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Blogtexte2019

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Nachgeschenkt

Okt 16, 2019

Das Leben ist ein Geschenk. Was kann ich

damit machen? Die Sparkasse hatte diese

Headline für verschiedene Spots: „Jeder

Mensch hat etwas, das ihn antreibt.“ Stimmt

das? Können wir über uns verfügen, wissen

wir, was Wirklichkeit bedeutet oder ist alles

Leben mehr oder weniger Blindflug? Was

macht Menschen im einzelnen aktiv, die

ganze Erde, Heimat und Basis des Lebens,

sich drehen – und wie heftig wäre ein Crash,

wenn eine Wand in der Umlaufbahn errichtet

würde – ein anderer Klotz im All wird falsch

geparkt?

Solange die Erde rast, solange das Leben wuselt

– alles ist in Bewegung. Wer fragt nach

dem Widerstand, wenn es nicht gut läuft,

weiß geschickt umzulenken, wenn der Schuh

drückt, der Rücken schmerzt? Höher springen

als gestern, mehr Geld als der Nachbar verdienen,

eine Liebe perfekt machen? Den Unfall

vermeiden. Wir können nicht beantworten,

warum unser Herz schlägt, aber wir spüren,

wann es Zeit wird zu essen. Wir müssen uns

nicht zum Atmen aufraffen, es geschieht. Das

Herz schlägt, ohne dass wir wissen warum.

Wo gehen wir hin?

Leben ist ein Antrieb, wie ein Motor, der immer

läuft. Wir sind unterwegs, sogar nachts

im Bett. Das Bett rast als Teil der Erde, und

wie an Bord von einem Schiff oder im Wagen

eines schnellen Zuges, können wir die Kabine

zum Deck hin wechseln oder mal in den

Speisewagen des Zuges gehen. Das Tempo

unseres Fahrzeuges ist die Basis von allem.

Wir sollten akzeptieren, dass wir diesen Zug

nicht wechseln können und den Zeitpunkt

der Abreise verlegen. Wir wissen nicht, wann

wir ankommen und wo.

Zunächst werden unsere Eltern bestimmen,

mit welchem Wagen wir fahren. Geschenkt

und nachgeschenkt: „Das Leben ist ein

Traum. Irgendwann wachst du auf“, hat mir

ein Freund gesagt. Chaotische Umgebung

stößt uns herum! Fahren im ruppigen Gelände,

ohne selbst lenken zu können. Ein Traum

mit schnellen Szenenwechseln. Erwachsen

ist erwachen? Der Unterschied besteht nicht

darin, dass Chaos und gestoßen werden ein

Ende hat. Wir sind in gewissem Maße steuerungsfähig:

„Ich gehe mal in den Speisewagen

und trinke ein Bier“, sagen wir, und der

Zug rast weiter.

Wir nehmen an, als kleiner Mensch in einer

großen Welt herumzulaufen, achten kaum

auf die Schwerkraft. Als Baby ist die Sache

durchaus anders. Totale Abhängigkeit, interpretiert

als gefühlte Allmacht. Fehlt was oder

juckt es irgendwo? Schreien genügt – und es

passiert etwas. Wirst du gefüttert und eigentlich

hat’s dich gejuckt, dann beginnst du eben

von Neuem damit, die Mama anzubrüllen. Du

bist immer in der Mitte deiner Welt. Drückt

etwas gegen deinen Hintern, lernst du, dich

auf den Bauch zu drehen. Nach einiger Zeit

drückst du den Boden mit Armen und Beinen

von dir weg. Die Tante nennt es: „Oh, er

krabbelt schon“, aber du weißt nicht, was eine

Tante ist, und dass du im Zimmer unterwegs

bist. Du drückst nur was weg.

Auf diese Weise bewegst du eine ganze Welt,

wie ein Hamster sein Rad dreht. Da ist kein

Boden für dich, es gibt keinen Teppich unten

oder eine Zimmerdecke oben. Das ist das,

was immer drückt, und allein durch drücken

und schieben mit deinen Gliedern, kannst du

einen Tapetenwechsel machen. Auch Mama

drückt dich! Du lernst nun, selbst zu drücken

und stoßen. Leben ist Widerstand, manchmal

mehr, dann wieder weniger. Halte es dir vom

Leib! Schmiege dich an, du bist nicht allein.

Selbstschutz ist leicht, solange Mama kommt.

Oben oder unten, das macht wenig Sinn für

dich. Du weißt, wie weit deine Füße von deinem

Mund entfernt sind. Das hast du schnell

besser verstanden als manche Erwachsene.

Wir kennen Dinge, die wir erledigen müssen:

aufs Klo gehen müssen wir. Wir müssen die

Miete bezahlen und pünktlich sein, wenn

etwas davon abhängt. Zu leben, kann Kampf

darum sein! Wir kennen Vorlieben, Sachen,

denen wir gern nachgehen und manches davon

ist eine Sucht. Es gibt Zeiten, in denen wir

Pflichten ausblenden: genießen, gutes Essen,

Sex – mit Freunden abhängen oder irgend

ein Spiel machen, Sport, nichts existentielles.

Einige lieben die Arbeit.

