislang unauffälliger

Mensch durchgeknallt ist. Wir hielten

den für so, wie wir uns selbst empfinden,

normal eben. Er hat nicht gestört. Dass der

Attentäter sich durch uns gestört fühlte? Wir

haben das nicht bemerkt. Das steht dem ja

auch nicht zu. So konnten wir übersehen,

was dieser stille unauffällige Typ ausgebrütet

hat. Wer hingegen auffällt, das begreifen

wir schnell: Der hat ’nen Schaden. Können wir

überhaupt einschätzen, wer hier grundsätzlich

krank ist, der gestörte Täter – oder wir

alle, die Gesellschaft insgesamt? Eine verboten

kranke Frage! Aber, wenn umgekehrt wir

kollektiv auf dem falschen Dampfer sind und

wissen das eventuell gar nicht, weil wir uns

aus einem noch zu beschreibenden Grund

nicht mehr als Gesellschaft wirklichkeitsgetreu

sehen können, sollten wir aufmerken

wenn einer auffällt. Dann nämlich wäre gestörtes

Anderssein eine Qualität.

Wie wäre das Bild, das eine kranke Gesellschaft

abgibt? Wir stellen uns das vor: Gewusel,

eine Stadt lebt, arbeitet und tut Dinge,

die Bewohner so tun. Aber das Verhalten ist

grundsätzlich krank, in dem Sinne es nicht

die Probleme der Menschen effizient löst.

Der Einzelne wuselt irrational herum. So eine

Art Ameisenhaufen, der sich dabei dumm anstellt

und allmählich selbst zerstört. Schildbürger,

die Unfug machen. Wie würde eine in

sich kranke Gesellschaft überleben? Und wie

würde eine kranke Gesellschaft über nicht

dazu passende Menschen urteilen? Wenn

eine unmündige Gesellschaft existenzfähig

wäre, dann doch nur als Anteil eines gesamten

Systems, in dem einige übergedeckelt

das Sagen haben und ausserhalb Menschen

ums echte Überleben kämpfen. Wir müssen

nur in die schmutzigsten Slums der Metropolen

schauen: Ein moderner Dschungel, der

dem steinzeitlichen Urwald an Gefährlichkeit

in nichts nachsteht. Wenn die gesamte Erde

zum Irrenhaus mutierte, wer fütterte diese

Menschheit? Im Überlebenskampf erprobte,

einfache Menschen vom Rand, würden die

Oberhand über die gewinnen, denen man

ihre Realität nur dargestellt hat und die daran

glaubten? Es gibt noch Hoffnung.

Die Schildbürger bauten ein Rathaus, sie

vergaßen die Fenster in den Mauern und

versuchten Licht mit Säcken hineinzutragen.

Heutige Patzer städtischer Verwaltungen

reichen nicht an diese Satire heran. Licht

in Säcken tragen, wie massenhaft gerufene

Soldaten, die in einer Notlage Sandsäcke

schleppen damit der Deich nicht bricht? Moderne

Arbeit ist klug: wenige Menschen produzieren

spezialisiert. Wir würden bemerken,

dass Licht nicht die ganze Zeit von einzelnen

Menschen mit Säcken transportiert werden

kann. Wir würden eine Maschine bauen, die

säckeweise Licht ranschafft! Diese Maschine

würden wir umweltfreundlich mit Strom aus

Sonnenlicht antreiben. Wir sind die besten

Schildbürger von heute, bis es noch wieder

bessere gibt. Leistungssteigerung hat die

Klugheit besiegt.

Unsere Wirtschaft ist so, dass das Nachbardorf

einen Apparat baut, der noch mehr Licht

in noch mehr Säcken schneller anschleppt

und deswegen in Konkurrenz zu unseren

Aug 5, 2019 - „Wir schaffen das!“ 17 [Seite 17 bis 20]

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!