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Obama hat die Hand gewechselt
Dez 31, 2019
Das Bild der Lemminge, die sich in den Abgrund
stürzen: So ist der Mensch, der nicht
für sich allein entscheidet. In den Abgrund
fallen auch Menschen, die integriert sind.
Gemeint ist ein emotionaler Abgrund. Der
simple Glaube, nur wie die anderen handeln
zu müssen, damit alles richtig sei: Job, Partner,
Auto und Urlaub wie man einen macht
– das ist der Weg der Normalen. Dass Ehen
scheitern, einige Menschen den bösen Krebs
bekommen, der Job verloren gehen kann und
viele Befürchtungen mehr; sie werden ausgeblendet.
Dass das Übel einen selbst trifft?
Die Angst wird dadurch in Schach gehalten,
dass der eigene Weg normal
(und deswegen korrekt) ist.
Dabei ist die Chance, dass ein
normales Leben gelingt rechnerisch
so groß nicht? Ausblenden.
Ein individuelles und damit
weniger normales Ego, scheint
noch schwieriger zu sein.
Das Leben fordert seinen Preis.
Der Mensch hat keinen Knopf
hinter dem Ohr, den wir, genug
vom Leben, einfach drücken
könnten: uns für immer abschalten.
Die Szene im Kino, Gewalt-
Attacke, Selbstmord – im Film
entsteht ein Bild der Welt, eine
eigene Logik. Kaum jemandem
scheint klar zu sein, dass es in
der Realität nicht mal so eben verfügbar ist:
der Schlag in das Gesicht des Widersachers
oder der Sprung vom Dach in den eigenen
Tod. Manche konsumieren Serienkrimis wie
Schokolade, für sie bleibt alles der Film da
draußen. Konsequent über die Kreativität ins
Selbst zu gehen, wird dazu führen, in diese
Handlung einzutreten. Es heißt, von nun an
aufzupassen. Die Abgründe in den Geschichten
werden reale Löcher in das unergründliche
Nichts.
Wer sich aus dem Verbund der Lemminge
gelöst hat, den normalen Weg verlassen hat,
dem geht es wie Mose und seinen Leuten in
der Wüste. Es ist die Suche nach einer besseren
Welt und wenn diese ganz weit weg
ist; ein gelobtes Land. Das Verlassen der
Konventionen ist der Weg in ein unwirtliches
Terrain. Eine Gegend, in der vertraute Beziehungen
nicht funktionieren, und hier muss
der Mensch kämpfen, sich behaupten oder
tatsächlich aufgeben. Das eigene Selbst zu
suchen, bedeutet Teil des Films zu werden,
Schauspieler einer eigenen Rolle, über entsprechend
starke Motivation zu verfügen. Der
Zuschauer ist überrascht, was passiert! Der
Mensch kann nun tun, was ein Mensch tun
kann, wenn er sich nicht an normales Verhalten
gebunden empfindet.
Das ist der Beginn der inneren Freiheit. Und
ein Leben mit Risiken. Der Preis ist hoch. Da
ist kein Halt mehr an vertrauten Landmarken.
Das neue Ideal ist ein zukunftsloses Leben, es
findet in der Gegenwart statt. Wer weiß, was
morgen ist? Wenn wir die Normalität verlassen,
betreten wir die reale Welt. Und niemand
weiß, wie diese beschaffen ist. Unser Ideal ist
nun die feste Überzeugung, dass das Leben
der anderen eins hinter der Maske ist. Dazu
dürfen wir annehmen, dass viele sich dieser
Tarnung nicht bewusst sind. Wir benötigen
keinen Sonntags-Mord mit Kommissar Soundso
oder Soko-Dingsbums im TV – wir
fürchten den realen Kommissar genauso wie
den leibhaftigen Einbrecher. In der echten
Welt können wir ihnen jederzeit begegnen.