David Hockney beschreibt, wie er (als Jugendlicher)

bemerkte, dass es Menschen gibt,

Künstler, die nicht im Auftrag ein Werbeschild

(bis nächste Woche) fertigen oder den Hund

der Nachbarin porträtieren, sondern Bilder

für sich selbst malen. Hockney schreibt, als

Kind hätte er angenommen die Bilder im

Museum würden nach Feierabend gemalt,

wenn die Künstler mit ihren Werbeschildern

und Plakaten fertig wären. Das hing damit

zusammen, dass in seiner Nachbarschaft sehr

wohl Menschen anzutreffen waren, die kreativ

arbeiteten: Drucker und Fotografen für die

Dorfzeitung oder der Mann, der die Plakate

für das Theater malte. Die logische Perspektive

für einen talentierten Schüler ist wohl,

sich nach Perspektiven umzusehen: „Was soll

aus dem Jungen werden?“, werden Eltern,

Verwandte gesagt haben. Dazu Lebensweisheiten,

typische Tipps, die nicht gerade eine

Karriere als professioneller Fußballer, Musiker

oder Künstler nahelegen. So sind Eltern.

Hockney muss früh mit eigenem Denken begonnen

haben, sich frei gemacht haben von

dem was gesagt wird. Er begriff bereits zu

Beginn seines Lebens, dass Menschen Geld

verdienen mit Bildern, die nicht im Auftrag

entstanden. Er verstand, Hobby von Kunst zu

unterscheiden. Nachdem er es verinnerlicht

hatte, konnte er individuell arbeiten.

Bei mir war das durchaus anders. Eine Freundin

und ich hatten Anfang der Neunziger in

Chicago die Gelegenheit, Dennis Conner kennenzulernen.

Uli fragte ihn nach dem Spaß

beim Segeln. Das zu tun, was für andere nur

Wochenendvergnügen ist, aber die Antwort

fiel vergleichsweise brutal aus: kein Spaß,

nur Arbeit. Harte Arbeit, wir wären naiv hieß

das. Ich war noch (von uns beiden) besonders

naiv, ich habe mich nicht einmal getraut, ihn

anzusprechen.

Der Blog, es ist wie meine Malerei: Ich schreibe

zunächst für mich selbst. (Schreiben sei

das Sichtbarmachen von Gedanken, sagte

uns Professor Martin Andersch im Studium).

Gegenüber nachwachsenden Künstlern (die

im Kunstunterricht dahingelobt sind), habe

ich auch die Pflicht zu informieren, wie ich

über Malerei denke. Es sollte lohnend sein,

authentische Kenntnisse und das erreichte

Lebensgefühl weiterzugeben, möglichst frei

von der Absicht, alles gut wirken zu lassen.

Was bringt die Beschäftigung mit Kunst,

wenn Anerkennung weniger im Vordergrund

steht, als zu malen an sich?

Um den Eindruck nicht nachvollziehbarer

Überheblichkeit zu entkräften: Ich bin verheiratet,

habe parallel zur Info-Grafik mit Malerei

angefangen, nachdem klar wurde, dass ich

in der Summe verschiedener Einkommen einen

aktiven Hausmann und Papa geben kann.

Meine Eltern beteiligten uns an Mieteinnahmen,

das hat immer geholfen. Geld ist nicht

alles, mache nicht glücklich heißt es, und ich

wäre gern normal durchs Leben gegangen.

Ich möchte davon abraten, mich zu beneiden.

Als junger Erwachsener wurde ich wiederholt

aus der Bahn geworfen, und die Basis meines

Lebens wurde zu ergründen, warum ich

und andere psychisch erkranken. Ich wollte

eine so grundsätzliche Antwort über die verschiedenen

Diagnosen breit hinweg – und

forderte Gesundheit ohne Medikament und

Therapie vom Leben und der Gesellschaft

zurück. Das ist nun gut gelungen. Es hätte

gern schneller gehen können. Ich fand meine

Freunde dort, wo ich es nicht vermutet hätte,

wegweisend, danke! Wenn ich mich berufen

fühle, dann dazu, Erfahrungen hin zu malenund

schreiben.

Dem Arzt genügt die „Begleitung“ des Behandelten.

Er findet es nicht verkehrt, Erkrankte

nur diagnostisch zu beschreiben, wie in der

Biologie verschiedene Arten bezeichnet sind

und übliche Medizin anzuwenden. Er versteht

sich gern als lebenslanger Anleiter für diejenigen,

denen zunächst gar keine Wahl bleibt,

da sie unmöglich normal sein können. Ihnen

diese Möglichkeit zurück zu geben, das ist

ein Ziel, vor dem der Psychiater kapituliert. Er

schafft die Alternative pseudonormaler Zukunft.

Die eigene Wohnung, eine Arbeit, und

dass es zu einer gewissen Anpassung kommt,

die je nach Diagnose und Form typischen

Ausprägungen kranken Verhaltens milder

werden, da geht es hin. Falls die Krankheit

schubweise auftritt, wird angestrebt, dass die

Schübe weniger heftig sind und seltener. Das

sind erfahrungsgemäß erreichbare Ziele, die

das Team, bestehend aus Arzt und Patient, erwarten

kann.

Dass gerade diese pragmatische Haltung,

erreichen zu wollen was typischerweise

gelingen kann, ein Nährboden für weitere

unerwartete psychotische, aggressive oder

depressive Fehlentwicklung ist, die sich zur

Überraschung des Arztes trotz seiner Medikation

und Therapie ereignen, wird er kaum

einsehen wollen. Ein junger Mensch nimmt

nicht an, zum parallelen Leben neben den

normalen anderen, seinen früheren Mitschülern,

bestimmt zu sein. Man erwartet von ihm

lebenslang gepaart mit einem Arzt auszuhalten.

Ein den Eltern nachfolgender Dau-

Okt 16, 2019 - Nachgeschenkt 21 [Seite 21 bis 26]

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