Und wir wissen nicht, welche Rolle wir in
ihren Augen spielen. Die Normalität ist die
Normalität der anderen.
Ich glaube, dass es keine Normalität gibt und
insofern die Menschen der Gesellschaft auch
keine Lemminge sind, die geschlossen dekadent
in den Abgrund gehen. Für mich sieht es
nur so aus. Ich halte das für meinen subjektiven
Eindruck, gebe mich dem in deprimierenden
Augenblicken auch ganz hin. Meine
Vermutung ist trotzdem, dass die anderen Leben
ihre Höhen und Tiefen haben wie meins
auch. Insofern ist der Begriff der Normalität
ein eng beschränkendes Wort und keinesfalls
die breite Wirklichkeit dessen, was die meisten
von uns tun oder sind. Normalität kann
die Fessel sein, die ich mir auferlege, wenn
ich mich schäme oder ein schlechtes Gewissen
habe: Das darf man nicht. Normalität
kann verbales Kampfargument sein: Das tut
man nicht!
Kreatives Leben befreit vom Zwang, einer
Norm zu folgen, die es in Wahrheit gar nicht
gibt. Wir sind so uniform nicht, als dass wir
geschlossen untergehen. Angepasst an das
imaginär Normale verkümmert man auf seine
Art, im Glauben, wie alle anderen handeln zu
müssen. Aber „alle anderen“ – das gibt es so
gar nicht. Ein Selbstbeschiss. Er wird genährt
durch das, was wir lesen, ansehen oder mit
den Freunden teilen, die doch nicht so sind
wie wir selbst. Wir reden uns das nur ein. Um
einen sicheren Rahmen zu schaffen, suchen
wir die Ordnung unserer Gruppe.
Wer gehört zu wem oder bleibt außen vor
und was gehört sich, was nicht? Ich spreche
eine junge Frau in einer Bar an, die ich
wiedererkenne. Ich habe sie vor einem Jahr
schon einmal dort gesehen, mich ein wenig
mit ihr unterhalten (sie ist sehr hübsch). Mir
ist aufgefallen, dass sie im Jahr davor dort
gekellnert hat. Inzwischen ist sie Gast und
redet mit Freunden; jünger, es könnten Kinder
von mir sein. Ich kann es nun nicht lassen,
quatsche sie an und versuche einen Anfang
zu finden. Ich erinnere mich dran, dass sie
Linkshänder ist.
Ich zähle Persönlichkeiten auf: Chaplin, Leonardo
da Vinci, Barack Obama. Um mich
beliebt zu machen, finde ich eine Reihe von
sympathischen Prominenten, die alle Linkshänder
sind. Da kommt es zum Missverständnis:
„Obama nicht“, sagt sie. Für mich klingt
das, was sie nun sagt, als wäre der ehemalige
Präsident mit einem Mal kein Linkshänder
mehr – weil er bei ihr und ihren Freunden
gerade aussortiert wurde, als einer, der nicht
authentisch sei? Wir reden aneinander vorbei:
Obama. Man hätte ja gedacht, dass – er
habe aber zuletzt wiederholt enttäuscht. Sie
erzählt auf meine Nachfrage, dass sie singt
und eine CD produziert hat, die ab der nächsten
Woche zu kaufen ist – und ich verpasse
es, diesem Gespräch noch eine gute Wendung
zu geben.
Geblieben ist dieser skurrile Moment: Wir folgen
Obama nicht mehr. Wir waren Linkshänder
– und er ist nun bei den anderen? Klar,
das war ein Missverständnis, dem Geräuschpegel
der Umgebung geschuldet, und was
habe ich auch eine Studentin anzuquatschen.
Peinlich genug ist es ja.
Obama hat die Hand gewechselt.
:)
Jahreswechsel, und ich denke: Jeden Tag beginnt
eine neue Welt.
Dez 31, 2019 - Obama hat die Hand gewechselt © 2021 I John Bassiner, 22869 Schenefeld bei Hamburg
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